Bis ans Ende der Welt
Reisen beginnen nicht am Flughafen. Sie beginnen in einer Kneipe oder – wie in meinem Fall – in einem Wohnzimmer, an dessen Wand eine Weltkarte hängt. Mein Zeigefinger tippt auf die kolumbianische Hauptstadt Bogotá. „Da fliege ich hin! Und dahin!“ Der Zeigefinger wandert nach Costa Rica. „Alleine? Bist du lebensmüde?“ fragt Eva neben mir und lehnt sich unterhalb von Bali an den Indischen Ozean.
Nein. Ich bin es nur leid, meinen Urlaub ständig auf die lange Bank zu schieben. Weil immer dann, wenn ich frei habe, alle arbeiten müssen. Oder weil zufällig auch grade kein Mann mit gepackten Koffern zu Hause wartet. So ist das mit den Frauen und dem Reisen: Es war noch nie so einfach für uns, in die Welt aufzubrechen. Und trotzdem enden die meisten Reisepläne in Kneipen und vor Weltkarten mit dem Satz: „Ich hab aber niemanden, der mitfährt!“.
Als ob wir immer jemanden bräuchten, der uns an die Hand nimmt; der wie Inga Humpe „Nimm mich mit“ singt und uns „auf eine Reise in die Welt einlädt“.
„Frauen können im Grunde genommen jedes Land alleine bereisen!“ sagt Maureen Wheeler, die (Mit)Erfinderin des Reiseführers Lonely Planet, der alle wichtigen Informationen für Individualreisende enthält – inklusive Reiseinformationen speziell für Frauen.
Wheeler hat fast jedes Land dieser Welt bereist. Manche ihrer FreundInnen haben sie für verrückt erklärt, als sie Ende der 1970er Jahre dann auch noch mit ihren kleinen Kindern und Rucksack durch Asien und Afrika tourte.
Wer alleine reist, muss sich gut vorbereiten. Diese Vorbereitungen beginnen mit der Frage: Was für ein Reisetyp bin ich? Bambushütte oder Hotel? Natur oder Stadt? Wasser oder Schnee? Abenteuer oder Bequemlichkeit? Wo will ich hin – die schwierigste Entscheidung. Einmal getroffen heißt es: Früh genug das Flugticket buchen, früh genug über die Einreisebestimmungen informieren und bei Fernreisen früh genug zum Impfen gehen. Dann die grobe Route festlegen. Der Rest passiert von alleine.
Aber sich darauf verlassen, dazu gehört eine Menge (Selbst)Vertrauen. Gegen Zweifel helfen Tipps von Profis und die gibt es zum Beispiel in Bücherläden. Allerdings, wer nach zeitgenössischer Reiseliteratur von Frauen sucht, muss ausdauernd sein. Die Reiseerzählung – nach wie vor ein Männergenre.
Eine der wenigen Ausnahmen ist die studierte Biologin und Berufsreisende Carmen Rohrbach. Sie sagt: „Mir sind die Vorteile des Alleinreisens mit jeder Reise bewusster geworden.“ Wer Rohrbach bei der Schilderung ihrer Reiseerlebnisse zuhört, wird ganz klein. Vor zehn Jahren reiste die 58-Jährige in den Jemen. Ihr Plan: Auf einem Kamel durch die jemenitische Wüste reiten.
„Das geht gar nicht!“ befand ihre Gastfamilie. Rohrbach wartete ab. Schloss Freundschaft mit Jemenitinnen, lernte Arabisch in der Hauptstadt Sanaa. „Ich habe auf jeder Reise versucht, mir die Landessprache anzueignen“, sagt sie. Ein paar Wochen später begleitete ihre Gastfamilie sie zu Verwandten in ein Beduinen-Dorf. Die Verwandten halfen beim Kamelkauf. Rohrbach ritt los, entlang der Weihrauchstraße.
Auf diese Art hat die Deutsche viele Ecken dieser Welt bereist: Ägypten, Island, Argentinien oder die Mongolei. Und darüber viele Bücher geschrieben: „Im Reich von Isis und Osiris“ oder „Patagonien – von Horizont zu Horizont“.
Was also sind die Vorteile des Alleinreisens? „Alleinreisende schließen schneller Kontakte, besonders zu Einheimischen“, sagt Rohrbach. Sie sind aufmerksamer, weil sie hinschauen, statt zu quatschen. Sie sind flexibler und manchmal sogar sicherer als Gruppenreisende. Wer alleine reist, gehe mit Risiko-Situationen vorsichtiger um.
Sicher, Rohrbachs Reisen sind extrem. Nicht jede stellt sich unter Traumurlaub eine Kamel-Wanderung durch die jemenitische Wüste vor. Und natürlich sind Frauen, die alleine Reisen, immer auch einem Risiko ausgesetzt. „Klar habe ich manchmal Angst, riesige Angst sogar! Vor konkreten Risiken wie Vergewaltigung, Kidnapping oder Überfällen“, sagt die Reiseschriftstellerin. Aber die Sorge, alleine zu sein? Die ist leicht zu überwinden. Die Angst vor Vergewaltigung und Raubüberfällen dagegen nicht.
Auch Reise-Expertin Maureen Wheeler rät zu bestimmten Vorsichtsmaßnahmen für alleinreisende Frauen: leere Straßen und gefährliche Stadtteile immer meiden – vor allem nachts. Die Benimmregeln im Land studieren. Auch ein guter Tipp: Sich bei Einheimischen nach der Sicherheitslage erkundigen. Und sich vor der Buchung genau über die derzeitige politische Lage informieren und diese mit der persönlichen Risikobereitschaft abgleichen (zum Beispiel auf der Internetseite des Auswärtigen Amts).
Nur weil in Mexiko derzeit die Drogenmafia wütet, heißt das noch nicht, dass einem nach der Einreise sofort jemand eine Knarre an die Schläfe hält. Aber: Die Wahrscheinlichkeit, in Mexiko Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, ist zurzeit trotzdem um ein Vielfaches höher als zum Beispiel in Vietnam oder auf Kuba.
Und es ist auch nicht zu unterschätzen, als Frau in Ländern unterwegs zu sein, in denen die Emanzipation in den Kinderschuhen steckt. Alleine die Tatsache, ohne männliche Begleitung zu reisen, kann an Orten mit ausgeprägter Macho-Kultur wie in Lateinamerika oder in arabischen Ländern schon ein falsch verstandenes Signal sein. Backpackerinnen lösen dieses Problem so: Sie kaufen sich einen günstigen Ring, den sie die komplette Reise über tragen. Und wenn ihnen ein Mann zu nahe kommt, strecken sie die Hand aus und sagen: Ich bin verheiratet. Oft reicht das, um üble Anmachen abzuwehren.
Aber kommen wir zu den Vorteilen: Der Schritt in die Welt und das Ausbrechen aus dem vertrauten Umfeld ist nicht nur Labsal für das Selbstbewusstsein, er ist auch eine Umsetzung eine der ältesten feministischen Forderungen: „Die Hälfte des Hauses für die Männer – die Hälfte der Welt für die Frauen.“ Wer einmal merkt, dass es weder lebensgefährlich noch langweilig ist, alleine in ferne Länder zu reisen, zehrt lange von der Ich-schaff-das-Erfahrung. Auch in anderen Lebensbereichen: dem Job, der Freizeit, bei Freundschaften, in der Familie. Denn nun ist klar: Ich brauche niemanden, der mich beschützt.
Und selbst meine rudimentären Englisch- oder Spanischkenntnisse reichen aus, um mich zu verständigen. Sehr gut sogar. Ich bestimme mein Tempo selbst, plane die Route und habe alles in der Hand. Und auch wenn der Austausch mit Frauen aus der ganzen Welt oft sehr einseitig ist – die nette Obstverkäuferin am Strand von Bali wird kaum das Hofbräuhaus in München besuchen – so lernen wir in diesen Situationen doch, unser eigenes Leben realistischer einzuordnen, sowohl was die Vor- als auch die Nachteile angeht.
Und was die Angst vor dem Alleinesein angeht: Auf Reise sollten Frauen eher Angst davor haben, dass sie am Ende zu wenig Zeit für sich selbst haben als umgekehrt. Es ist nämlich egal, ob Alleinreisende in Costa Rica im Hostel absteigen oder auf Kuba in einer Casa Particular unterschlüpfen, einen Tauchschein in Ägypten machen oder mit dem Bus durch Griechenland fahren – alleine werden sie nie besonders lange sein. Man kann das gut oder schlecht finden, aber Reisende rotten sich erfahrungsgemäß zusammen. Sie treffen mit eisgekühlten Cocktails oder Bierdosen aufeinander und führen diese Woher-ich-komme-wohin-ich-will-Gespräche.
Das ist der Moment, den Lonely Planet beiseite zu legen und die Wahl zu treffen: Will ich auf meiner Route bleiben – oder finde ich jemanden so sympathisch, dass ich mich anschließe? So manches Mal bilden sich dann Zweckgemeinschaften, die sich ein Zimmer oder die Fahrt teilen oder gegenseitig aufs Gepäck aufpassen. Manchmal werden daraus auch Freundschaften fürs Leben – und der ganze Trip verläuft plötzlich anders als geplant.
Nicht zufällig brechen Frauen oft zu Zeitpunkten auf, in denen Veränderungen bevor stehen. „Wenn Frauen alleine reisen, hat das immer einen ganz konkreten Auslöser“, sagt die Reisejournalistin Katja Büllmann. Sie hat das Buch „Mit einer Reise fing alles an“ geschrieben, in dem Frauen erzählen, wie ihr Ausbruch in die Fremde ihr ganzes Leben verändert hat. Büllmann selbst hat so eine Geschichte erlebt, als sie vor einigen Jahren das erste Mal an die italienische Stiefelspitze Apulien reiste, damals noch mit einer Freundin. Geplant war ein Aufenthalt von einigen Tagen. Dann lernte sie einen Italiener kennen. Als ihre Freundin zurück flog, blieb Büllmann einfach da – und reiste mit dem Italiener durch seine Heimat. Heute hat die 41-Jährige eine Wohnung in der apulischen Gemeinde Monopoli und berichtet aus Italien.
Doch das Vorurteil, dass die Welt für Frauen ein gefährlicher Ort sei, oder (noch schlimmer) dass es sich eigentlich nicht gehört alleine loszuziehen, hält sich seit Jahrhunderten. Frauen seien „auf Grund ihres Geschlechts und ihrer körperlichen Verfassung für Forschungsexpeditionen ungeeignet“, erklärte die Royal Geographic Society vor etwa hundert Jahren, als über die Aufnahme von weiblichen Mitgliedern abgestimmt werden sollte. Der weibliche Globetrotter sei einer der größten Irrtümer dieses zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts. Abenteurerinnen, die sich diesen Konventionen widersetzten, hat es trotzdem schon immer gegeben. Manchmal haben sie sich als Mann verkleidet, wie die legendäre Schweizerin Isabelle Eberhardt. Immer öfter aber riskierten sie, als Frauen in die Welt zu gehen.
Wie Lady Mary Montagu, die schon im 18. Jahrhundert Reiseberichte aus dem Orient veröffentlichte. Ida Pfeiffer, die im 19. Jahrhundert als erste Frau auf Weltreise ging und in 17 Reisejahren 15.000 Meilen auf See und 20.000 Meilen an Land zurücklegte. Alice Schalek, die im frühen 20. Jahrhundert als Reisejournalistin über Schleierzwang in Algerien oder Prostitution in Japan berichtete – sie alle zählen zu diesen Pionierinnen.
Eine der bekanntesten und ungewöhnlichsten Reisenden allerdings ist die französische Reiseschriftstellerin Alexandra David-Néel: „Liebster Phillipe, ich kann meine Heimreise noch nicht antreten, der Himalaja hat mich in seinen Bann gezogen. Nach all den Reisejahren kommt es auf ein paar Wochen doch auch nicht mehr an“, schrieb sie 1922 an ihren Mann – der 14 Jahre auf ihre Rückkehr aus Asien wartete. Eigentlich sollte ihre Reise nur 18 Monate dauern. Das erste Mal nahm Alexandra mit 17 Jahren Reiß aus von zu Hause, fuhr in die Schweiz und wanderte über den Sankt-Gotthard-Pass. Später lebte sie über Jahre zurückgezogen in Sikkims im Himalaja und ertrug Kälte, Hunger und auch Schmerzen. Der 13. Dalai Lama gewährte ihr als erste Frau überhaupt eine Audienz. Und noch im Alter von 101 Jahren ließ sie kurz vor ihrem Tod ihren Reisepass verlängern.
Die Klischees über alleinreisende Frauen haben dennoch bis heute überlebt, siehe die Werbesendungen für Urlaubsreisen im Fernsehen. Eine verschwitzte, rotgesichtige Frau die den Himalaja erklimmt, in ihren ältesten Klamotten durch den Dschungel wandert oder ein Kanu durch Stromschnellen steuert, die kommt da nicht vor. Dafür sehen wir reichlich Typen mit wettergegerbtem Gesicht und leicht entrücktem Entdeckerblick à la Marlboro-Mann. Frauen hingegen liegen am Pool. Oder am Strand. Manchmal stehen sie auch am Strand. Auf jeden Fall tragen sie immer Bikinis und entspannen sich grade mit ihren Freundinnen, anstatt ein Abenteuer zu wagen.
Zugegeben: Auf jedem Allein-Trip gibt es auch mal eine Durststrecke. Am Strand einen Sonnenuntergang betrachten, während sich links ein Pärchen aneinander schmiegt und rechts ein Grüppchen Faxen vor der Fotokamera macht, kann auch ganz schön runterziehen. Und es gibt Reiseformen, die sich nicht für Alleinreisende eignen. Wer will sich schon zwei Wochen in einem All-Inclusive-Hotel allein gegen eine Großreisegruppe zum Buffet durchschlagen und dann als Einzige im klimatisierten Hotel-Restaurant am Einzeltisch speisen? Hier gehört schon eine Menge Selbstüberwindung dazu, sich irgendwo dazuzusetzen. Wer das doch wagt, kriegt mit Sicherheit folgenden Satz zu hören: „Ach was, du reist allein? Das wäre ja nichts für mich!“
Frauen, die alleine reisen, teilen ihre Urlaubserinnerungen mit Menschen, die alleine reisen. Zeit, die nächste Reise zu planen.
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