Ruth Westheimer: Die Sex-Expertin
"Ich habe Sie bisher sehr oft Penis sagen hören. Ich werde dafür sorgen, dass Sie jetzt mal Vagina und Klitoris sagen!“ Mit Sätzen wie diesen sorgte Ruth Westheimer in unzähligen Talkshows für, nun ja, Erregung. Denn als die nur 1,45 Meter kleine Frau Anfang der 1980er Jahre antrat, Amerikas größte Sexualtherapeutin zu werden, „sprachen die Leute nicht über Sexualität. Es gab eine Liste von Wörtern, die man im Fernsehen nicht sagen durfte. Ich sagte sie trotzdem“.
Vor allem aber stellte „Dr. Ruth“ die weibliche Lust in den Fokus und erklärte der errötenden Nation vor laufender Kamera äußerst präzise, wie diese zu erzeugen sei. Zum Beispiel so: „Führen Sie Ihren Penis von hinten in die Vagina ein, damit Sie oder Ihre Frau gleichzeitig die Klitoris stimulieren können.“ Und wenn diese kleine Lady im pinken Glitzerkleid mit Betonfrisur und Perlenkette das mit strahlendem Lächeln so sagte, musste an der Sache mit der Klitoris ja wohl was dran sein.
Mehrfach stand „Dr. Ruth“ wegen ihrer im besten Sinne schamlosen Vorhaltungen mitten in einem ihrer Vorträge kurz vor der Verhaftung, aber „ich habe nie Kompromisse gemacht“, sagt sie stolz. In ihrem 92-jährigen Leben hatte Ruth in der Tat schon Schlimmeres erlebt als einen puritanischen Polizisten.
Geboren wird Ruth Westheimer 1928 als Karola Siegel in Wiesenfeld bei Frankfurt. Kurz nach der Reichspogromnacht schicken die Eltern, aktive Mitglieder der jüdischen Gemeinde, ihre zehnjährige Tochter mit einem Kindertransport in ein Schweizer Kinderheim. „Wir waren dort Kinder zweiter Klasse“, erinnert sie sich. „Wir mussten den anderen Kindern das Frühstück machen und ihnen die Schuhe putzen.“
Sehr bald bleiben die Briefe der Eltern und der geliebten Großmutter aus. Viele Jahre später wird Ruth in der Holocaust-Gedankstätte Yad Vashem herausfinden,dass Vater Julius 1942 in Auschwitz ermordet wurde, Mutter Irma gilt als „verschollen“. Nach Kriegsende wird die 17-Jährige nach Palästina verschifft. Karola, die jetzt ihren zweiten Namen Ruth angenommen hat, lebt in einem Kibbuz und lässt sich im Unabhängigkeitskrieg zur Scharfschützin ausbilden. „Ich habe glücklicherweise nie jemanden erschossen, aber ich könnte noch heute in die Mitte einer Zielscheibe treffen.“ Einen Bombenabwurf auf ihr Mädchen-Wohnheim überlebt sie nur knapp.
Mit ihrem ersten Mann geht Ruth nach Paris, wo sie an der Sorbonne Psychologie studiert und später lehrt. Mit Mann Nummer zwei und Kind Nummer eins, Tochter Miriam, wandert sie 1956 nach Amerika aus. Dort trennt sie sich und wird lieber alleinerziehende Mutter als sich „mit einem Mann zu langweilen“.
Mit Mann Nummer drei, Fred Westheimer, den sie 1961 ehelicht, wird sie bis zu seinem Tod 1997 glücklich verheiratet bleiben. Mit ihm bekommt sie Sohn Joel. Ruth arbeitet bei der Familienberatung „Planned Parenthood“ in Harlem und forscht bei der Pionierin der Sexualtherapie, Helen Singer Kaplan. 1980 startet sie ihre legendäre Radiosendung „Sexually Speaking“. Fortan klärt „Dr. Ruth“ mit beherzter Offenheit, entwaffnendem Witz und hammerhartem Akzent das oft schockierte, aber wissbegierige Publikum auf, spricht selbstverständlich über Homosexualität und das Recht auf Abtreibung. Dr. Ruth Westheimer wird Kult – und ist es bis heute.
Zu ihrem 90. Geburtstag brachte die New York Times ein Interview auf Seite 1, Gloria Steinem gratulierte der bekennenden Feministin ebenso wie Obama. Jetzt erzählt eine Dokumentation Westheimers bewegte und bewegende Lebensgeschichte. Kichernd sehen wir Dr. Ruth durch ihre New Yorker Wohnung wuseln. Sie verabredet sich jeden Abend, hält Vorträge in Princeton und Harvard, gibt Tipps auf Twitter. Von Ermüdung keine Spur. Selbst aus ihrer Winzigkeit macht die kleine große Dr. Ruth einen Ratschlag in Sachen Sex: „Size doesn’t matter!“