„Kommen Sie nach Schweden!“
Natürlich muss man ihm diese Frage stellen, denn sie ist das Hauptargument gegen die Freierbestrafung, die Schweden schon 1999 eingeführt hat. „Viele Menschen behaupten: Wenn man die Freier bestraft, rutscht die Prostitution in die Illegalität und dann kann die Polizei die Menschenhändler gar nicht mehr fassen. Was sagen Sie dazu?“ fragt also Kerstin Neuhaus von der Initiative „AugsburgerInnen gegen Menschenhandel“. Und obwohl Simon Häggström diese Frage in den letzten zehn Jahren wohl schon an die tausend Mal beantwortet hat, tut er es an diesem Abend in Bonn noch ein weiteres Mal, und das in aller Klarheit: „Das ist die größte Lüge, die über das Nordische Modell erzählt wird!“
Das ist die kurze Antwort. Die lange Fassung geht so: „Prostitution kann nicht in den Untergrund rutschen, weil sich Prostituierte und Kunden finden müssen“, erklärt Häggström. Seit 2009 arbeitet der Kriminalkommissar im Stockholmer Dezernat für Prostitution und ist inzwischen dessen Leiter. „Wenn eine Frau neu in die Stadt kommt, muss sie sich den Freiern anbieten. Sie inseriert im Internet. Und wenn die Freier sie finden können, können wir es auch.“
"Natürlich verbreitet die Prostitutionslobby Lügen über das Nordische Modell!"
Simon Häggström hat ein Buch darüber geschrieben, wie er und seine drei MitarbeiterInnen das machen: die Freier finden. Und den Frauen, die sich prostituieren, helfen. Dabei, sich gegen brutale Freier zur Wehr zu setzen. Dabei, ihren Zuhältern zu entkommen und aus der Prostitution auszusteigen. „Auf der Seite der Frauen“ lautet deshalb der Titel des Buches. In 14 deutschen Städten hat der Kommissar es gerade vorgestellt, so auch auf Einladung von Solwodi in Bonn. Dass das Buch, das schon 2017 auf Schwedisch und Englisch erschienen ist, jetzt endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegt, ist einer privaten Initiative zu verdanken: Die „AugsburgerInnen gegen Menschenhandel“ haben Übersetzung, Herstellung und auch die Lesereise organisiert. Kerstin Neuhaus moderiert den Abend.
Über eines wundert sich der Schwede Häggström: „Ich finde es faszinierend, dass das Argument von der Illegalität hier in Deutschland so verbreitet ist“, sagt er. Denn er hat sich auf seiner Lesereise angeschaut, wie es in Deutschland läuft. „Bei uns in Schweden sind Frauen, die sich prostituieren, vollständig entkriminalisiert“, erklärt er. „In Deutschland gibt es Sperrbezirke. Wenn eine Frau dort der Prostitution nachgeht, muss sie ein Bußgeld zahlen.“ Bis zu 500 Euro können das sein. Bei seinem Besuch in Stuttgart habe er gesehen, dass dort Prostituierte im Gefängnis säßen, weil sie die Strafe nicht zahlen konnten.
Das gilt auch, wenn eine Frau sich nicht bei den Behörden anmeldet. Da in Deutschland nur rund 40.000 Prostituierte offiziell registriert sind, sich hierzulande aber insgesamt rund 300.000 Frauen prostituieren, gehen also eine Viertelmillion Frauen einer illegalen Tätigkeit nach. „Das verursacht doch Prostitution im Dunkelfeld“, stellt der Kommissar fest und erklärt: „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in Deutschland eine Frau, die sich illegal prostituiert, mit einem Problem an die Polizei wendet, ist darum gleich Null.“
In Schweden sei das anders. Dort stellt sich die Polizei den Frauen vor und erkläre ihnen, dass sie von ihr nichts zu befürchten hätten. Und dass sie Anspruch auf Schutz und Hilfe haben. Viele Frauen kämen aus Ländern, in denen sie zu den „Untersten der Untersten“ gehören, zum Beispiel Sinti in Rumänien. „Sie haben noch nie erlebt, dass jemand auf Augenhöhe und respektvoll mit ihnen spricht. Das öffnet uns Türen.“
Regelrecht schockiert hat Simon Häggström, was er bei seinen Besuchen in den deutschen Rotlichtbezirken zu sehen bekam. Am schlimmsten seien für ihn die „Verrichtungsboxen“ in der Berliner Kurfürstenstraße gewesen. Dort hat die Stadt am Straßenstrich Klohäuser aufgestellt, in denen die Freier die Frauen benutzen.
"Frauenkauf gilt in Schweden als eins der beschämendsten Verbrechen."
Simon Häggström kann es nicht fassen und entschuldigt sich beim Publikum vorab für seine Wortwahl. „Da ist Scheiße, da ist Urin, da ist Dreck. Das ist jenseits der Menschenwürde.“ Selbst wenn man, wie in Deutschland üblich, Prostitution als normalen Job betrachte, seien das trotzdem Arbeitsbedingungen, die man niemandem zumuten könne. „In Schweden betrachten wir Prostitution aber nicht als normalen Job, sondern als Teil der Männergewalt gegen Frauen.“
Deshalb werden Männer, die Frauen kaufen, in Schweden bestraft. Als Schweden die Freierbestrafung 1999 einführte – als Teil des Programms „Kvinnofrid“ (Frauenfrieden) zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen – bestand die Strafe noch in einer einkommensabhängigen Geldbuße. „Doch dann gab es immer mehr Beschwerden aus der Bevölkerung, dass die Frauenkäufer zu billig davon kommen“, berichtet Simon Häggström. Seit Sommer 2022 steht auf Frauenkauf immer ein Monat Haft mit einer zweijährigen Bewährung. Außerdem steht die Tat zehn Jahre lang im Vorstrafenregister. „Und damit ist es in Schweden schwierig, einen Job zu finden. Denn Frauenkauf ist eins der beschämendsten Verbrechen, das wir haben.“
"Die Verrichtungsboxen in Berlin sind jenseits jeder Menschenwürde."
Das schwedische Sexkaufverbot habe einen „großen normativen Effekt gehabt. Es hat das Mindset verändert“, erklärt der Kommissar. Nur noch jeder zehnte bis 14. Mann (je nach Umfrage) ist in Schweden Freier. In Deutschland ist es jeder vierte.
Aber auch hierzulande hat sich eine Menge getan. Nicht zuletzt Dank der Aufklärungsarbeit von EMMA und vieler Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Sie alle klären über die dramatischen Folgen der fatalen rot-grünen Prostitutionsreform von 2001 auf. Die machte Deutschland zum Paradies für Bordellbetreiber, Zuhälter und Menschenhändler. Während die Profiteure der Prostitution in Deutschland jubelten und sich die Taschen füllten, führte nach Schweden ein Land nach dem anderen die Freierbestrafung ein, bei gleichzeitiger Entkriminalisierung der Prostituierten. Das sogenannte „Nordische Modell“ gilt heute in fast ganz Westeuropa bishin nach Israel und Kanada. Bald auch in Deutschland?
Endlich hat sich die CDU/CSU die Einführung des „Nordischen Modells“ ins Parteiprogramm geschrieben. Wir dürfen gespannt sein, was die Koalitionsverhandlungen mit der SPD ergeben. Doch auch bei den Sozialdemokraten mehren sich die Stimmen für die Freierbestrafung. Sogar Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz hatte erklärt, er finde es „nicht akzeptabel, dass Männer Frauen kaufen“.
„Was raten Sie deutschen Politikern?“ wird Kommissar Häggström am Ende des Abends gefragt. „Schauen Sie, woher Sie Ihre Fakten bekommen“, antwortet der. „Natürlich kursieren viele Lügen über das Nordische Modell, denn es ist eine große Bedrohung für alle Profiteure der Prostitution. All die Rotlichtbezirke in Deutschland müssten schließen.“ Und er spricht eine Einladung an die SkeptikerInnen in der Politik aus: „Kommen Sie nach Schweden und schauen Sie sich vor Ort an, wie das Nordische Modell funktioniert!“ Es wäre zu wünschen, dass diejenigen, die immer noch zweifeln, der Einladung des Kommissars folgen.
CHANTAL LOUIS
Simon Häggström: Auf der Seite der Frauen (Edition Wortschatz, 20 €)
Am 2. April nimmt Simon Häggström an einer Online-Diskussion mit der EU-Abgeordneten Maria Noichl (SPD) teil. Anmeldung: maria.noichl@ep.europa.eu
Das Netzwerk ELLA, in dem Frauen aus der Prostitution organisiert sind, fordert die PolitikerInnen in einer Petition auf: „Deutschland muss aussteigen – Nordisches Modell jetzt!“