In der aktuellen EMMA

Prostitution: "Ein Verbrechen!"

Kommissar Simon Häggström ist Leiter des Stockholmer Derzernats für Prostitution, über seine Erfahrungen hat er ein Buch geschrieben.
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Was hat sich durch die Freierbestrafung in Schweden verändert?
Simon Häggström Als das Gesetz 1999 in Kraft trat, waren viele Menschen nicht überzeugt davon. Das hat sich komplett verändert. Im Sommer 2022 wurden die Strafen erhöht, weil immer mehr Beschwerden aus der Bevölkerung kamen, dass die Sexkäufer mit einer Geldstrafe davonkämen. Seitdem wird der Kauf einer Frau – und selbstverständlich auch der eines Mannes oder einer Transperson – mindestens mit einem Monat Gefängnis plus Geldstrafe bestraft. Die Strafe ist zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, steht aber zehn Jahre lang im Vorstrafenregister. Damit ist es nicht einfach, einen Job zu finden. Denn Frauen zu kaufen, gilt in Schweden als eins der beschämendsten Verbrechen. Wir betrachten Prostitution nicht als normalen Job, sondern als Teil der Männergewalt gegen Frauen.

Wie viele schwedische Männer sind unter solchen Bedingungen noch immer Freier?
Laut Umfragen kaufen nur noch sieben bis zehn Prozent der schwedischen Männer Sex, davon 70 bis 80 Prozent im Ausland. Deshalb wäre es wichtig, dass die gesamte EU sich endlich darauf einigt, den Sexkauf einheitlich zu bestrafen. 

Und wie viele Freier spüren Sie im Jahr auf?
Meine Einheit in Stockholm, die aus vier Personen besteht, hat im letzten Jahr 530 Fälle an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.  

Die Gegner des „Nordischen Modells“ behaupten: Wenn man die Freier bestraft, rutscht die Prostitution in die Illegalität und dann kann die Polizei die Frauen gar nicht mehr schützen und die Menschenhändler nicht mehr fassen.
Das ist die größte Lüge, die über das Nordische Modell erzählt wird! Prostitution kann gar nicht in den Untergrund rutschen, weil Prostituierte und Kunden sich finden müssen. Und wenn die Freier sie finden können, können wir es auch. Wenn eine Frau neu in die Stadt kommt, muss sie sich den Freiern anbieten. Sie inseriert im Internet. Und ich muss sagen: Ich finde es faszinierend, dass das Argument ausgerechnet hier in Deutschland so verbreitet ist. Denn in Deutschland gibt es Sperrbezirke. Wenn eine Frau dort der Prostitution nachgeht, muss sie ein Bußgeld zahlen. Genauso, wenn sie der Anmeldepflicht nicht nachkommt. Wenn sie die Strafe nicht zahlen kann, muss sie ins Gefängnis. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich in Deutschland eine Frau, die sich illegal prostituiert, mit einem Pro­blem an die Polizei wendet, gleich Null.

Und in Schweden?
Bei uns sind Frauen, die sich prostituieren, vollständig entkriminalisiert. Sie haben von der Polizei also nichts zu befürchten. Natürlich erzählen ihnen ihre Zuhälter etwas anderes. Einmal ist eine Frau aus Nigeria vor uns weggerannt. Ich konnte sehen, dass sie um ihr Leben läuft. Als wir dann mit ihr sprechen konnten, kam heraus: Ihre „Madam“, also ihre Zuhälterin, hatte ihr gedroht: „Wenn die Polizei dich erwischt, schneidet sie dir den Kopf ab.“ Die Frau war Analphabetin und hat das geglaubt. Eine russische Frau fragte einen Kollegen: „Vergewal­tigen Sie mich vor der Befragung oder danach?“

In Ihrem Buch schildern Sie, wie Sie den gewalttätigen Freier einer rumänischen Prostituierten verfolgen und festnehmen.
Die rumänischen Frauen wollten zunächst nichts mit uns zu tun haben. Dann rief mich eine von ihnen panisch an, weil ihrer Kollegin etwas passiert war. Sie hatte in einem Holzhaus auf dem Friedhof Geschlechtsverkehr mit einem Mann gehabt. Der hatte währenddessen das Kondom abgezogen. Als sie sagte, dass sie das nicht wollte, hat er sie vergewaltigt und geschlagen und ist anschließend mit ihrem Geld abgehauen. Wir haben viele Einsatzkräfte mobilisiert und den Mann gefasst. Er wurde wegen Vergewaltigung, Körperverletzung und Raub zu drei Jahren Haft verurteilt. Seitdem vertrauen uns auch die rumänischen Frauen.  

Aber Sie verhaften die Kunden der Frauen. Sind sie Ihnen gegenüber deshalb nicht feindselig eingestellt?
Nein. Sie müssen sich vorstellen: Eine Frau kommt aus, sagen wir, Kolumbien nach Schweden. Sie spricht die Sprache nicht, sie weiß nichts über Schweden, sie hat keine Kontakte. Die einzigen Menschen, die sie trifft, sind Männer, die nichts anderes wollen als ihren Körper. Dann klopft es an der Tür und da stehen zwei Polizisten und zwei Sozialarbeiterinnen. Wir nehmen uns eine Stunde Zeit, um ihr zu erklären, dass wir auf ihrer Seite sind und dass auch das Gesetz auf ihrer Seite ist. Wir erklären ihr, dass sie sich nicht schämen muss und dass wir sie nicht verurteilen. Sondern dass wir wissen, dass sie nicht hier wäre, wenn das nicht ihre letzte Option wäre und dass sie das Recht auf Schutz durch die Polizei hat wie jede andere Person. Viele Frauen haben noch nie erlebt, dass jemand vom Staat auf Augenhöhe und respektvoll mit ihnen spricht. Das öffnet uns Türen.

Müssen die Frauen zurück in ihr Heimatland?
Wenn eine Frau potenzielles Opfer ist – und bei bestimmten Ländern wie Kolumbien oder der Ukraine wissen wir, dass der Markt fest in der Hand von Menschenhändlerringen ist – bekommt sie zunächst ein sechsmonatiges Bleiberecht. Sie kann länger in Schweden bleiben, wenn sie Arbeit findet. Die meisten Frauen wollen aber gar nicht bleiben, sie wollen zurück in ihr Herkunftsland. Wir haben in den letzten zehn Jahren eine einzige Frau gegen ihren Willen zurückgeschickt.

Hat Schweden Programme für Frauen, die aussteigen wollen?
Wenn sie schwedische Staatsbürgerinnen sind, können sie von unseren Sozialdiensten eine Menge Hilfe bekommen. Wenn man aber keine schwedische Staatsbürgerschaft hat – und bei den meisten Frauen ist das der Fall – gelten die schwedischen Sozialgesetze nicht. Die Sozial­arbeiterinnen, die uns immer begleiten, können diesen Frauen Beratung anbieten und auch medizinische Versorgung. Aber es ist zum Beispiel schwierig, ihnen eine Wohnung zu vermitteln. Bei uns in Stockholm gibt es aber einige NGOs, bei denen die Frauen viel Unterstützung bekommen, allen voran Talita. Sie haben eine 24-Stunden-Hotline und begleiten die Frauen zwei Jahre lang. Der Vorteil gegenüber einem staatlichen Ausstiegsprogramm ist, dass sie individuell mit jeder Frau arbeiten. Wir kennen eine Menge Frauen, denen Talita in ein neues Leben geholfen hat. In anderen Städten kann es passieren, dass eine Frau nicht so viel Unterstützung bekommt. Da haben wir eine Lücke. Es läuft aber gerade eine Untersuchung darüber, wie Schweden Ausstiegsprogramme anbieten könnte.

Warum sind Sie selbst eigentlich so engagiert?
Ich bin in Indien geboren und wurde adoptiert. Meine Eltern haben mir beigebracht, dass jeder Mensch gleich ist. Ich hätte auch in den Straßen von Bangalore sterben können. Und wenn ich einen Obdachlosen sehe oder eine Frau aus einem armen Land, die sich prostituiert, dann denke ich: Das könnte ich sein.

Auf Ihrer Lesereise haben Sie sich deutsche Rotlicht­bezirke angesehen. Wie war das für Sie?
Am schlimmsten fand ich die sogenannten ­Verrichtungsboxen auf dem Straßenstrich an der ­Berliner Kurfürstenstraße. Dort hat die Stadt Toilettenhäuser aufgestellt, in denen nicht nur Menschen ihre Notdurft verrichten, sondern auch Frauen die Freier bedienen.
Da ist Scheiße, da ist Urin, da ist Dreck. Selbst wenn man Prostitution als normalen Job betrachtet – solche Arbeitsbedingungen sind doch niemandem zuzumuten! Ich bin seit 2009 regelmäßig in Deutschland, aber es ist immer wieder schockierend, so etwas zu sehen. Das ist einer zivilisierten Gesellschaft im Jahr 2025 nicht würdig. In deutschen Rotlichtbezirken fühlt es sich an, als wäre man in einem Zoo. Aber das sind keine Tiere, sondern Frauen. Und ich finde es wahnsinnig traurig zu sehen, wie selbstverständlich Männer, vor allem junge Männer, da herumlaufen, auf die Frauen zeigen und lachen. Es zeigt, wie normal Prostitution in Deutschland ist. Das ist eine Tragödie für die ganze Gesellschaft. All die Bordellbetreiber in den Rotlichtbezirken säßen in Schweden fünf, sechs, sieben Jahre im Gefängnis! Deshalb ist es auch kein Wunder, dass so viele Lügen um das Nordische Modell kursieren. Es ist eine riesige Bedrohung für viele, die damit viel Geld verdienen. Dazu gehören im Übrigen auch die Städte. In Frankfurt zum Beispiel zahlen die Frauen 25 Euro Steuern pro Tag. Das summiert sich im Jahr zu einem enormen Betrag.

Sie haben sich auch mit deutschen Kollegen von der Polizei ausgetauscht. Was sagen die zur deutschen Gesetzgebung und zum Nordischen Modell?
Schweden und Deutschland werden ja als die zwei gegensätzlichen Pole betrachtet. Aber wenn ich mit den deutschen Kollegen zusammensitze, sind wir uns an den meisten Punkten einig: Fast alle Frauen in der Prostitution sind in der Hand eines Zuhälters. Die Schätzungen variieren zwischen 90 und 99 Prozent. Viele deutsche Kollegen sind frus­triert. Sie sagen: Wir haben die Werkzeuge nicht, um diese Zuhälter zu verfolgen. In Schweden darf ein Zuhälter eine Frau nicht zum Freier fahren, er darf kein Inserat schalten, er darf kein Hotelzimmer für sie buchen. Das ist alles illegal. Dann wird klar: Deutschland braucht eine völlig neue Gesetzgebung, um Zuhälter zu verfolgen.

Was würden Sie deutschen PolitikerInnen raten?
Schauen Sie genau, woher Sie Ihre Informationen bekommen! Wir hatten im Laufe der Jahre schon viele Delegationen aus der ganzen Welt, die sich unsere Arbeit angesehen haben. Deutsche Poli­tiker sollten das auch tun! Hören Sie auf, auf die Lobbyorganisationen der sogenannten Sexarbeiterinnen zu hören! Kommen Sie nach Schweden und schauen Sie sich vor Ort an, wie das Nordische Modell funktioniert! 

Das Interview führte Chantal Louis.

Weiterlesen: Simon Häggström: Auf der Seite der Frauen (Edition Wortschatz, 20 €)

Engagiert gegen Prostitution:
sisters-ev.de, karo-ev.de, solwodi.de, AugsburgerInnen gegen Menschenhandel: auxgegenmh.de, bundesverband-nor­dischesmodell.de, Netzwerk von Frauen aus der Prostitution:  netzwerk-ella.de, Deutsches Institut für angewandte Kriminalitäts-Analyse: diaka.org

 

 

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