Mathilde F. Anneke: Die Revolutionärin
Hoch zu Ross kämpfte sie in der 1848er Revolution, verschrien als „Flintenweib“. „Die Befreiung des Weibes ist die vordringlichste gesellschaftliche Aufgabe!“ verkündete Mathilde Franziska Anneke (1817-1884). Mathilde wusste, wovon sie sprach: Nach dem Tod des liberalen Vaters wurde das älteste von zwölf Kindern an einen reichen Weinhändler verheiratet. Der entpuppt sich als brutaler Alkoholiker. Die schwangere Mathilde lässt sich, Skandal!, scheiden und streitet sich von da an für die Sache der Frauen. Auch im amerikanischen Exil, wo sie an der Seite von Susan B. Anthony eine der führenden Pionierinnen für das Frauenwahlrecht und die Frauenbildung wurde. Anlässlich von Annekes 200. Geburtstag am 3. April lädt ihre Geburtsstadt Sprockhövel einen Monat lang zu Veranstaltungen zu Ehren der berühmten Bürgerin. Darunter eine Exkursion „Auf den Spuren von Mathilde Franziska Anneke“. Maren Gottschalk hat Franziska Anneke in EMMA porträtiert.
Wenn mich jemand fragt, wer eigentlich Mathilde Franziska Anneke war, dann hole ich erstmal tief Luft. Denn allein für die Aufzählung ihrer wichtigsten Aktivitäten braucht es einen langen Atem: Sie war eine der ersten Feministinnen in Deutschland, kämpfte für Demokratie und Sozialismus während der 48er Revolution, verdiente ihr Geld als Journalistin und Schriftstellerin, floh 1849 ins amerikanische Exil, trat in den USA offensiv für das Frauenwahlrecht und für die Abschaffung der Sklaverei ein, gründete eine fortschrittliche Mädchenschule, hatte sieben Kinder, war zweimal verheiratet und zuletzt in einer Lebensgemeinschaft mit zwei Frauen.
Als Mathilde Franziska Anneke am 25. November 1884 in Milwaukee starb, trauerten in den USA mehr Menschen um sie als in Deutschland. Ihr Vaterland hatte sie dann auch bald vergessen. Bis Mitte der 1970er Jahre die amerikanische Wissenschaftlerin Maria Wagner beim Stadtarchiv Sprockhövel anrief und fragte, ob Annekes Geburtshaus in Hiddinghausen noch zu sehen sei. Die Überraschung war groß: „Die Kenntnis über Mathilde Anneke war hier in ihrer Geburtsstadt völlig verschüttet“, erzählt Karin Hockamp, die heute das Stadtarchiv leitet. „Der eine oder andere Heimatforscher hat sie mal in einem Nebensatz erwähnt, erst durch Wagners Biografie wurde sie hier wieder bekannt.“
Inzwischen ist Mathilde Franziska Anneke nicht nur in ihrer Geburtsstadt ein Begriff. Ihre feministischen Texte wurden in den 1970er Jahren wieder entdeckt: „Ihr wollt eine freie Nation erziehen und lasst den Urquell, die Mutter unfrei? Wie soll sie lehren, was sie selbst nicht ist?“
Ihr Vaterland hatte sie bald vergessen.
Als Feministin und Revolutionärin wird niemand geboren, noch nicht einmal Mathilde Giesler, wie sie vor ihrer Eheschließung heißt. Sie ist die typische Tochter aus gutem Hause, das älteste von elf Kindern. Ihre Eltern sind wohlhabend und verkehren in den ersten Kreisen an Rhein und Ruhr, trotzdem wächst Mathilde auf Gut Oberleveringhausen und später in Blankenstein als „freies und heiteres Bergkind“ auf. Sie ist 17, als die Familie durch Fehlinvestitionen des Vaters in finanzielle Not gerät und nach Hattingen umziehen muss. Zwei Jahre später heiratet Mathilde den reichen Weinhändler Alfred Tabouillot, der großzügig alle Schulden seines Schwiegervaters übernimmt. „Es passte alles gut, und sie wollte sicherlich ihren Eltern auch helfen. Aber es war keine Zwangsehe“, glaubt Archivarin Hockamp.
Doch Tabouillot entpuppt sich als gewalttätiger Alkoholiker. Kaum ist die gemeinsame Tochter Fanny geboren, verlässt Mathilde ihren Mann. Den Scheidungsprozess verliert sie, Unterhalt bekommt sie auch nicht, aber die Tochter darf sie behalten.
In Wesel und Münster schlägt Mathilde sich mühsam durch, unterstützt von Freunden und Verwandten, doch gesellschaftlich im Abseits. Einen Beruf hat sie nicht erlernt, aber ihr Wunsch nach Autonomie ist so stark, dass sie sich nun auf das besinnt, was sie kann: Schreiben. Sie verfasst zwei Gebetbücher für Frauen, gibt einen „Damenalmanach“ heraus, veröffentlicht Gedichte, Sonette, Theaterstücke, Balladen und Reiseberichte. Weil ihre Sprache klar und bestimmt und ihre Gedanken klug sind, hat sie bald Erfolg. Die Schriftsteller Levin Schücking und Ferdinand Freiligrath bewundern sie und freunden sich mit ihr an. Und selbst der Bischof von Münster empfiehlt ihre Schriften.
Doch die finanzielle Lage der alleinerziehenden Mutter bleibt angespannt. Also verfasst sie Artikel für die Kölnische Zeitung und die Augsburger Allgemeine Zeitung – und darin geht es um Soziales und Politik. Rasch wird Mathilde klar: Dieser preußische Staat interessiert sich weder für das Wohlergehen von Besitzlosen und Frauen, noch für ihre Meinung. Als der Ton ihrer Artikel immer kritischer wird, kommt es zum Bruch mit der katholischen Kirche. In einem Wutanfall gibt sie dem von ihr herausgegebenen Andachtsbuch einen neuen Titel: „Von den Göttern, die der Mensch in seiner Not erschuf“.
Mathilde schließt sich dem „Demokratischen Verein“ in Münster an und ist ab sofort für die konservative Münsteraner Gesellschaft untragbar, ihre Gebetbücher werden verboten und sie selbst als „Communistin“ beschimpft. Doch Mathilde fühlt sich wohl inmitten der Menschen, die auf ein neues, ein besseres Deutschland hoffen. Einer von ihnen ist Fritz Anneke, ein ehemaliger Offizier, der wegen seiner liberalen Ansichten aus dem Militär entlassen wurde. Aus den beiden wird ein Paar, sie ziehen nach Köln und heiraten dort am 3. Juli 1847.
Für Mathilde Franziska Anneke gehören Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung untrennbar zusammen. Auslöser ihrer ersten feministischen Schrift, Titel „Das Weib in Conflict mit den socialen Verhältnissen“, ist das Schicksal von Louise Aston. Die ist ebenfalls eine geschiedene Frau. Ihre Weigerung, sich als Frau unterzuordnen, erregte in Berlin soviel Aufsehen, dass man sie aus der Stadt wies. Mathilde will Louise Aston unterstützen, erklärt sie zum Vorbild und widerspricht ihr doch in einem wichtigen Punkt: Nicht der einzelne ‚schlechte‘ Mann ist Schuld an der Misere der Frauen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse sind es – und die Kirche: „Warum noch länger die christlich duldende Magd eines Herrn, der zum Despoten (...) geworden ist, weil er selber ein Knecht ward?“ Mathilde widmet die Abhandlung ihrem Ehemann Fritz, der sie im Kampf um Gleichberechtigung rückhaltlos unterstützt.
Freiheit und Gleichberechtigung gehören zusammen
Die kleine Wohnung der Annekes in der Kölner Altstadt ist eine „Keimzelle der Revolution“, schreibt Biografin Wagner. „Statt amüsant-vornehme Dame zu spielen, waren die Frauen hier von einem Ernst, einem missionarischen Geist beseelt, der sie ebenso zu Taten anspornte wie die Männer.“ Im März 1848 kommt es zu Unruhen, als die Kölner BürgerInnen dem Rat der Stadt eine Petition überreichen. Im Juli wird Fritz Anneke als Rädelsführer verhaftet. Mathilde, hochschwanger, kämpft auf ihre eigene Weise und bereitet die Gründung einer sozialistischen Zeitung vor: Im September bringt sie die Neue Kölnische Zeitung heraus, ein Blatt, mit dem sie die Menschen aufklären will. Der Sitz der Redaktion ist am Kölner Heumarkt.
Mathilde Anneke fordert die LeserInnen auf, von allen Ungerechtigkeiten zu berichten, die ihnen von der Obrigkeit her angetan werden, damit sie darüber schreiben kann. Dass die Neue Kölnische Zeitung sehr bald verboten wird, wundert niemanden. Auch Mathildes Folgeprojekt, die Frauen Zeitung, erscheint nur zweimal, bevor die Zensur zuschlägt.
Als Ehemann Fritz aus dem Gefängnis entlassen wird, schließt er sich dem badisch-pfälzischen Aufstand an. Mathilde gibt ihre Kinder in Obhut und folgt ihrem Mann nach Neustadt an der Haardt. Da sie ausgezeichnet reiten kann, begleitet sie ihn als Ordonanz und Kurier. „Sie wollte eben ihren Beitrag leisten und Fritz zur Seite stehen bis zum bitteren Ende. Und das hat sie auch getan“, sagt Archivarin Hockamp.
Das Scheitern der 48er-Revolution bedeutet für Tausende Menschen Tod, Gefängnis oder Verfolgung. Die Annekes flüchten in die USA und lassen sich zunächst in Milwaukee (Wisconsin) nieder, wo jeder dritte Einwohner aus Deutschland stammt. Sie leben sich schnell ein: Mathilde hält Vorträge über die jüngsten Ereignisse in Deutschland und über deutsche Literatur, sie engagiert sich für die Befreiung der Sklaven und den Schutz der indianischen Bevölkerung. Ihr wichtigstes Anliegen aber ist ab jetzt der Kampf um die Gleichberechtigung von Frauen.
Die Deutsche gründet die Deutsche Frauen Zeitung, die es immerhin auf eine Auflage von 2000 Stück bringt und über zweieinhalb Jahre erscheinen wird. Es ist die erste feministische Zeitung, die von einer Frau in eigener Regie auf amerikanischem Boden publiziert wird. Und: Sie stellt dafür ausschließlich weibliche Setzer ein!
Wir waren bessere Menschen in ihrer Nähe
Die US-amerikanische Frauenbewegung wird auf Mathilde Anneke aufmerksam, lädt sie zu Vorträgen ein, wählt sie in Komitees und Ausschüsse. Die Biografin: Bald steht sie „in den ersten Reihen jener Aktivistinnen, die für das Stimmrecht der Frau auf lokaler und nationaler Ebene rangen.“ Es ist ein zäher Kampf, dessen Sieg die deutsch-amerikanische Suffragette nicht mehr erleben wird: Erst 1920 wird das Frauenwahlrecht mit dem 19. Verfassungszusatz in den USA ratifiziert.
Trotz der Unrast sind es glückliche Jahre für Mathilde und Fritz Anneke. Sie haben sich mit ihrer großen Familie – sieben Kindern, Mathildes Mutter und zwei ihrer Schwestern – in Newark niedergelassen und genießen es, sich in der neuen Heimat zu engagieren. Doch dann sterben innerhalb weniger Monate vier ihrer Kinder. Ein Schicksalsschlag, von dem sie sich nie wieder erholt hat und an dem auch ihre Ehe offensichtlich zerbrochen ist. Fritz geht nach Italien. Sie folgt mit den Kindern und ihrer neuen Lebenspartnerin, der Schriftstellerin Mary Booth.
Der Neuanfang in Europa ist schwer für Mathilde Anneke. Zwar verfasst sie hier wichtige Texte, wie die Geschichtensammlung „Gebrochene Ketten“ oder den Roman „Uhland in Texas“, doch noch immer kann die erfahrene Journalistin nicht vom Schreiben leben. Sie notiert: „Es beschleicht mich wieder jenes Gefühl einer unterdrückten Tagelöhnerin …“
Nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin Mary kehrt Mathilde in die USA zurück. Sie findet eine neue Lebensgefährtin: die Pädagogin Cäcilie Kapp. Mit ihr gemeinsam gründet sie 1865 das „Milwaukee Töchter Institut“, eine der ersten Mädchenschulen, in denen Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet werden.
Auch als Schulleiterin erwirbt Mathilde Franziska Anneke sich großen Respekt. Karin Hockamp: „Sie war eine großartige Lehrerin, obwohl sie nie eine Ausbildung genossen hat.“ Nach ihrem Tod 1884 erscheinen in den USA zahlreiche Nachrufe. Und noch zwanzig Jahre später schreibt eine ihrer Schülerinnen: „Wir waren bessere Menschen, indem wir in ihrer Nähe geweilt hatten ... Ihr nachzueifern musste man nach den Sternen zielen.“
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WDR 5 Zeitzeichen von der Autorin Maren Gottschalk über Mathilde Franziska Anneke
Anneke-Porträt beim Feministischen Archiv und Dokumentationszentrum (FMT)