Paolina will nicht länger Opfer sein
Als ich über Kachelmanns Parallelwelten las – und über sein Dr. Jekyll-Mr. Hyde-Verhalten, haben bei mir sofort die Alarmglocken geschrillt“, sagt Paolina (42). Sie ist Mutter von vier Kindern und war 17 Jahre lang mit solch einem Jekyll/Hyde-Mann verheiratet. „Nach außen war er freundlich. Aber fiel die Tür hinter uns zu, war ich seinen Erniedrigungen ausgesetzt.“ Und die Liste dieser Demütigungen ist lang.
„Du kleidest und schminkst dich unvorteilhaft – schau dir mal die anderen Frauen an! Hör mit der Heulerei auf! Ich fand dich sexuell noch nie attraktiv – du hast viel zu wenig Oberweite! Telefonier mal weniger mit deinen Freundinnen, dann schaffst du auch mehr im Haushalt! Was machst du eigentlich den ganzen Tag zu Hause? Du bist ja komplett unzurechnungsfähig! Die Pornos hat mir mein Kollege überspielt – na und, das ist doch normal! In welchem Universum lebst du eigentlich!? Du kriegst doch gar nichts mehr mit!“ Und so weiter.
Paolina wollte nicht wahrhaben, dass gerade der Mann, der zu Anfang so verständnisvoll, der ihr Beschützer und Held war, jetzt so boshaft sein konnte. Es war unbegreiflich. Lag es vielleicht an ihr selber …?
Das Gefühl, selbst Schuld an ihrer Demütigung zu sein, haben viele Frauen, wenn sie das erste Mal www.re-empowerment.de anklicken – eine Frauen-Internetplattform für Opfer psychischer und physischer „Partnerschaftsgewalt“ (schon dieser Begriff signalisiert den Widerspruch). „Genau deshalb und weil die Frauen durch die permanent gegensätzlichen Botschaften und Handlungen des Täters verunsichert sind und den Glauben in ihre eigene Wahrnehmung verloren haben, fürchten sie oft, sie seien verrückt“, sagt re-empowerment-Betreiberin Kerstin Zander. „Deshalb sind sie so erstaunt und erleichtert, wenn sie bei uns andere Frauen treffen, denen es ebenso geht und die sie verstehen.“
Zander spricht aus eigener Erfahrung, denn die Hamburgerin hat bis vor fünf Jahren selbst schwere psychische Gewalt durch ihren Lebensgefährten erlitten. Damals suchte sie vergeblich nach einer Selbsthilfegruppe. „Denn Frauenhaus-Gewalt war nicht das, was ich erlebt hatte. Meine Verletzungen konnte niemand sehen.“
Als Kerstin Zander das Buch „Worte, die wie Schläge sind“ der Amerikanerin Patricia Evans in die Hände fiel, erkannte sie zahlreiche Parallelen zu ihrer Leidensgeschichte. Da beschloss sie, ihre Erkenntnisse auch anderen Betroffenen zugängig zu machen.
Bis heute haben sich über 2500 Frauen auf der Plattform angemeldet – 900 davon nehmen aktiv teil. Täglich rufen rund 400 Besucherinnen die Seite auf und schreiben dort etwa 200 Beiträge. Die Nachfrage nach Austausch und Unterstützung ist so groß, dass Kerstin Zander vor einem Jahr zusammen mit der Fachanwältin für Familienrecht, Birgitta Brunner, zusätzlich den Verein re-empowerment gründete, um künftig auch mit Behörden und anderen Vereinen zusammen zu arbeiten. Betroffene werden bei Bedarf zu Zivilprozessen begleitet – so wie es der Weiße Ring bei Strafprozessen anbietet.
Als Paolina die Seite von re-empowerment entdeckte, begann sie, die Leidensgeschichten der anderen Betroffenen zu lesen: an der so genannten „Klagemauer“, wo sie später auch über ihr eigenes Schicksal berichtete. Auch sie hatte ein Aha-Erlebnis: „Die Frauen gaben mir zum ersten Mal das unendlich erlösende und befreiende Gefühl, weder allein noch komplett verrückt zu sein. Der Erfahrungsaustausch im Forum, die vielen täglichen und nächtlichen Mails, das Aufbauen und Unterstützen, Motivieren, Informieren und Trösten haben mir enorm viel Kraft gegeben. Und so begleiteten mich die Frauen auf meinem Weg in ein freies, selbstbestimmtes Leben.“
Paolina lebt nun seit einem Jahr getrennt von ihrem Ex und hat sich ein schützendes Netzwerk aus Freundinnen und Freunden, Anwälten und Therapeuten aufgebaut. So fällt es der Bremer Grafikerin leichter, über Mittelsleute mit ihm über die gemeinsamen Kinder zu reden. Oder sich daran zu erinnern, wie seine Grausamkeiten im Laufe ihrer Ehe eskalierten. „Nach drei Jahren hat er mich zum ersten Mal betrogen, in unserem Ehebett. Wollte aber nicht mit mir darüber reden. Stattdessen ließ er mich im Unklaren, gab mir das Gefühl, dass ich die Schuld daran trug, weil ich nicht perfekt genug war. Er strafte mich mit Zurückweisung, Erniedrigung und Liebesentzug.“ Folge: Paolina bemühte sich noch mehr um die Liebe ihres Mannes. „Ich wollte meine Ehe retten, den Kindern den Vater erhalten. Ich wollte nicht versagen.“
Das paradoxe Phänomen, warum viele Opfer ihren Peiniger nicht verlassen, hat die französische Viktimologin, Familientherapeutin und Analytikerin Marie-France Hirigoyen untersucht. In ihrem Buch „Die Masken der Niedertracht“ beschreibt die Opferforscherin das Täter-Repertoire zur psychischen Demontage der Opfer: Anklagen und Schuldzuweisungen, Verurteilen und Kritisieren, Bagatellisieren, Unterminieren, Drohen, Beleidigen, Leugnen, Schikanieren. Hirigoyen: „Die perverse Gewalt konfrontiert das Opfer mit seinem Schwachpunkt, mit den vergessenen Traumata seiner Kindheit. Die Beziehung mit dem narzisstischen Perversen wirkt wie ein negativer Spiegel. Das gute Bild, das man von sich hatte, wird umgestaltet: Man kann es nicht mehr lieben.“
Dabei sind die meisten Opfer psychischer Gewalt keineswegs schwache Persönlichkeiten. „Auffallend häufig schreiben bei re-empowerment starke, reflektierte und gebildete Frauen. Klar – durch sie kann sich der Täter ja aufwerten“, erklärt Initiatorin Kerstin Zander. „Leider glauben gerade diese Frauen aber auch, dass sie stark und schlau genug sind, um den Täter verstandesmäßig zu durchdringen und ihm mit ihren Erkenntnissen und ihrer Liebe zu heilen.“ Ein gefährlicher Irrtum.
Paolina blieb noch viele Jahre bei ihrem Mann, der sie weiter demütigte. Heute erkennt sie darin eine Art Stockholm-Syndrom: „Ich war aus Angst zu seiner Verbündeten geworden. Redete schön, was er mir antat. Nahm ihn vor Freunden und Familie in Schutz. Und hielt die Fassade nach außen hin aufrecht.“
Ein immenser Kraftaufwand, der wirkungslos blieb, so dass sich Paolina immer mehr verlor. Sie betäubte ihren seelischen Schmerz mit Alkohol, wurde abhängig. Magerte ab. Litt unter Panikattacken. Für ihre vier Kinder, die immer verstörter auf die Gewalt zu Hause reagierten, entschloss sie sich schließlich zum Entzug. In dem Glauben, dass sie die Schuldige an allem war. Bis der Therapeut ihr behutsam aufzeigte, wie ihr Mann ihr kontinuierlich das Selbstwertgefühl geraubt hatte. Paolina fing langsam an zu begreifen. Und sie schaffte zusammen mit den re-empowerment-Frauen den Schritt heraus aus der zerstörerischen Beziehung. „Wäre ich bei ihm geblieben, hätte ich mich endgültig aufgelöst. Meine vier Kinder hätten heute wohl keine Mutter mehr.“
Die Engländerin Pat Craven unterscheidet acht Typen des „Dominators“: Vom „Kopfarbeiter“, der das Opfer herabsetzt und schrittweise demontiert, über den „König“, der jederzeit seine Wünsche befriedigt haben möchte, bis hin zum bedrohenden Schlägertyp oder zum sexuellen Kontrolleur.
Tatsächlich ist sexualisierte und körperliche Gewalt häufig die konsequente Fortsetzung seelischen Quälens. Wie bei Eliza (32) aus Weimar, deren Geschichte symptomatisch für eine Misshandlungs-Beziehung begann: mit einem hyperlativen Honeymoon. „Alles, was wir erlebten, war besonders. Ich fühlte mich vergöttert, auf einen Thron gehoben“, erinnert sich die Software-Entwicklerin, die fast fünf Jahre in der Gewalt-Beziehung ausharrte. „Obwohl ich doch eine starke, selbstbewusste Frau bin, rutschte ich in eine Art Abhängigkeit.“
Denn die vermeintliche Unvergleichlichkeit ihrer Liebe war wie eine Droge für Eliza. So reizvoll, dass sie sich dafür belügen, betrügen, quälen und demütigen ließ, bis sich ihr ganzes Leben nur noch um den Mann kreiste, der sie mit Liebeserklärungen überhäufte und gleichzeitig brutaler Psychofolter aussetzte.
Er isolierte mich nach und nach, war krankhaft eifersüchtig, machte mich schlecht, verschwand oft für Tage, tauchte wieder auf, stalkte mich, wollte mich besitzen.“ Als Eliza schwanger wurde, zwang er sie immer öfter zum Sex. „Selbst, als ich schon in den Wehen lag, weinte und ihn anflehte, mich wenigstens einen Tag in Ruhe zu lassen.“
Mit der Geburt von Elizas Sohn wurde das Martyrium noch ärger. Denn ihr Mann lehnte das Kind ab. „Dabei hatte vor allem er das Kind gewollt.“ Gehen konnte Eliza trotzdem nicht. „Auch, wenn mich meine Eltern anflehten, diesen gewalttätigen Mann zu verlassen.“ Auch dann noch nicht, als die Frauen von re-empowerment, die Eliza inzwischen kennen gelernt hatte, sie darin bestärkten, ihrer Wahrnehmung zu vertrauen und zu erkennen, welche Gewalt er ihr antat. „Jedes Mal, wenn ich mit meinem Sohn fliehen wollte, drohte er, mich wegen Kindesentführung anzuzeigen. Oder mit Selbstmord. Oder er ließ mein Handy orten und rief 60 Mal am Tag an, um mich wieder mit Liebesbezeugungen zu überschütten und anzuflehen, dass ich zurückkehrte.“
Doch während immer mehr Freunde und Kollegen genervt aufgaben, Eliza zur Trennung zu bewegen, hielten die Frauen von re-empowerment weiter zu ihr. Trösteten sie, wenn sie rückfällig wurde. Aber bestärkten sie auch stets darin, dass sie den Absprung schaffen würde.
Und tatsächlich kam vor zwei Jahren der Punkt, als es auch Eliza zu viel wurde: „Er stellte mich vor die Wahl: Entweder wir bekämen noch ein gemeinsames Kind oder es sei Schluss. Da musste ich nur noch lachen.“ Jetzt konnte Eliza gehen.
Später klagte sie ihren Ex vor Gericht an, weil er sie auch finanziell zugrunde gerichtet hatte. Zwar ohne Erfolg. „Aber für mich war wichtig, dass ich ihm das erste Mal die Stirn geboten hatte.“ Ein wichtiger Schritt für Eliza. Dennoch leidet sie noch heute unter posttraumatischen Symptomen, die auftauchen können, wenn sie sich ohnmächtig oder bedrängt fühlt.
Auch das ein weit verbreitetes Phänomen unter Opfern aus Gewaltbeziehungen. Deshalb gibt es bei re-empowerment einen virtuellen „Quarantäne-Raum“ – für Beiträge, die Rückfälle oder das Verbleiben in der Gewaltbeziehung gestehen. Doch der enge Zusammenhalt der Frauen und die Freundschaften, die sich über den virtuellen Rahmen hinaus entwickeln, schützen so manche vorm Schwachwerden. Die Frauen helfen sich – zum Beispiel auch bei der detektivischen Suche nach Exgeliebten oder anderen Opfern, die die Aussagen der Frauen über den Täter bestätigen können. Sie unterstützen einander aber auch bei Gerichtsverfahren.
Wie im Fall von Julia, die von der Familienanwältin Birgitta Brunner beraten wurde. Brunner setzt sich seit langem für in Not geratene Frauen ein und stellt auf www.re-empowerment.de aktuelle Rechtsinfos zur Verfügung oder berät Vereinsfrauen kostenlos. Wie Kerstin Zander möchte auch sie erreichen, dass psychischer Gewalt künftig bei Prozessen stärkere Beachtung geschenkt wird.
„Denn zu oft werden die betroffenen Frauen vor Gericht leichtfertig als hysterisch, rachsüchtig und unglaubwürdig abgetan“, klagt die Anwältin. Gerne würden Brunner und Zander künftig auch Kongresse abhalten, um die Öffentlichkeit stärker für das Thema zu sensibilisieren.
Als positives Beispiel nennt Birgitta Brunner die französische Rechtsprechung, die psychische Gewalt durch den „Partner“ seit Juni diesen Jahres unter Strafe stellt. Ein großer Verdienst der Viktimologin Marie-France Hirigoyen, die mit ihren aufrüttelnden Büchern die parlamentarischen Ausschussmitglieder zu dem Gesetz inspirierte. Laut Artikel 17 des Opferschutzgesetzes kann ein Täter nun mit bis zu drei Jahren Haft und 75000 Euro bestraft werden, „wenn das wiederholte Verhalten und die Worte darauf abzielen, das Opfer herabzusetzen, indem dessen Rechte und Würde verletzt oder dessen physische oder geistige Gesundheit beeinträchtigt wird“.
In Deutschland sind wir davon trotz des Gewaltschutzgesetzes noch weit entfernt. „Hier wird Frauen zum Beispiel eher unterstellt, dass sie ihren Männern ein Kind gewaltsam entziehen wollen, statt zu sehen, dass sie dies auch als Schutzmaßnahme vor einem seelischen Gewalttäter machen könnten“, sagt Birgitta Brunner. Und Frauen werden rasch als rachsüchtig oder unzurechnungsfähig abgestempelt, als dass man einen perfiden Gewalttäter für denkbar hält.
Das erlebte auch Julia (32) aus Berlin. Sie verlor den Sorgerechtsprozess um ihre Tochter zwei Mal, weil man ihrem Mann mehr Glauben schenkte – einem Taxifahrer und späteren Psychologie-Studenten. „Er hat mich mit dem Stigma gebrandmarkt, ich sei psychisch krank. Und beim Jugendamt behauptete er, ich sei eine Gefahr für ihn, unsere gemeinsame Tochter und mich selbst!“
Niemand schien sich unterdessen dafür zu interessieren, wer hinter der Fassade des netten Taxifahrers steckte. „So wusste nur ich, dass er extrem gewalttätig war – vor allem, wenn er trank.
Dass er gerne Pornos im Internet sah und kleine Mädchen sexuell anziehend fand“, erzählt Julia. Sie fürchtete um ihre sechsjährige Tochter, aber sie hatte keine Freunde mehr, denen sie sich anvertrauen konnte. Und sobald Nachbarn mitbekamen, dass ihr Mann sie schlug, zog die Familie um. Eines Tages wollte Julia ihrer Mutter alles erzählen, doch sie bekam zur Antwort: „Ach Julia – du kannst froh sein, dass du so einen Mann hast.“ Denn selbst ihre Mutter hatte der Mann davon überzeugt, dass Julia psychisch krank sei. „Und sein Status wuchs dadurch noch. Nun war er der tolle Typ, der seiner labilen Frau half und sich quasi als allein erziehender Vater um die Tochter kümmerte“, erinnert sich Julia bitter.
Sie schaffte den Absprung aus der Gewaltbeziehung durch einen tragischen Vorfall: „Er hat mich vor den Augen unserer Tochter auf den Boden gezwungen, geschlagen, gewürgt und geschrieen ‚Ich bring dich um!‘ Da sah ich meine verängstigte Tochter und wusste: Das kann ich ihr nicht weiter antun.“
Die herbei gerufene Polizei glaubte nicht ihm, sondern ihr und der Tochter. So wurde der Mann der Wohnung verwiesen. „Aber er zog das Jugendamt auf seine Seite. Behauptete, ich sei depressiv und plane einen erweiterten Suizid. Und er schaffte es, dass mir meine Tochter weggenommen wurde. Ich war völlig machtlos. Keiner glaubte mir.“
In dieser Zeit lernte Julia die Frauen von re-empowerment kennen. Sie erhielt von ihnen psychischen Beistand und von Birgitta Brunner juristische Unterstützung im Verfahren gegen ihren Exmann. Julia überzeugte im Glaubhaftigkeitsgutachten. Und errang schließlich einen Schuldspruch gegen ihn. „Ich habe nur noch geheult. Endlich wurde ich gehört. Endlich glaubte man mir vor Gericht!“
Ob sie auch das Sorgerecht für ihre Tochter zurück erhält, wird die kommende Gerichtsverhandlung zeigen. Doch Julia ist zuversichtlich.
Kerstin Zander und Birgitta Brunner sind es nicht minder. „Das wäre eine Erfolgsgeschichte, die vielen anderen Frauen Mut machen würde.“ Und ein toller Sieg für den „Trophy-Room“ von re-empowerment.
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