Film: „Blinder Fleck“ über rituelle Gewalt
Da waren Männer. Sie hatten schwarze Umhänge mit Kapuzen an. Wir waren in einem Wald. Wir Kinder mussten uns ausziehen. Ich hatte Angst.“ So fangen Albträume an. Kinder haben Albträume. Und es gibt auch Kinder, die schreckliche Geschichten erfinden. Wenn aber ein vierjähriges Mädchen von dieser Art Erlebnis erzählt – dann sollten wir genau zuhören. Doch die Schilderungen von Kindern und Frauen, die sagen, rituelle Gewalt erlebt zu haben, sind oft so obskur und grausam, dass niemand sie glauben mag. Nicht die Polizei, nicht das Jugendamt, selbst die Familie wendet sich ab.
Diese sexuelle Gewalt geht auch in Deutschland so manches Mal weit hinaus über einzelne Täter im näheren Umfeld. Sie passiert in humanistischen Institutionen wie Kirchen, Internaten oder in Sportvereinen. Und sie passiert in organisierten Banden – wie auch die rituelle Gewalt. Die Dokumentarfilmerin Liz Wieskerstrauch hat einen Film über die rituelle sexuelle Gewalt gemacht. „Blinder Fleck“ heißt der Film und war nicht leicht zu realisieren. Er ist allein durch Spenden finanziert. „Für so ein Thema gibt es keine Filmförderung“, sagt sie.
Der Film respektiert die Würde der Opfer: keine True-Crime-Nachstellungen, keine Bilder von Missbrauch. Wieskerstrauch hat die Opfer sprechen lassen. Die Frauen sind fürs Leben gezeichnet. Sie berichten davon, wie sie als Kinder mit kultischen Ritualen regelrecht abgerichtet wurden, um bei sexuellen Orgien und Zwangsprostitution zu funktionieren. Eine Frau berichtet Ungeheuerliches, wie sie als Kind gewaschen, eingeölt und in ein Gewand gesteckt und dann zusammen mit anderen Kindern vor einem Altar aufgestellt wurde. Der „hohe Priester“ hat sich ein Kind herausgesucht und auf dem Altar vergewaltigt. Ein anderes Opfer kann sich an Entführungsfahrten im Kofferraum erinnern. An Tabletten, die alle Kinder nehmen mussten, an Zelte, an Feiern, auf denen sie vor Publikum mehrfach missbraucht worden sind.
Neben den Opfern kommen auch Kommissare, AnwältInnen, PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und GedächtnisforscherInnen zu Wort. Eine ist die Sozialarbeiterin Cathrin Schauer-Kelpin, die seit 30 Jahren mit ihrem Verein KARO in Plauen an der tschechischen Grenze dem Menschenhandel den Kampf ansagt und unzählige Frauen und Kinder aus der Prostitution geholt hat. „Rituelle Gewalt ist Teil der organisierten Pädokriminalität. Mal passiert sie im Rahmen der Kirche, mal sind es Sekten oder satanistische Kreise, mal fehlt ein Überbau“, sagt Cathrin Schauer. Aber oft sind es kriminelle Banden, größere Organisationen, die durch alle Schichten gehen.
Die Frauen, die die Sozialarbeiterin in ihrem Schutzhaus über die Jahre betreut hat, erzählen immer wieder dasselbe. „Sie beschrieben meist Bordellsituationen. Häufig waren mehrere Kinder und mehrere Männer, oft auch die eigenen Väter, involviert. Mal waren sie maskiert, mal nicht“, sagt Schauer. Sie ist empört über die Zweifel, die es grundsätzlich an ritueller Gewalt gibt: „Es gibt doch genug aktenkundige Fälle zu organisierter Sexualgewalt an Kindern. Der Fall Marc Dutroux oder die Kinderbordelle in den 1990ern oder im Sachsensumpf 2007 zum Beispiel, wo sogar Richter und Anwälte involviert gewesen sein sollen. Die Inszenierungen mit Maskeraden sind nur eine Variante.“
In Frankreich ist gerade ein Chirurg aufgeflogen, der über Jahrzehnte 300 Opfer – Durchschnittsalter elf Jahre – unter Narkose missbraucht haben soll. Er hat über seine Taten akribisch Tagebuch geführt. Würde diesen Kindern sonst geglaubt? Gäbe es Beweise? Und gerade erst ist in Deutschland das Portal „Kidflix“ aufgeflogen, das Videos und Fotos von schwerster sexueller Gewalt, sogar an Säuglingen, vertrieben hat. „Manche dieser Banden geben sich einen satanistischen Anstrich, um sich zu schützen“, sagt Cathrin Schauer. Sie vermutet, dass es nur selten eine Art ideologischen Überbau gibt und Kinder vielmehr mit den obsku- ren Inszenierungen davon abgehalten werden sollen, glaubwürdig zu sein. Auch als Erwachsene nicht.
„Wenn Kinder schildern, dass sie von Kapuzen-männern oder Personen, die wie Drachen aussehen, missbraucht worden sind, glaubt ihnen das kein Mensch“, sagt auch die Rechtsanwältin Ellen Engel, die Menschen vertritt, die als Kind missbraucht wurden. Auch GutachterInnen kämen schnell zu dem Ergebnis, dass es „so etwas“ nicht geben könne. Viele Aussagen gelten als nicht „gerichtsverwertbar“. Denn die Zeuginnen haben Ausfallerscheinungen, keine „kohärenten“ Erinnerungen, sie können nur Ausschnitte rekonstruieren. Richter geben sich aber nicht mit einer „allerhöchsten Wahrscheinlichkeit“ zufrieden. Gerade Kindern wird deswegen oft die „Aussagetüchtigkeit“ abgesprochen. Ihre Aussagen werden als „nicht erlebnisbasiert“ eingestuft – und sind damit hinfällig.
Anwältin Engel plädiert dafür, dass „unser Rechtssystem traumapsychologisch fundiert wird“. Das wäre auch bei Vergewaltigungsprozessen hilfreich. „Ich erlebe oft, dass Polizeibeamte, Staatsanwälte und Richter den Begriff Trauma nicht kennen oder absolut ablehnen.“ Viele der Opfer müssen zeitlebens mit Flashbacks leben. Etwa durch Gerüche oder Geräusche kommen plötzlich Erinnerungen hoch, die sie in die Trauma-Situation zurückkatapultieren. „Dann sitzt dort eine erwachsene Frau vor ihnen, die die Körpersprache eines Kindes annimmt und deren ganzer Körper zittert“, sagt die Traumatherapeutin Yansa Schlitzer. „Dieses Verhalten lässt auf schwersten Missbrauch schließen.“ Auch sie hat keinen Zweifel an der Existenz von ritueller Gewalt, zu ähnlich sind die Traumatisierungen der Opfer, mit denen sie arbeitet.
Aber selbst Kripo-Beamte werden für verrückt erklärt. „Ich wurde von Kollegen in meinen Ermittlungen ausgebremst, ich wurde gemobbt, weggelobt und als ‚befangen‘ erklärt. Die Gesellschaft will diese organisierte Sexualgewalt nicht wahrhaben“, erklärt ein Kripo-Beamter, der anonym bleiben will – oder muss. „Viele der Opfer, die als Kind missbraucht worden sind, wenden sich erst als Erwachsene an die Polizei. Es ist nahezu unmöglich, dann noch Spuren, geschweige denn Beweise zu finden“, klagt auch Mordkommissar Axel Petermann aus Bremen.
Und dann wären da auch noch Spaßvögel wie der ZDF-Clown Jan Böhmermann. Der hatte sich in seiner Sendung über „sexuelle Gewalt gegen Kinder durch satanistische Kreise“ lustig gemacht – mal wieder in Unkenntnis der Fakten. „Leute wie Böhmermann wissen gar nicht, was sie da anstellen. Die Opfer von ritueller Gewalt sind schwersttraumatisiert. Und dann macht sich da noch jemand über ihr Leid lustig“, sagt Filmemacherin Wieskerstrauch. Und auch Medien wie der Spiegel berichten mit Vorliebe vor allem über die eher raren Fälle, in denen ein Opfer wahrscheinlich oder nachweislich gelogen hat, wie jüngst „Josephine R.“. Sie hat ihren Eltern Vergewaltigung und Folter vorgeworfen, brachte sie so ins Gefängnis. Zu Unrecht wurde erwiesen.
Aber die unzähligen Fälle von sexuellem Missbrauch, in denen Kindern und Frauen nicht geglaubt wird und keine Täter dingfest gemacht werden können, über die wird selten berichtet. Sie bleiben ein blinder Fleck.
wieskerstrauch.com/projekt-blinder-fleck
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