Russische Autorinnen: Im Osten nichts
Das ewige Leiden. Das große Herz. Die russischen Autorinnen sind die einzigen, die vom realen Leben erzählen, sagt die Aspekte-Autorin Christine Daum. Ein tiefer Blick in russische Frauen- und Männerseelen.
In Russland haben Bücher Erfolg, die von Krankheit, Tod und Weltuntergang handeln. Zudem sollten sie über einen Schuss Mystizismus verfügen und ‚explizite Inhalte‘ haben, was Humor nicht ausschließt, im Gegenteil. Das immer große russische Leiden ist ohne Humor nicht zu ertragen. Damit sind die sechs Neuveröffentlichungen von Autorinnen aus Russland umrissen, die in diesem Jahr neben neuen Krimis von Frauen auf den Markt kommen.
Der Koloss in Europas Osten ist Gastland der Frankfurter Buchmesse. Nur ein Kaminer als Vorzeige-Russe für ganz Deutschland wäre etwas wenig. Auch Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin zogen in letzter Zeit Aufmerksamkeit auf sich. Beide erschüttern zwar weder mit ihrer Fabulierlust noch mit ihren Sprachkaskaden das Vorurteil, russische Literatur sei langatmig mit so langen Sätzen wie Namen. Doch sie fallen durch ihre so genannt erotischen und politischen Provokationen auf.
Doch unter Putin soll endlich Schluss sein mit dem unrussischen Schund. Sorokin und andere Autoren wurden vor Gericht gezerrt. Im Zeichen der Rebellion der Väter gegen die Söhne präsentiert sich die russische Literaturszene zur Buchmesse gespalten in staatstreue Traditionalisten und Libertinäre. Vor allem Letztere betonen die Differenz, die durchaus auch Frauen betrifft.
Sex und die russische Spezialität, Faschismus und Bolschewismus kurzzuschließen, sind als Provokationen längst erstarrt. „Die nackte Pionierin“ sei typisch Perestroika, findet meine Übersetzerin Vera. Sie hatte gerade begonnen, das Buch von Michail Kononow zu lesen, Inhalt: 14-jährige Regimentshure erfüllt ihre Pflicht als gute Pionierin und vögelt sich durch den Zweiten Weltkrieg oder aber wird ununterbrochen vergewaltigt.
Nun könnte man sagen: Im Osten nichts Neues. Doch die Realität war doch immer schon die Domäne der Frauen, die im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen viel weniger metaphysisch, aber präzise und ironisch den Alltag aufgreifen. Dafür aber, dass Russland 1999 das Jahrhundert der Schrifstellerinnen ausgerufen hat, ist die Anzahl der deutschen Neuveröffentlichungen russischer Autorinnen in diesem Jahr klein, von etwa 30 AutorInnen sind nur fünf von Frauen. Selbst die Grande Dame der russischen Literatur, Ljudmila Petruschewskaja mit ihrem schwarzen Humor, fehlt diesmal. Liegt das daran, dass Frauen in Russland so viel zu tun haben, dass sie keine Romane, sondern nur Erzählungen schreiben? Der Roman aber gilt in Deutschland erst als Buch.
Dabei hatte es in der Nachwendezeit mit vielen neuen Titeln so gut angefangen. Zur Jahrhundertwende erlosch jedoch die deutsche Neugier an russischen Autorinnen. Allein Ulitzkaja erschien weiter. In diesem Jahr sind nur zwei neue Namen dabei. Die in Russland sehr erfolgreiche, kaum über 20-jährige Irina Denezkina, schwimmt mit „Komm“ auf der Pop-Welle harmloser Freizügigkeit. In ihren schnellen pointierten Geschichten seziert sie das sexuelle Erwachen von Teenagern in Petersburg. Düster geht es dagegen in der „Närrin“ von Svetlana Vasilenko zu. Ihre Protagonistin ist schwachsinnig und der Weltuntergang droht durch einen Atomschlag.
Drei neue Titel von bereits bekannten russischen Autorinnen sind besonders bemerkenswert: „Kys“ von Tatjana Tolstaja, „Die Lügen der Frauen“ von Ljudmila Ulitzkaja sowie die zweisprachige Anthologie „Immerhin ein Ausweg“. Tolstaja und Ulitzkaja sind in Deutschland bereits bekannt – und sie sind alte Konkurrentinnen. Vorletztes Jahr schnappte Ulitzkaja mit „Reise in den siebenten Himmel“ der Tolstaja den russischen Booker Preis vor der Nase weg.
Ulitzkaja sei der Liebling der Intelligenzija, erklärt mir Kameramann Alexander Burow, während wir auf Drehortsuche an der Moika entlang gehen, wo alle Paläste zum 300. Gründungstag Petersburgs herausgeputzt sind. Tolstaja dagegen sei populärer. Das nicht nur, weil sie sich über alles lustig macht und eine eigene Fernseh-Talk-Show hat, die sich „Lästerschule“ nennt. Mit ihrer Kollegin Dana Smirnova zieht sie über Künstler und Politiker her, die beide vorher interviewt haben. Tolstaja sei einfacher, eben russischer. Und das, obwohl – oder weil – sie nach der Perestroika zehn Jahre in den USA lebte, dort Kreatives Schreiben unterrichtete und in zahllosen Essays für den New Yorker versuchte, den Amerikanern Russland zu erklären.
Auf der Buchmesse wird Tolstajas „Kys“ zweifellos das Ereignis unter den Neuveröffentlichungen russischer Autorinnen sein. Sein Inhalt: Der „große Schlag“ hat die Zivilisation vernichtet. Ein alberner, kleinwüchsiger Tyrann, der arme Schreiber Benedikt, ist an die Macht gekommen, er behauptet, alle Literatur der Welt verfasst zu haben. Mäuse sind Zahlungsmittel und Hauptnahrung in seinem totalitären Steinzeit-Imperium, das Mutanten bevölkern, die nicht einmal wissen, wie man Feuer macht. Zehn Jahre hat Tolstaja an der breit angelegten Tragikomödie geschrieben. Das Buch, dessen Ton an Volksmärchen erinnert, wurde in Russland sofort zum Bestseller.
Auf dem Sofa ihres neuen Petersburger Domizils, das sie im Frühjahr bezog, breit Platz einnehmend, erklärt die Kettenraucherin und Enkelin des berühmten Tolstoj die Grundidee für „Kys“: Sie habe ein Phänomen, mit dem sie als Altphilologin durch Frühkulturen vertraut sei, einfach auf das Ende des Sowjetreiches übertragen. Kulturen können spurlos verschwinden. Die Nachgeborenen wissen höchstens noch gerüchteweise von ihnen. Nein, nein, sagt sie, der Roman sei keineswegs eine Satire auf postsowjetische Verhältnisse, wie ich denn darauf komme?
Tolstaja wurde mit ihren Erzählungen 1986 quasi über Nacht zu einem Literatur-Star. Ljudmila Ulitzkaja dagegen, die international bekannteste russische Autorin, konnte erst nach der Perestroika Anfang der 1990er veröffentlichen. Bald darauf wurde sie weltweit als „neuer Tschechow“ gefeiert und mit Preisen überhäuft. Shenja ist die geduldige Zuhörerin ihres neuen Bandes „Die Lügen der Frauen“. Inhalt: Die Frauen schmücken ihr Leben in die eine oder andere Richtung aus, dramatisieren es. Eine erfindet sich einen Bruder, andere lassen Kinder und Männer sterben. Und die russische Prostituierte in Zürich erzählt allen die gleiche Geschichte.
Die Leidensfähigkeit und der Aufopferungswille von Frauen sind ein Klassiker in der russischen Literatur. So erzählt Viktorija Torkajewa in „Eine Liebe fürs ganze Leben“ das böse Schicksal der Grundschullehrerin Irina. Diese Verliererin der Perestroika will sich immer nur aufopfern, ob für ihre Kinder oder für die große Liebe.
Doch die großartige, von Natalja Nossowa und Christiane Körner herausgegebene Anthologie „Immerhin ein Ausweg“ zeigt, wie vielfältig russische Autorinnen mit existentiellen Situationen umgehen und dem Leiden, das sie mit sich bringen. Da wird die weibliche Leidensfigur nicht nur ironisiert. Das Erstaunliche an dieser kleinen Sammlung ist die sprachliche und für russische Verhältnisse ungewöhnlich körperliche Intensität. Angesichts dieser Frauenstimmen ist zu spüren, welches Versprechen noch in der russischen Literatur steckt.
Als Markenprodukt durchgesetzt sind dagegen in Deutschland russische Krimis. Wie überall in der Welt haben sich auch in Russland Frauen als die erfolgreicheren Krimi-Autoren erwiesen. Ob Polina Daschkowa oder Darja Donzowa, die deutschen Verlage überschlagen sich darin, immer neue Königinnen des russischen Krimis zu krönen. Dabei kommen sie nicht vorbei am sowjetischen Ex-Milizleutnant Alexandra Marinina, die als erste russische Krimiautorin in Deutschland bekannt wurde (EMMA 6/2000). Die Verkaufszahlen der gekrönten Schnellschreiberinnen liegen in Russland im zweistelligen Millionenbereich.
Die Krimis haben zuerst auf die neuen Verhältnisse reagiert. Zusammen mit Liebesromanen waren sie, die zu Sowjetzeiten als Schundliteratur galten, ein paar Jahre das einzige literarische Futter der Russen. Denn nach der Perestroika wurde wenig geschrieben. Die AutorInnen orientierten sich neu. Fünf Jahre lang schossen Verlage aus dem Boden, um bald wieder einzugehen. Sie veröffentlichten, was sie wollten, auch ohne Lizenzen. Seit Mitte der 90er Jahre hat sich die russische Verlagsszene stabilisiert.
Der Aufbau Verlag, der sich einst als DDR-Überbleibsel wie auch der inzwischen in Luchterhand (Random House) aufgegangene Verlag „Volk und Welt“ insbesondere um russische Literatur kümmerte, bringt den dritten Krimi der schönen Ex-Tänzerin Polina Daschkowa „Russische Orchidee“ in Deutschland sogar als Hardcover-Spitzentitel heraus. Ihre ersten beiden Krimis wurden vom deutschen Feuilleton einhellig gelobt. Und auch in diesem Buch erzählt Daschkowa wieder vom neuen Russland, diesmal aus der Medienwelt. Ein TV-Moderator wird ermordet, der jeden mit Dreck beworfen hat.
Eine Frau als Ermittlerin gibt es dagegen bei Darja Donzowa („Ein Hauch von Winter“, „Der unschuldige Mörder“). Die Französischlehrerin Dascha (alter ego der Autorin, die einst Deutsch und Französisch unterrichtete) schlittert in ihre Fälle hinein. Sie findet schon mal eine Leiche in ihrem Kofferraum oder die siebte Frau ihres Ex-Mannes wird umgebracht – und nur sie glaubt ihm seine Unschuld.
Dascha hat das typische große Frauenherz und auch sonst bedienen die meist in Moskau spielenden Krimis die Klischees. Doch das liegt vielleicht weniger an den Krimis als vielmehr an den Verhältnissen im neuen Russland, die in ihren eigenem Klischee erstarrt sind.
Auf der einen Seite die neuen Russen und ihr Reichtum, Mafia, Korruption und die Lebewelt mit Showbiz und Prostitution. Auf der anderen Seite die gewöhnlichen Menschen, die ums Überleben kämpfen und selbst mit guter Ausbildung nicht unbedingt ein Mittelklasseleben führen. Und mittendrin die Frauen – die mit der großen Leidensfähigkeit und dem großen Herzen.
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Tatjana Tolstaja: "Kys" (Rowohlt). Ljudmila Ulitzkaja: "Die Lügen der Frauen" (Hanser). "Immerhin ein Ausweg", Hg. Natalja Nossowa und Christiane Körner (dtv). Polina Daschkowa: "Russische Orchidee" (Aufbau). Darja Donzowa: "Der unschuldige Mörder" (btb). Alina Wituchnowskaja: "Schwarze Ikone" (DuMont). Irina Denezkina: "Komm" (Fischer). Svetlana Vasilenko: "Die Närrin" (DVA).