Richterin aus Kabul gerettet!
Zu siebt standen sie an diesem verregneten Oktobermorgen vor der Flüchtlingsunterkunft in Luxemburg: Palwasha, ihre vier Schwestern Durkhanai, Spozhmai, Deewa und Zarghona, ihr Bruder Maiwand und ihre Mutter Hafeza. Alle trugen Corona-Masken. „Aber die Richterin habe ich sofort erkannt. Sie hat so schelmisch gelacht“, erzählt Christa Zöchling. Nur über eins habe sie sich gewundert: „Sie war so viel kleiner und zarter, als ich sie mir vorgestellt habe.“
Bis zu diesem Tag hatten sich Christa Zöchling, Journalistin aus Wien, und Palwasha M., Richterin aus Kabul, noch nie persönlich getroffen. Sie kannten sich nur über verwackelte WhatsApp-Videos, die Palwasha aus einem Keller in Kabul geschickt hatte. Aus diesem Keller hat Christa Zöchling die Richterin und ihre Familie gerettet.
Viele Menschen haben bei dieser abenteuerlichen Rettung geholfen. Das deutsche oder österreichische Außenministerium allerdings nicht.
Die Geschichte dieser Rettung geht so: Am Tag der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 interviewt Christa Zöchling, Redakteurin beim Wiener Nachrichtenmagazin Profil, den in Wien lebenden afghanischen Politikwissenschaftler Mirwais Wakil. Der erzählt ihr von seiner Sorge um Richterin Palwasha M., die er von Besuchen in seiner Heimat persönlich kennt. Er kennt auch deren Bruder Omar, der seit einigen Jahren in Salzburg lebt. Einen Tag später besucht Christa Zöchling Omar in seiner Wohnung. Der stellt per WhatsApp den Kontakt zu seiner Familie im Keller in Kabul her. Dorthin waren Palwasha und ihre Familie in panischer Angst geflüchtet. Sie fürchten die Rache der Taliban. Und das mit gutem Grund.
Palwashas Vater, ebenfalls Richter, war 1994 von den Taliban ermordet worden. Sie hatten ihn aus seinem Dienstwagen entführt und erschossen. Doch Tochter Palwasha ließ sich nicht einschüchtern. Sie wurde selbst Richterin und verurteilte nach der Vertreibung der Gotteskrieger am afghanischen Supreme Court so manchen Taliban und Taliban-Sympathisanten.
Schon im Februar 2021 waren zwei Freundinnen von Palwasha, ebenfalls Richterinnen, auf offener Straße erschossen worden.
Als die Taliban immer näher an Kabul heranrücken, bereitet die Familie ein Kellerversteck in der Nähe des Flughafens vor. Nicht nur Richterin Palwasha ist in Gefahr, auch ihre Schwestern sind es: Alle Frauen sind unverheiratet, alle haben studiert. Zarghona ist Ärztin, Spozhmai und Durkhanai sind Lehrerinnen wie ihre Mutter Hafeza, Deewa ist angehende Staatsanwältin. Ihr Bruder Maiwand war bereits als Kind Opfer der Brutalität der Taliban geworden: Er spielte auf der Straße ein verbotenes Wettspiel. Ein Taliban schlug ihn dafür so heftig, dass er ein Auge verlor.
Nun sitzen sie alle in dem Keller und haben Angst. Als sie mit ihrem Bruder Omar in Salzburg telefoniert, berichtet Palwasha, dass sie Gift dabei haben: Bevor sie in die Hände der Taliban fielen, würden sie sich umbringen. Omar ist vor Angst halb wahnsinnig. Dann bekommt er Besuch von Christa Zöchling.
Die Journalistin berichtet am 22. August in Profil über den Fall. Titel: „Ist da jemand?“ Aber zunächst ist da niemand, der hilft. Die österreichische Regierung hat verkündet, „keine Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen“. Zöchling informiert Alice Schwarzer. Die antwortet sofort: „Verbreite die Geschichte über EMMAonline, rufe deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an und kontaktiere US-Senatorinnen.“
„Dass sich Alice Schwarzer innerhalb einer halben Stunde gemeldet hat, hat mir so geholfen“, erinnert sich Christa Zöchling. „Weil ich da wusste: Ich bin nicht allein.“
AKK verweist ans Außenministerium, das sich nie zurückmelden wird. EMMA berichtet. Daraufhin meldet sich Remko Leemhuis vom „American Jewish Comitee“. Er schafft es, eine amerikanische Juristinnen-Organisation und eine Kongress-Abgeordnete zu mobilisieren, die den Fall auf eine „US-Evakuierungs-Priority-Liste“ setzen. So wird der Kreis der UnterstützerInnen immer größer.
Ausschlaggebend ist schließlich der Einsatz einer Richterin: Edith Zeller, österreichische Verwaltungsrichterin und Präsidentin der „Association of European Administrative Judges“, hatte schon einmal eine afghanische Kollegin vor dem sicheren Tod gerettet: Auch Nilab Dian aus Mazar-i-Sharif hatte Taliban zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt und stand nun auf deren Todesliste. Richterin Zeller hatte einen Richterkollegen und dieser den luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn mobilisiert. Der wiederum stellte Visa für Nilab und ihre Familie aus.
Genauso geschah es nun wieder. Minister Asselborn ruft bei Richterin Zeller an und sagt Visa für Palwashas Familie zu. Die Familie müsse es allerdings über die Grenze schaffen, in eine Botschaft, die mit Luxemburg zusammenarbeitet. Dort müsse sie die Visa persönlich abholen.
Wieder setzt Journalistin Zöchling alle Hebel in Bewegung. Sie fragt bei Ex-Außenministerin Karin Kneissl ebenso um Hilfe wie den Ex-Bundespräsidenten Heinz Fischer. Welche Botschaften können helfen? Wieder geht es bei der Überquerung der Grenze um Leben und Tod. Schließlich schickt das pakistanische Innenministerium ein Einreisevisum.
Palwasha verlässt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach neun Wochen den Keller. Es ist Nacht. Bevor die Familie im Taxi zur pakistanischen Grenze fährt, buddeln sie im Garten ihres verlassenen Hauses die Dokumente aus, die sie dort versteckt haben. An der Grenze angekommen, müssen sie feststellen, dass die Taliban jeden Pass streng kontrollieren. Palwasha hat keine Chance. Sie fahren wieder zurück in den Keller. Nun stellt die pakistanische Botschaft ein provisorisches Visum aus. So müssen die Richterin und ihre Familie ihre Pässe nicht vorzeigen.
Diesmal gelingt es. Am 8. Oktober fliegen Palwasha M. und ihre Angehörigen von Islamabad über Istanbul nach Luxemburg. Außenminister Jean Asselborn begrüßt sie persönlich.
Zwei Wochen später, nach Ende der Quarantäne, begegnen Palwasha und ihre Familie zum ersten Mal der Frau, der sie ihre Rettung verdanken: Christa Zöchling. „Wir hatten alle Tränen in den Augen“, erzählt die Journalistin. Die ist immer noch dankbar für alle, die sich in die Rettungsaktion eingeschaltet haben. „Immer, wenn ich gedacht habe, es geht nimmer weiter, dann hat sich wieder eine Tür geöffnet.“
Und wie geht es nun mit Palwasha und ihrer Familie weiter? Bei aller Erleichterung, sagt Zöchling, sei klar, dass „jetzt eine schwierige Zeit beginnt. Palwasha und ihre Schwestern wissen, dass ihre Abschlüsse und alles, was sie gelernt haben und können, hier nichts mehr wert ist, und dass sie wieder von vorne anfangen müssen.“ Aber: Aus der Zeit der Taliban-Herrschaft seien sie „gewohnt, sich durchzubeißen“. Die Familie lerne gerade Französisch. Und immerhin dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass ihr Asylantrag positiv beschieden werde.
Immer noch ist Palwasha M. über eine WhatsApp-Gruppe mit anderen afghanischen Richterinnen vernetzt. Einige haben es, wie sie, ins sichere Ausland geschafft. Viele jedoch sind noch in Kabul. Palwasha mahnt: „Es gäbe noch einige von uns zu retten, wenn ich das so sagen darf.“ Sie darf.