Ich weiß sogar noch die Uhrzeit“, sagt Gaby Wittig. Es war genau 14.05 Uhr, als die Hiobsbotschaft eintraf. Ihr Handy klingelte, am anderen Ende war ihr aufgeregter Bezirksleiter und fragte: „Haben Sie was gehört? Wir sollen insolvent sein!“ Nein, die Betriebsrätin wusste von nichts. „Macht ma den Fernseher an!“ rief sie ihren Eltern zu, bei denen sie an diesem Freitagnachmittag, den 20. Januar, zu Besuch war. „Und da lief es bei n-tv über den Ticker.“ Gaby Wittig, seit 31 Jahren Mitarbeiterin bei Schlecker, fiel in eine Art „Schockstarre“.
Die währte allerdings nur kurz, denn nun klingelte das Handy der Betriebsrätin im Sekundentakt. Kolleginnen, die es im Fernsehen gesehen hatten. Kolleginnen, die es von Kunden gehört hatten, die es im Fernsehen gesehen hatten. Kolleginnen, die es von Kolleginnen gehört hatten. Alle wollten von Gaby Wittig wissen, was los ist. „Und ich dachte: Was mach ich denn jetzt?“
Wittig schickte ein Fax an alle Dortmunder Filialen: „Es hat uns kalt erwischt.“ Erst am sehr späten Nachmittag kam dann ein Fax aus der Unternehmenszentrale in Ehingen, das bestätigte, was die Nachrichtensprecher seit Stunden verkündeten: die Insolvenz von Europas größter Drogeriekette.
Inzwischen steht fest, wie viele Arbeitsplätze die Pleite vernichten wird: 11500. Als sie die Zahl nach Wochen der Ungewissheit zum ersten Mal gehört hat, hat sich Gaby Wittig erschreckt. Aber begriffen hat sie erst, als ihr die langen Listen mit den Namen ihrer Kolleginnen vorgelegt wurden. „Da ist mir das Herz in die Hose gerutscht.“
Es ist eine der größten Massenentlassungen in der deutschen Geschichte. Und es sind fast ausschließlich Frauenarbeitsplätze. Männer finden sich bei Schlecker, wie überhaupt im Einzelhandel, quasi nur in den höheren Hierarchie-Ebenen. Unter den 105 MitarbeiterInnen in Gaby Wittigs Dortmunder Bezirk ist nur der Bezirksleiter männlich. Für 1410 Euro – das ist der Netto-Tariflohn einer Verkäuferin ab dem 6. Berufsjahr für eine Vollzeitstelle – geben sich eben nur sehr wenige Männer die Ehre.
Nach den jetzigen Verträgen läge eine Abfindung maximal beim zweieinhalbfachen Bruttogehalt, also 5350 Euro. „Das ist natürlich ein Witz“, sagt die Betriebsrätin. Sie hat sich mal umgehört und die Chancen für ältere Verkäuferinnen sondiert. „Nehmen wir zum Beispiel mal mich: Meine Chancen stehen mit 52 so gut wie null.“
Gaby Wittig hatte bis zum 20. Januar wirklich keinen blassen Schimmer von der drohenden Gefahr. Natürlich wusste sie um den Imageverlust der Kette, spätestens seit Schlecker im Frühjahr 2009 Tausende Verkäuferinnen entlassen hatte und sie über eine Zeitarbeitsfirma für die Hälfte des Geldes wieder einstellte. Selbstverständlich kannte sie den schlechten Ruf des Milliardärs Anton Schlecker als schwäbischer Sparfuchs, dessen Geiz die Modernisierung der verstaubten Filialen verhinderte. Und sie sah die Glitzerfußböden und die Bio-Tortellini in den dm-Märkten und die Talkshows, in denen dm-Gründer Götz Werner den Sozialmenschen gab und für ein bedingungsloses Grundeinkommen stritt. Aber selbst, als vor einem Jahr immer wieder Lieferungen ausblieben und die Lücken in den Regalen immer größer wurden, wäre sie nicht darauf gekommen.
Gaby Wittig ist kein naiver Mensch. Sie ist 52, von robuster Statur, und hat trotz früher Mutterschaft und krankem Ehemann immer ihr eigenes Geld verdient. Sie war als Bezirksleitung für 28 Läden zuständig und hat als Betriebsrätin noch im Juni 2011 in Dortmund einen beeindruckenden Streik für mehr Lohn organisiert. Dennoch: „Ich hätte nie mit einer Insolvenz gerechnet, weil Schlecker ja eingetragener Kaufmann ist und deshalb mit seinem Privatvermögen haftet.“ Dass der Metzgermeister, der 1974 seinen ersten Drogeriemarkt eröffnete und daraus innerhalb von 30 Jahren ein Imperium von 14000 Filialen mit 50000 Mitarbeiterinnen aufbaute, dieses Vermögen in den Sand setzen könnte, das war für Verkäuferin Wittig schlicht nicht vorstellbar.
In ihrem Büro im Dortmunder Ver.di-Haus am Königswall, das sich die Betriebsrätin mit einer Kollegin teilt, dudelt ein Kofferradio auf der Fensterbank, daneben bröddelt eine winzige Kaffeemaschine. In Gaby Wittigs Büro, das eigentlich in einer Schlecker-Filiale beherbergt war, hatte es durchs Dach geregnet. Als auch noch die Heizung ausfiel, gewährten die Ver.di-KollegInnen Asyl.
Trotzdem: Wer mit einem wütenden Schimpfschwall gegen den knickerigen Firmengründer gerechnet hatte, ist bei Gaby Wittig an der falschen Adresse. Ihre Kritik kommt wohldosiert. „Klar war man neidisch auf die Mitbewerber und hätte gern mal ein schickeres Regal im Laden gehabt“, sagt sie. „Er hätte in die Läden investieren müssen, anstatt immer neue Verkaufsstellen aufzumachen.“ Und die Sache mit der Zeitarbeitsfirma, „dat war ‘ne Sauerei!“ Sie machten so lange Randale, bis – mit Unterstützung von Arbeitsministerin von der Leyen – die Sauerei wieder von Tisch war. Es ist dem Kampf der Schleckerfrauen zu verdanken, dass im März 2011 das „Gesetz gegen den Missbrauch von Leiharbeit“, kurz: „Lex Schlecker“ verabschiedet wurde.
Aber, und da lässt Wittig nach über drei Jahrzehnten Schlecker nichts auf ihr Unternehmen kommen: „Wir wurden immer tariflich bezahlt und haben Weihnachts- und Urlaubsgeld bekommen.“ Auch als sie im Sommer 2002 den Betriebsrat gründete, weil eine Kollegin von der Bezirksleitung „sehr respektlos“ behandelt wurde, hat man ihr „keine großen Steine in den Weg gelegt“.
Gaby Wittig arbeitet gern bei Schlecker. Gerade weil die Läden klein, dafür aber an jeder Ecke sind, auch in schrebbeligen Vierteln. „Nahversorger“ heißt der Fachbegriff. Will heißen: „Zu uns kam die Omma zum Quatschen.“ Deshalb ist die Bergmannstochter Verkäuferin geworden und würde es jederzeit wieder werden. „Ich könnte nie stupide im Büro sitzen. Ich muss Kunden haben, ich muss Leuten helfen können! Das ‚Danke‘ des Kunden zählt mehr als alles andere.“ Keine Frage, Gaby Wittig ist mit Leib und Seele Verkäuferin. Und jetzt das. „Es ist eine bodenlose Enttäuschung!“ sagt sie. „Dat ist doch mein Leben, mein zweites Zuhause.“
Und nun kommt auch noch die Wut dazu. Für die Opel-Rettung rissen sich die Ministerpräsidenten Koch und Rüttgers ein Bein aus, und als die Autobranche schlappzumachen drohte, gab es staatliches Kurzarbeitergeld und die Abwrackprämie. „Aber bei uns hat die Politik zuerst keinen Finger gerührt. Es sind ja nur Frauenarbeitsplätze!“ Das ließen sich Wittig und ihre Kolleginnen nicht bieten. „Wir haben an jede Tür geklopft und sind auch gleich reingegangen“, sagt sie. Nach Wochen kamen schließlich die Landesregierungen in die Gänge und kündigten Bürgschaften für eine Transfergesellschaft an. Dieser sechsmonatige Lehrgang für 80 Prozent des Nettolohns zögert die Entlassung zwar auch nur hinaus, aber „wenigstens kann eine Kollegin, die sich seit 20 Jahren nicht mehr beworben hat, das mal wieder trainieren“.
Es ist nicht viel, aber besser als nichts. Jedenfalls konnte die Politik die Misere der Schlecker-Frauen nicht länger ignorieren. Und das ist schon ein kleiner Sieg, findet Gaby Wittig. „Wir sind doch keine Menschen zweiter Klasse!“
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