Was ist die Alternative zu Putin?
Russland hat die Ukraine auf breiter Front mit einer überwältigen Militärmacht angegriffen, und dies, ohne direkt provoziert worden zu sein. Es ist ein russischer Angriffskrieg, um Territorien und politische Vorteile zu gewinnen. Das verstößt klar gegen die UN-Charta. Damit hat Putin den ersten größeren Krieg zwischen souveränen Staaten innerhalb Europas seit dem Nato-Krieg gegen Serbien im Jahr 1999 zu verantworten. Hier macht sich Russland, ja macht sich Putin persönlich schuldig. Aber auch den Westen trifft eine schwere Schuld.
Mit dieser Militärintervention hat Putin alle Hoffnungen aufgeben, ein Einverständnis mit dem Westen über eine Anerkennung der Sicherheitsinteressen Russlands zu erreichen. So ist auch Putins Angriff nicht so sehr gegen die Ukraine gerichtet als gegen den Westen; die Ukraine ist „nur“ die Leidtragende in dieser Auseinandersetzung. Was zuerst wie ein russisches Himmelfahrtskommando ausgesehen haben mag, scheint viel durchdachter zu sein, als es die meisten Kommentatoren wahrhaben wollen. Mit dieser sicherlich illegalen Militäroperation könnte Putin eine neue europäische Sicherheitsarchitektur diktieren, die sicherlich nicht im Interesse des Westens und schon gar nicht im Interesse Europas ist.
Presseberichte, wonach der ukrainische Präsident Selenskyj das Angebot gemacht hat, dass sein Land nicht der Nato beitreten werde, scheinen zwar verlockend, sind aber wenig realistisch. Selenskyj hat gar nicht die Macht, ein solches Angebot zu machen, noch dessen Durchführung zu garantieren. Er würde einen 2014 hinzugefügten Artikel der ukrainischen Verfassung verletzen und somit auf vehementen Widerstand unter großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung stoßen, vor allen auf den der mächtigen nationalistischen Milizen. Auch würde eine solche Vereinbarung ohne die Unterschriften der USA und der Nato kaum Sinn machen.
Eine militärische Eroberung der gesamten Ukraine ist eher unwahrscheinlich
Viel wahrscheinlicher ist es, dass Putin plant, die großen Gebiete der Ukraine östlich des Flusses Dnepr einzunehmen, also jene Gebiete, die erst 1922 unter Lenin in die neu entstandene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert wurden. Sein Ziel könnte dann sein, mit Belarus, den eroberten Gebieten der Ost- und Südukraine sowie Transnistrien eine neue Russische Föderation zu bilden. Da das Gebiet über eine mehrheitlich russisch sprechende Bevölkerung verfügt, dürfte er hoffen, auf wenig Widerstand stoßen.
Eine militärische Eroberung der gesamten Ukraine ist eher unwahrscheinlich. Vor allem in den westlichen Teilen das Landes würde die russische Armee mit gehörigem Widerstand rechnen müssen. Auch würde ein Versuch, Kiew zu erobern, viel Blut und militärische Ressourcen kosten. Diese moderne Stadt mit ihren drei Millionen Einwohnern würde sich schon aus historischen Gründen mehrheitlich einer dauerhaften Herrschaft Moskaus widersetzen.
Sollte Putin mit derartigen Plänen erfolgreich sein – und sicher ist das ganz und gar nicht –, würde das auf eine Teilung der Ukraine hinauslaufen. Die Grenzen Russlands würden wieder weiter nach Westen verschoben.
Jahrzehntelang hat der Westen Russlands Sicherheitsinteressen einfach ignoriert
Damit wäre eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa geschaffen, nur würde dadurch Europa erneut auf lange Zeit durch einen Eisernen Vorhang geteilt. Für die Europäische Union wäre eine derartige Entwicklung eine Katastrophe. Nicht nur, dass Europas Wirtschaft von erneuten und härteren Sanktionen gegen Russland selbst schwer getroffen werden wird, auch könnte Europa so von Gas und Rohstofflieferungen aus Russland und Zentralasien sowie von der Landbrücke zu den lukrativen Märkten in Asien abgeschnitten werden. Europa müsste sich wieder allein nach Westen hin ausrichten. Nur ist heute der wirtschaftliche Motor, der auch Europas Wirtschaft treibt, nicht so sehr in den USA, sondern zunehmend in China, Indien, Indonesien und in den Ländern Südostasiens zu finden.
Sollte Putins Plan nicht aufgehen, könnten die Gefahren für Europa noch schlimmer sein. Die Ukraine könnte in einem jahrelangen Krieg mit Russland und in bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen pro-westlichen und pro-russischen Milizen versinken. Da alle Seiten Zugang zu den modernsten Waffensystemen haben werden, könnte dieser Konflikt die Ukraine völlig zerstören. Immerhin ist die Ukraine das zweitgrößte Land Europas und ein Chaos dort würde unweigerlich auch auf den Rest Europas übergreifen.
Im Falle eines hingezogen Krieges, der nicht mehr gewonnen werden kann, könnte sich auch erhöhter Widerstand innerhalb Russlands formieren. Aber der Westen sollte nicht darauf hoffen, durch ein Abtreten Putins zu einer freundlicheren Politik zu kommen. Die Alternativen zu Putin wären die hartgesottene Kommunistische Partei, gefolgt von einer rechtsradikal-nationalistischen Liberalen Partei. Auch ein Nawalny, der im Westen hochgepriesenen wird, kommt aus dieser rechtsradikalen nationalistischen Szene. Russland hat die zweitgrößten Bestände an Nuklearwaffen in der Welt und trotz aller Abneigung bleibt Putin der beste Garant für Stabilität. Im eigenen Sicherheitsinteresse sollte ein Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Russland nicht angestrebt werden.
Auch in den letzten Monaten gab es Möglichkeiten, auf Russland zuzugehen.
Mit diesem Krieg ist Putin ein enormes Risiko eingegangen. Das kann nur dadurch erklärt werden, dass nicht nur Putin, sondern auch ein Großteil der russischen Bevölkerung sich vom Westen zutiefst verletzt fühlt. Über Jahrzehnte hat der Westen Russlands Sicherheitsinteressen einfach ignoriert, es mit Sanktionen und Drohungen konfrontiert und das Land mit einem erschreckenden Hochmut und Arroganz behandelt.
Bei dieser Verletzung spielt sicherlich auch eine Rolle, dass Russland am Ende des Kalten Krieges auf Grenzen zurückgedrängt wurde, die denen ähneln, die ihnen einst in Brest-Litowsk von deutschem und österreichischem Militär am Ende des Ersten Weltkrieges aufgezwungen wurden. Bei den Versailler Verhandlungen wurde der Frieden von Brest-Litowsk von den westlichen Alliierten noch als Raubfrieden bezeichnet und für nichtig erklärt. Heute beharren die gleichen westlichen Staaten darauf, dass diese Brest-Litowsk-Grenze unverrückbar sei.
Natürlich haben die neu entstandenen Staaten heute ihre volle Existenzberechtigung und Anspruch auf territoriale Sicherheit. Nur hätte der Westen besser getan, auf Russland zuzugehen und es mehr in europäische Sicherheitsstruktur einzubeziehen, anstatt noch zusätzlich auf eine Ausweitung der Nato bis an die Grenze Russlands, auf die Aufstellung von Raketenabwehranlagen in der Nachbarschaft Russlands und damit auf eine von Russland empfundene Einkreisung zu bestehen. Putin hat mehrmals versucht, eine Einigung mit dem Westen darüber zu erreichen. Noch am 22. Juni 2021 hatte Putin in der Zeit Vorschläge dazu gemacht. In der Reaktion darauf wurden diese in der gleichen Zeit-Ausgabe kurzerhand als Gift abgetan. Auch in den letzten Monaten gab es wiederholt Möglichkeiten, auf Russland zuzugehen.
So findet sich der Westen nun in einer wesentlich gefährlicheren Situation wieder
Hätte der Westen Russlands Sicherheitsinteressen etwas ernster genommen, wären Lösungen vielleicht gar nicht so schwer gewesen. Der eigentliche Kern der russischen Forderungen ist doch völlig verständlich; gerade die USA sollten aus eigner Erfahrung Russlands Sorgen verstehen können. Inzwischen ist dieser Konflikt völlig aus dem Ruder gelaufen und die Geister, die wir gerufen haben, werden wir nicht mehr so leicht in die Flasche zurückbringen können. So findet sich der Westen nun in einer wesentlich schlechteren und gefährlicheren Situation wieder. Auch wenn wir Putin als Kriegsverbrecher verrufen, so könnte am Ende der Westen als der Verlierer dastehen. Vor allem die Europäische Union hat hier katastrophal versagt. Das wird uns Europäern noch teuer zu stehen kommen.
Es wäre vielleicht an der Zeit, mit dem lauten Kriegsgeschrei aufzuhören und ein wenig ruhiger darüber nachzudenken, wie diese Situation noch zu einem Besseren gewendet werden könnte. Dabei könnten wir auf die Ratschläge Henry Kissingers zurückgreifen,
Michael von der Schulenburg
Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen. - Der Autor ist ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen und hat in vielen Konfliktregionen der Erde gearbeitet; unter anderem in Langzeitmissionen in Afghanistan, Haiti, Pakistan, Iran, Irak und Sierra Leone, aber auch in Syrien, Somalia, Zentralasien, auf dem Balkan und in der Sahel-Region. 2017 erschien von ihm „On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations” (Amsterdam University Press).