Es gibt viele Sandra Blands!

© AAPF/ Mia Fermindoza
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Alle Welt kennt Trayvon Martin, der in Florida von einem Nachbarn auf „Patrouille“ erschossen wurde; Michael Brown, der, ebenfalls unbewaffnet, in Ferguson von einem Polizisten auf Streife erschossen wurde und dessen Tod gewaltige Proteste auslöste. Oder Eric Garner, der von einem Polizisten derart in den Schwitzkasten genommen wurde, dass der Asthmakranke erstickte.

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Dass die Welt nun auch den Namen von Sandra Bland kennt, könnte einer Kampagne zu verdanken sein, die nicht länger hinnehmen wollte, dass die schwarzen Frauen, die in den USA Opfer rassistischer Polizeigewalt wurden, in der Regel weder für die schwarze Community noch für die Medien ein Thema sind. Der Tod der 28-jährigen Bland, die mit einer Mülltüte stranguliert in einem texanischen Gefängnis gefunden wurde, macht Schlagzeilen und wird heftig diskutiert. Sicher auch deshalb ermittelt die Staatsanwaltschaft jetzt wegen Mordes.

Der Polizist bedroht Sandra Bland: Ich zünde dich an!

Was hatte Sandra Bland sich zuschulden kommen lassen? Sie war in ihrem Auto aus ihrer Heimatstadt Chicago auf einem texanischen Highway unterwegs zu ihrem neuen Arbeitgeber gewesen: der Prairie View A&M Universität, an der sie auch studiert hatte. Als hinter ihr ein Polizeiauto auftaucht, wechselt sie auf die rechte Spur und setzt dabei den Blinker nicht. Ein Polizei-Video zeigt, was dann passiert. Der Polizist fordert Sandra auf, ihre Zigarette auszumachen. Die antwortet, dass sie in ihrem Auto sehr wohl rauchen könne. Der Polizist fordert die Frau auf, auszusteigen. Sie sagt: „Dazu haben Sie kein Recht.“ Daraufhin bedroht der Polizist sie mit einem Elektroschockgerät und den Worten „I’ll light you up!“ – Ich zünde dich an! Bland steigt aus dem Auto und wird dann aus dem Sichtfeld der Kamera geführt. Der Rest ist verzweifeltes Schreien. Das Video ist augenscheinlich manipuliert, einige Sequenzen wiederholen sich.

Drei Tage später wird Bland tot in ihrer Zelle gefunden. Sie habe sich erhängt, heißt es. Die inzwischen veröffentlichten Unterlagen der Polizei sind völlig widersprüchlich. Mal heißt es dort, Bland habe unter Epilepsie gelitten (was ihre Angehörigen bestreiten), mal wird keinerlei Erkrankung erwähnt; mal heißt es, Bland sei suizidal gewesen, mal wird nichts dergleichen erwähnt. 

„Female black lives matter too!“ – Frauenleben zählen auch! lautet der Leitspruch von #SayHerName. Eine Reaktion auf die Bewegung „Black Live Matters“, die sich nach dem Tod von Martin, Brown, Garner und weiteren schwarzen Männern und Jungen gegründet hatte, denn die Justiz hatte die Täter entweder freigesprochen oder gar nicht erst verfolgt. In Ferguson hatten zeitweise bürgerkriegsartige Zustände geherrscht.

Die Polizisten knallten Tanisha mit dem Kopf auf das Steinpflaster

Aber es sterben eben nicht nur schwarze Jungen und Männer in diesem Land, in dem die Polizei ein halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtsbewegung immer noch von Rassismus durchdrungen ist. Allein in diesem Jahr, belegt #SayHerName, sind 22 schwarze Frauen durch die Hand von Polizisten umgekommen. Zum Beispiel Tanisha Anderson aus Cleveland. Die 37-Jährige litt an einer bipolaren Störung, ihre Familie hatte an diesem Abend den Krankenwagen gerufen, weil die verwirrte Tanisha im Nachthemd das Haus verlassen wollte. Statt der Sanitäter kamen Polizisten, die Tanisha Handschellen anlegten und mit dem Kopf auf das Steinpflaster knallten. Sie starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Am 28. Mai stand Tanishas Mutter Cassandra Johnson auf einer Bühne auf dem Union Square in Manhattan und sprach vor 200 Menschen vom gewaltsamen Tod ihrer Tochter. Im ganzen Land, von New York bis San Francisco, waren Tausende Frauen und Männer dem Aufruf von #SayHerName zum nationalen Protesttag gefolgt und hielten Fotos der toten Frauen hoch. Einige Frauen protestierten, ganz wie die Femen, mit nackten Oberkörpern. Argument: „Wir leben in einem Land, das schwarze Frauen und ihre Körper sexualisiert und zur konsumierbaren Ware erklärt, aber den Tod schwarzer Frauen und Mädchen ignoriert“, erklärte Aktivistin Chinyere Tutashinda.

Tarika wurde erschossen, als die Polizei ihren Freund suchte

Die Kampagne hat Folgen. Gerade wurde auf Initiative des „African American Policy Forum“ ein Report veröffentlicht, der die Geschichten schwarzer Frauen erzählt, die durch die Polizei gewaltsam zu Tode gekommen sind. Titel: „#SayHerName: Resisting Police Brutality Against Women“. Resultat: Schwarze Frauen sterben in Polizeigewahrsam, zum Beispiel als Prostituierte, oder, wie jetzt, Sandra Bland. Sie sterben als Kriminelle oder als „Kollateralschaden“ bei Razzien. Wie die siebenjährige Aiyana Stanley-Jones aus Detroit, die bei einer Wohnungsdurchsuchung erschossen wurde. Oder die 26-jährige Tarika Wilson aus Ohio, die erschossen wurde, als die Polizei auf der Suche nach ihrem Freund war. Oder sie sterben, weil ihnen die notwendige medizinische Versorgung verweigert wird, wie Kyam Livingstone, die in der New Yorker Untersuchungshaft sieben Stunden um ärztliche Hilfe bat - bis es zu spät war.       

Ihre Namen sind jetzt endlich bekannt. Nach der Ermordung von Trayvon Martin hatte Präsident Obama eine ergreifende Rede gehalten und erklärt: „Wenn ich einen Sohn hätte, hätte er ausgesehen wie Trayvon Martin.“ Vielleicht spricht der Vater zweier Töchter demnächst ja auch einmal über Sandra Bland, Tanisha Anderson und all die anderen.

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Alice Schwarzer schreibt

"Das hätte ich sein können!"

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Denn einen Weißen hätte der selbsternannte Bürgerwehrler wohl nicht so rasch in Verdacht gehabt, ein Übeltäter zu sein. Der amerikanische Präsident erinnerte daran, dass ein Gerichtsurteil in einem Rechtsstaat akzeptiert werden müsse – auch wenn der Freispruch noch so fragwürdig sei. Aber er stellte sich dennoch auf die Seite des Opfers sowie der Zehntausenden von Protestierenden, die über dieses Urteil empört sind.

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Obama ist nicht allein mit seiner Empathie und seiner Identifikation mit dem Opfer. Denn das Opfer ist männlich. Und es ist schwarz.

Und wäre es eine weiße Frau gewesen? In Deutschland zum Beispiel? Eine Frau, die vergewaltigt wurde oder gar Opfer eines Sexualmordes – und deren Täter mit einem fragwürdigen Urteil freigesprochen wird? Hätte da jemand protestiert? Nein. Das vermute ich nicht. Das weiß ich aus der Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte. In der Zeit wurden Gattenmörder, Vergewaltiger und Sexualmörder reihenweise entweder schlankweg freigesprochen („mangels Beweisen“) oder bekamen grotesk niedrige Strafen, manchmal sogar gleich auf Bewährung („verletzte Männerehre“). Über diese Prozesse hat bestenfalls EMMA berichtet, aber selbst wir kamen und kommen keineswegs immer nach. Es sind zu viele. Und es sind zu wenige, die erkennen, was da passiert und dagegen protestieren. Nicht eine Frau oder auch Feministin in Deutschland ist seit dem Ihns/Andersen-Prozess 1974 wegen einer sexistischen Prozessführung oder eines fragwürdigen Urteils auf die Straße gegangen.

Oder wäre es vorstellbar, dass zum Beispiel die Bundeskanzlerin einen solchen Freispruch kommentiert – und gar den großen Satz sagt: „Das hätte ich sein können“? Nein. Das ist ganz und gar undenkbar. Eine Frau, die es geschafft hat, muss schon Feministin sein, um öffentlich zuzugeben, dass sie zu derselben Sorte Mensch gehört. Zu der Sorte, die vergewaltigt oder aus Frauenhass ermordet werden kann. Egal wie hoch wir auf der sozialen Leiter gekommen sind: Unser Geschlecht kann uns jederzeit wieder runterholen.

Und damit wären wir bei dem Kernproblem der Frauen: der mangelnden Solidarität. Frauen beziehen sich traditionell nicht auf andere Frauen, starke Frauen schon gar nicht. Die versuchen in der Regel, möglichst rasch zu vergessen, dass auch sie trotzalledem „nur“ eine Frau sind. Und schwache Frauen? Die haben schon selber genug Probleme, die können nicht auch noch die Kraft aufbringen, sich um die Opfer zu kümmern.

Weiße Männer identifizieren sich mit Männern. Klar. Männer sind stolz auf andere Männer. Männer haben Mitgefühl mit anderen Männern. Und schwarze Männer? Die haben sich, Seite an Seite mit den schwarzen Frauen, aus der Sklaverei befreit und kämpfen seither um Gleichberechtigung. Einige sind dabei sehr weit gekommen, so wie Barack Obama. Aber – sie haben dennoch nicht vergessen, dass sie schwarz sind. Sie beziehen sich auf andere Schwarze – ohne sich im Schwarzsein einzuschließen. Obama ist nicht nur das Kind eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter, sondern er ist auch der Präsident aller AmerikanerInnen, egal welche Hautfarbe sie haben. Aber er ist schwarz. Das hat er nicht vergessen.

Und wir Frauen? Könnten wir nicht endlich anfangen, das auch zu lernen?!

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