Rettung vor Zwangsheirat
In dem Sommer, nach dem nichts mehr so bleiben sollte, wie es war, stand Melissa kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin. Sie war 21, verstand sich gut mit ihren Eltern. Vor vielen Jahren waren sie aus Asien nach Deutschland gekommen. Melissa wurde hier geboren, wuchs mit mehreren Geschwistern auf. „Wir waren eine glückliche Familie“, sagt sie. Trotzdem freute sie sich in jenem Sommer darauf, bald genug Geld zu verdienen, um sich eine eigene Existenz aufbauen zu können. Und sie freute sich auf die gemeinsame Zukunft mit dem jungen Mann, mit dem sie schon länger liiert war.
Erst einmal aber sollte es für zwei Wochen in das Heimatland der Eltern gehen. Mit ihnen wollte sie Verwandte besuchen, Urlaub machen. Niemals, sagt Melissa heute, hätte sie sich vorstellen können, was in Wahrheit geplant war.
Melissa hat einen anderen Namen. Aber nichts soll an dieser Stelle auf ihre Identität hinweisen. Nicht einmal der Name des Landes, in das sie damals gelockt wurde. Sieben Jahre liegt das zurück. Sie fürchtet noch immer, von den Menschen entdeckt zu werden, die sie mit einem Mann verheiraten wollten, den sie nicht liebte.
Melissa ist nur eine von zahllosen von Zwangsheirat betroffenen jungen Frauen. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden weltweit jedes Jahr zwölf Millionen Mädchen und Frauen Opfer dieser vorwiegend in der islamischen Welt verbreiteten Praxis. In Deutschland ist Zwangsverheiratung seit 2011 ein eigener Straftatbestand. Seitdem tauchen in der Kriminalstatistik die polizeilich gemeldeten Fälle auf, in denen Menschen zwangsverheiratet beziehungsweise davon bedroht wurden. 2023 waren es 80. Beratungsstellen und Behörden gehen allerdings von einer um ein Vielfaches höheren Dunkelziffer aus. Die meisten Betroffenen würden aus Angst vor Gewalt oder dem Bruch mit der Familie keine Anzeige erstatten.
Allein die Umfrage, die die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes im Frühjahr 2022 unter Lehrkräften und SozialarbeiterInnen an deutschen Schulen durchgeführt hat, ergab 1.847 Fälle von angedrohten und vollzogenen Zwangsverheiratungen. Mehr als 90 Prozent der Betroffenen waren weiblich.
Mit den Sommerferien nimmt das Risiko rapide zu. Unter dem Vorwand einer Ferienreise werden die Mädchen in das Herkunftsland der Familie gelockt – vor allem nach Syrien, in die Türkei und in den Irak. Dort wartet schon der Bräutigam. Die Zwangsbräute haben in den Ländern kaum Chancen, sich zu widersetzen. Die Eltern melden sie in Deutschland von der Schule ab. Sind die neun Jahre Vollzeitschulpflicht erfüllt, müssen sie keine Nachfragen befürchten.
Seit einigen Jahren wird in Schulen vor den Sommerferien verstärkt Aufklärungsarbeit geleistet. Frauenhäuser sind eine erste wichtige Adresse im Falle einer drohenden Zwangsverheiratung. Frauen und Mädchen, die langfristig ein selbstbestimmtes Leben beginnen wollen, anonym und geschützt vor der Familie, finden in Deutschland allerdings kaum Anlaufstellen. Zu den wenigen gehört der 2008 ins Leben gerufene Verein Peri e. V., der Frauen (und Männern) hilft, die unter traditionellen patriarchalischen, häufig muslimischen Strukturen leiden. Die Gründerin und Vorsitzende, Serap Çileli, die 1974 als „Gastarbeiterkind“ nach Deutschland gekommen ist, musste selbst erleben, was es bedeutet, von den Eltern zu einer Ehe mit einem ungeliebten Mann gezwungen zu werden. Ihr Schicksal sowie ihren Weg in die Freiheit hat die heute 58-Jährige in dem Buch „Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre“ beschrieben. Zu den wichtigsten Aktivitäten ihrer Vereinsarbeit (für die sie das Bundesverdienstkreuz erhielt) gehört die Fluchthilfe für Mädchen und Frauen, die gegen ihren Willen verheiratet wurden. Kaum verwunderlich, dass sie von gewissen konservativen muslimischen Kreisen stark angefeindet wird. Schließlich kann Peri manchmal sogar helfen, eine Zwangsehe zu verhindern. So wie im Fall von Melissa.
Die ersten Tage nach der Ankunft im Heimatland ihrer Eltern waren so unbeschwert, dass Melissa sich dazu überreden ließ, länger als geplant zu bleiben. Die Mutter flog zurück nach Deutschland. Melissa blieb mit ihrem Vater. Sie dachte sich nichts dabei. Bis plötzlich ihr Onkel auftauchte, der in der Familie eine ungeheure Machtposition innehatte. Er eröffnete ihr, dass sie demnächst heiraten werde: den Sohn einer Cousine. Ihre Ausweispapiere hatte er zu dem Zeitpunkt bereits verschwinden zu lassen.
„Für meinen Onkel“, sagt Melissa, „war es ein Verstoß gegen seine Ehre, dass ich als Mädchen selbst entscheiden wollte, wen ich heirate.“ Am Anfang redeten die Verwandten unentwegt auf sie ein, sie sollte doch zustimmen. „,Was hat der Typ, den du liebst, was mein Sohn nicht hat?‘, fragte mich meine Cousine“, berichtet Melissa. Die Verwandten wurden immer aggressiver. Und irgendwann versuchten sie, mit Schlägen ihren Willen zu brechen. Eines Abends verlangte der Onkel, sie solle auf die Dachterrasse kommen. Dort saßen bereits ihr Vater und andere Familienangehörige. Plötzlich, so Melissa, zog der Onkel eine Pistole: „Wenn ich nicht einwillige, würde er mich erschießen“, sagte er. Ihr Vater habe ihn angefleht: „Wenn du willst, habe ich mein Leben lang keinen Kontakt mit meiner Tochter! Aber bring sie nicht um!‘“ Der Onkel habe die Waffe wieder eingepackt. Von seinem Entschluss rückte er aber nicht ab. Und die Verwandten standen hinter ihm, drohten, am Hochzeitstag die Pistole auf sie zu richten. „Sollte ich schweigen“, sagt Melissa, „würden sie dem Hodscha – dem Geistlichen – erklären, ich sei so schüchtern, dass ich mich nicht traue, den Mund zu öffnen.“
Im Namen der Ehre, sagt Melissa, habe der Onkel in dem asiatischen Land bereits zwei ihrer Cousinen von Angehörigen umbringen lassen. Eine hatte sich ebenfalls geweigert, einen Mann zu heiraten, den er für sie vorgesehen hatte.
Es gelang Melissa, in einem unbemerkten Moment ihren Freund zu erreichen. Der machte sich auf den Weg. Außerdem konnte sie mit einem befreundeten älteren Ehepaar in Deutschland Kontakt aufnehmen. Die beiden setzten sich wiederum mit Serap Çileli in Verbindung. Peri sorgte dafür, dass die deutsche Botschaft einen Notfallpass für Melissa ausstellte. Sie schickten Geld und besorgten Flugtickets. Als schließlich ihr Freund angekommen war, konnte sich Melissa aus dem Haus der Verwandten schleichen. Die beiden ließen sich sofort islamisch und standesamtlich trauen. Jetzt konnte Melissa nicht mehr mit dem Sohn ihrer Cousine verheiratet werden. Dann ging es zurück nach Deutschland.
Peri e. V. besorgte ihnen eine Wohnung, weit weg von Melissas Heimatort, kümmerte sich um alle Formalitäten, damit die beiden neue Identitäten bekamen. Melissa musste ihre Ausbildung noch einmal von vorne beginnen, weil auf den
ursprünglichen Zertifikaten ihr alter Name stand.
Mittlerweile arbeitet sie in ihrem Beruf. Vor zwei Jahren ist ihr gemeinsames Kind zur Welt gekommen. Ihre Eltern und Geschwister haben es nie gesehen. „Ich denke jeden Tag an sie“, sagt Melissa, „und bin traurig, dass alles zerbrochen ist. Aber jetzt, wo ich selbst Mutter bin, fühle ich mich stärker.“ Sie möchte, dass alle Eltern, die ihre Kinder unter Zwang verheiraten wollen, wissen: „Diese Tradition ist eine Krankheit, die Familien zerstört!“
Die wenigsten Frauen schaffen, was Melissa gelungen ist: sich langfristig zu befreien. Von den 41 Frauen und sechs Männern, die Peri e. V. 2023 beraten, begleitet und finanziell unterstützt hat, sind nur fünf den Weg in ein unabhängiges Leben gegangen. Viele junge Menschen, so Serap Çileli, seien durch die jahrelange Unterdrückung psychisch so instabil, dass ihnen die Kraft zu einem Befreiungsschlag fehle. Doch der Austausch in den Gesprächsgruppen mit anderen Betroffenen ermutige sie. Außerdem bringe der Verein viele in Therapie. „Ich sage den Hilfesuchenden: Ihr müsst erst dann eine Entscheidung treffen, wenn ihr bereit seid!“
Maryam, 28, ist eine der Frauen, der mit Hilfe von Peri der schwere Weg in ein selbstbestimmtes Leben gelungen ist. Sie war 15, als sie in Afghanistan mit einem 20 Jahre älteren Mann verheiratet wurde. War ihre Arbeit nicht zu seiner Zufriedenheit, schlug er zu. 2020 flüchtete das Paar nach Deutschland. Die Ehe blieb die Hölle. Ihr Bruder wollte ihr helfen. Er wandte sich an EMMA, die Peri um Unterstützung bat. Der Verein entwarf einen Fluchtplan: Maryam floh eines Tages mit den Kindern zur Nachbarin, dort rief sie die Polizei, die sie abholte. Peri brachte sie in einer Patenfamilie unter, anschließend in einem Frauenhaus. Maryam reichte die Scheidung ein. Der Verein, der sich ausschließlich über private Spenden und Preise finanziert, übernahm die Anwaltskosten.
Mittlerweile lebt Maryam mit den Kindern in einer eigenen Wohnung, auch sie unter einer neuen Identität. Zurzeit holt sie ihren Realschulabschluss nach. Anschließend beginnt sie eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin. „Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Peri bin“, sagt sie. „Für mich sind das Engel.“
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