Gerade hat sie sich von einer üblen Grippe erholt, doch ihre Stimme ist klar und sonor wie immer, ihre Worte reiht sie mit Bedacht und absolut druckreif aneinander: „Ich eine Karrierefrau? Vielleicht werde ich so gesehen, aber für mich selbst hat dieses Etikett keine Bedeutung. Ich habe auch nie danach gestrebt, Karriere zu machen.“ Professor Dr. Renate Köcher ist seit 2010 Allein-Geschäftsführerin und also Chefin des ältesten und renommiertesten Meinungsforschungsinstituts Deutschlands, sowie Aufsichtsrätin in fünf Großunternehmen.
Wohl nicht von ungefähr lud die Institutsgründerin, die 2010 verstorbene Elisabeth Noelle-Neumann, Renate Köcher schon 1988 dazu ein, mit ihr das „Institut für Demoskopie Allensbach“ (IfD) gemeinsam zu leiten. Für die damals 36-jährige Köcher „eine Herausforderung“. Doch von interner Weiberwirtschaft oder sonstiger spezifischer Frauenförderung am Bodensee weiß sie nichts zu berichten.
Doch sie hat, das darf man Renate Köcher in ihrem lichtdurchfluteten, unspektakulär kleinen Büro inmitten in weiß und grau gehaltener Möbel durchaus abnehmen, „die vielzitierte gläserne Decke nie zu spüren bekommen“. Nun hat Köcher, 61, aber dennoch nicht nur zu tun mit den Befindlichkeiten der Deutschen im Allgemeinen, sondern auch mit der der Frauen im Besonderen. Auf jeden Fall meinungsforscherisch. Dafür wurden die 95 Beschäftigten und 2000 nebenberuflichen InterviewerInnen des Allensbach-Instituts erstmals 1996 einschlägig und 2013 zum vierten Mal im Auftrag von EMMA tätig. Das Ergebnis in aller Köcher-Kürze: „Der Stand der Gleichberechtigung wird von den Frauen heute kritischer gesehen als vor sieben Jahren.“
Für Renate Köcher selbst ist Letzteres indes nie Thema gewesen. Die gebürtige Frankfurterin, Jahrgang 1952, ist weder verheiratet noch hat sie Kinder. „Ich habe in den für eine Familiengründung entscheidenden Jahren einfach zu viel gearbeitet“, sagt sie. Aber Gleichberechtigung wurde dafür im Elternhaus, wo der Vater Manager bei Bayer und die Mutter Hausfrau war, großgeschrieben: „Schon in meinem Elternhaus wurde kein Unterschied zwischen meinem Bruder und mir gemacht. Für meine Eltern war es immer selbstverständlich, dass ich studiere und mich beruflich stark engagiere. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass ich etwas nicht erreichen könnte, weil ich eine Frau bin.“
Andererseits stellt „das Orakel vom Bodensee“ auch im eigenen Hause fest, wie sich die „offenbar spezifisch deutschen, kulturellen Besonderheiten und Prägungen“ in Sachen Mann und Frau, Mutter und Beruf, Bahn brechen: „Wir haben im Allensbacher Institut unter den Mitarbeitern einen Frauenanteil von 60 Prozent. Von den Mitarbeiterinnen, die Kinder bekamen, ist in den letzten Jahrzehnten keine in eine Vollzeitstelle zurückgekehrt – in der Regel nicht wegen mangelnder Kinderbetreuungsmöglichkeiten, sondern weil sie für ihre Kinder da sein und sich nicht im Spagat zwischen Familie und Beruf überdehnen wollten.“
Es gehöre wohl zum weiblichen Lebensmodell in Deutschland, konstatiert die Erfolgreiche, dass trotz der Eroberung vieler früher ausschließlicher Männerdomänen „bei vielen Frauen die Familie Vorrang hat und sie deswegen auch langfristig eine Teilzeittätigkeit anstreben. In anderen europäischen Ländern, beispielsweise in Frankreich und Skandinavien, sind weitaus mehr Frauen Vollzeit berufstätig.“
Und auch häufiger in Führungspositionen anzutreffen. Dennoch verwahrt sich Renate Köcher dezidiert gegen eine gesetzlich vorgeschriebene Frauenquote „mit dem Rasenmäher“ in Wirtschaft und Politik. Vor allem in der Wirtschaft. Zwar sitzt Frau Professor Köcher selber seit vielen Jahren in den Aufsichtsräten großer Industriekonzerne wie Allianz, BMW, Infineon oder Bosch. Und da hat sie erlebt, dass das Thema „Frauen in die Aufsichtsräte“ vor allem in den letzten zwei Jahren enormen Auftrieb erfahren habe. „Jedes Unternehmen reißt sich inzwischen um Frauen in Führungsgremien.“ Doch allein Qualifikation und Persönlichkeit sollen ihrer Meinung nach zählen.
Quotendebatte hin oder her – zur Beruhigung aller ideologisch erhitzten Gemüter hat die Befindlichkeitsforscherin die salomonische Erkenntnis parat: „Wir sollten aus Quotendebatte und Diversity-Fragen keine Weltanschauung machen, sondern ganz pragmatisch diskutieren, wie man Frauen auf allen Ebenen fördern kann.“
Von Weltanschauungsfragen zur Politik ist es nur ein winziger Schritt. Das Allensbacher Institut zählt seit eh und je mit seinen Umfragen und Studien zur deutschen Befindlichkeit zu den wichtigsten Politiker-Ratgebern. Nicht zuletzt muss sich eben diese Politik auch auf das einstellen, was Renate Köcher als „typisch deutsch“ identifiziert hat: „Eine ausgeprägte Risikoorientierung. Wir prüfen immer, wo Gefahren, Nachteile oder Schwierigkeiten liegen, und gehen dementsprechend kritisch an viele Entwicklungen heran.“ Wäre es da nicht reizvoll, mit all dem Befindlichkeitswissen selbst in die Politik einzusteigen, Frau Professor Köcher? Nein, das nun wirklich nicht: „Weil mir die Entscheidungsabläufe in der Politik weniger liegen als die in der Wirtschaft. Politiker müssen so viele Kompromisse schließen. Jemand, der ein großes Unternehmen leitet, kann viel rationaler und stärker am Problem orientiert entscheiden.“ Erst recht, wenn jemand Chefin im eigenen Haus am Bodensee ist – übrigens inzwischen mit einer Dependance in Grunewald, ganz dicht an der Politik.