Schuld sind die Anderen

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Am 9. Oktober um 11.57 postet Stephan Balliet in dem inzwischen geschlossenen Internet-Forum meguca.org, was er vorhat. „Das könnte euch interessieren“, schreibt er. Eine Viertelstunde später zittern in der Synagoge der jüdischen Gemeinde Halle 70 Menschen um ihr Leben. Sie wollen Jom Kippur feiern, den Tag der Versöhnung. Jetzt sehen sie durch die Sicherheitskamera, wie ein junger Mann im Kampfanzug auf die verschlossene Holztür schießt und versucht, sie zu sprengen. Zehn unerträgliche Minuten lang. Wäre die Tür nicht so stabil gewesen, hätte der Attentäter in der Synagoge wohl ein Blutbad angerichtet. Juden müssen in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten. Das ist unendlich beschämend.

Der Mann, der das Massaker plante, ist ein Versager. Das sagt er von sich selbst, immer wieder. Unablässig beschimpft er sich in seinem 36-minütigen Livestream, mit dem er seinen Amoklauf in die Welt schickte, als Loser. „Verkackt“, sagt er, als es ihm nicht gelingt, in die Synagoge einzudringen. „Na ja, was willste erwarten von ner Niete? Nischt kann ich, Mann.“ Als die Polizei auftaucht, erklärt er: „And then I die. Like the loser I am.“ Später, nachdem er „nur“ zwei Menschen erschossen hat: „So guys, das war’s. I’m a complete loser.“ Und schließlich: „One time loser, always loser.“ Einmal Verlierer, immer Verlierer.
Stephan Balliet ist nach 1945 der Erste, der in Deutschland eine Synagoge mit einem Waffen­arsenal angegriffen hat. Aber er ist der Zigste in einer inzwischen erschreckend langen Reihe junger Männer, die ihr gekränktes männliches Ego mit einem Massenmord an jenen aufwerten wollen, die sie für schuldig an ihrer gefühlten Misere halten: die Juden, die Frauen, die Muslime – die Anderen.

Seine Vorgänger: Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel UtØya 77 junge Menschen erschoss, die in einem linken Ferienlager waren; Dylann Roof, der am 17. Juni 2015 in einer Kirche in Charleston, North Carolina, neun schwarze Menschen erschoss. Brenton Tarrant, der am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch 50 Muslime in einer Moschee erschoss. Sie sind nur drei von vielen, und sie alle eint: Sie sind Außenseiter, sie sind im realen Leben gescheitert, im Beruf wie bei den Frauen, und sie weichen deshalb in virtuelle Welten aus. In einschlägigen Foren finden sie, was sie suchen: Gleichgesinnte, die sie in ihrem Hass bestätigen. Verschwörungstheorien, wie die von der „jüdischen Weltverschwörung“ oder der angeblich geplanten „Umvolkung“. Und natürlich Frauen, die Männern in Pornos oder japanischen Mangas so zu Willen sind, wie es sich gehört. Plus: Unsäglich brutale Computerspiele, nach deren Vorbild sie ihre Massaker inszenieren.

Die Erzählung, die in diesen Jungmänner-Foren grassiert, geht so: Weil die Frauen in der westlichen Welt viel zu selbstbewusst geworden sind und zu viele Rechte haben, haben Männer wie sie keine Chance mehr auf den Sex, der ihnen qua Mannsein zusteht. Weil die Frauen außerdem alle berufstätig sein wollen, sinkt die Geburtenrate. Der virile muslimische Mann hingegen, der in seiner Familie noch das unangefochtene Oberhaupt ist, zeugt massenhaft Kinder und wird eines Tages die Herrschaft übernehmen, wenn ihm nicht von echten weißen Männern Einhalt geboten wird.

„Starke Männer werden nicht ethnisch ausgetauscht, starke Männer lassen ihr Volk nicht sterben“, schrieb Brenton Tarrant, der Attentäter von Christchurch, in seinem Pamphlet. „Schwache Männer haben uns in diese Lage gebracht und starke Männer werden jetzt gebraucht, um sie wieder in Ordnung zu bringen.“ Starke Männer, wie der frauenlose Arbeitersohn ohne Ausbildung wohl gern einer gewesen wäre. Tarrants Vision: eine Gesellschaft mit „starken Geburtenraten“ und „starken Geschlechternormen“.

Auch Anders Breivik hatte davon geträumt, das „Patriarchat wiederherzustellen“. Er wollte nicht nur die Welt vor der „muslimischen Invasion“ bewahren, sondern war auch ein erklärter Frauen- und Feministinnenhasser. Und ein krachend gescheiterter Mann, der mit 27 wieder bei seiner Mutter einzog und seine Tage und Nächte vor dem Computer verbrachte.

Bei einigen dieser Männer mischen sich Fremdenhass, Frauenhass und Judenhass zu einem mörderischen Gesamtpaket. Wie bei Stephan Balliet, der zu Beginn seines Videos hastig heraushaspelt, wer aus seiner Sicht schuld ist an der Misere, die seine eigene ist: Die Feministinnen! Die Muslime! Und allen voran: die Juden! Letztere waren für ihn, so seine Mutter, „die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen“.

Der 27-Jährige hatte mit 20 Drogen genommen, sein Chemiestudium abgebrochen und lebte seither arbeitslos bei seiner Mutter. „I’m a fucking neet“, beschimpft sich der Mann mit der hohen Stimme im Video. „Neet“ steht für „Not in Education, Employment or Training“. Viele Hänger in den einschlägigen Foren bezeichnen sich so. Auf welch verquere Weise sich Balliets Hass auf Juden mit seinem Hass auf Feministinnen verband, zeigt sein Manifest. Dort phantasiert er von einem unterwürfigen Manga-Mädchen im kurzen Rock, das es zu gewinnen gilt, „indem man mindestens einen Juden tötet“.

Nachdem er nicht in die Synagoge hatte eindringen können, tötete der Attentäter eine Frau. Die 40-jährige Jana P. kommt zufällig vorbei und beschwert sich über den Lärm. Er schießt ihr in den Rücken. Später kommt er noch einmal zurück, ballert mehrfach auf die längst tote Frau und beschimpft sie als „Schwein“.

Stephan Balliet soll auch in so genannten Incel-Foren unterwegs gewesen sein – und sein Video wurde dort geteilt. Bei den „Involuntary Celibates“, also den unfreiwillig Beziehungslosen, steht der Frauenhass im Mittelpunkt ihrer Gewalt- und Vernichtungsphantasien. Sie wollen sich das, was ihnen die Frauen vorenthalten, mit Gewalt holen, sich an den „verdammten Schlampen“ rächen. Und manchmal wird aus der Phantasie Realität.

Alek Minassian, der am 23. April 2018 in Toronto mit einem Transporter zehn Menschen totfuhr, und dabei gezielt Frauen ins Visier nahm, war bekennender Incel: „The Incel Rebellion has already begun!“ hatte er auf Facebook gepostet, bevor er seine Todesfahrt startete. Und er berief sich auf sein Vorbild Elliot Rodger, der drei Jahre zuvor in Santa Monica in einen „Krieg gegen Frauen“ gezogen war, weil diese ihm „Sex vorenthielten“. Rodger erstach seine drei Mit­bewohner, die Erfolg bei Frauen hatten, und erschoss anschließend drei College-Studentinnen.

Auch das ist Terrorismus. Terrorismus gegen Frauen. Diese Erkenntnis, die Emma nun seit Jahrzehnten benennt, scheint jetzt angekommen. Als einen „Dreiklang aus Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus“ bezeichnete die Ex-­Piratin Marina Weisband, die aus einer ukrainisch-jüdischen Familie stammt, in einer Talkshow das Hassgebräu, das sich in Foren wie 4chan oder 8chan zusammenbraut. Man sehe, „wie das auf diesen Plattformen in eine einzige ideologische Blase gegossen wird“. Der ARD-Terrorismus-Experte Elmar Theveßen bestätigt: „Diese Ideologie beinhaltet, dass es hier nicht nur gegen Juden geht, sondern gegen alle, die zu ‚Anderen‘ deklariert werden.“

Der Kern allen Hasses ist die Kränkung als Mann. „Der gekränkte Mann kann gefährlich werden“, hatte Alice Schwarzer 2016 in einer Analyse über den Zusammenhang zwischen Terrorismus und Amokläufen geschrieben. „Lebensgefährlich.“

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Antisemitismus. Rassismus. Sexismus.

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Als erstes flucht Stephan B. über sein eigenes Scheitern. „Ja, natürlich haste kein Netz!“ nöhlt er, als er Probleme hat, seinen Livestream einzurichten. Dann brüllt er raus, wer schuld am schlimmen Zustand der Welt ist: Der Jude! Die Masseneinwanderung! Der Feminismus!

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Der halbstündige Stream zeigt: Der 27-Jährige aus Sachsen-Anhalt, der noch bei seiner Mutter lebte, entspricht offenbar genau dem Typus Attentäter, der in letzter Zeit schon so oft sein Unwesen getrieben hat: Ein junger Mann, der sich als Loser fühlt. Er projiziert seinen Selbsthass auf die „anderen“. Er ist anfällig für radikale Ideologien. Denksysteme, die ihm erklären, wie er sein gekränktes, männliches Ego aufwerten kann. Erhöhung des Selbst durch Erniedrigung der anderen. Diese „Anderen“ sind bei Stephan P. Juden, Muslime und Frauen. Dabei ist Frauenhass quasi immer Teil des Hass-Gesamtpakets, denn im Kern steht bei diesem Typus Täter die gefühlte Entwertung als Mann.

Brenton Tarrant: Starke Männer werden nicht ethnisch ausgetauscht

Marina Weisband beschrieb es bei Maybrit Illner als „Dreiklang aus Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus“. Man sehe, erklärt die jüdische Ex-Piratin, „wie das auf diesen Plattformen in eine einzige ideologische Blase gegossen wird“. Gemeint sind rechtsextreme Plattformen wie 8chan, in denen auch Stephan B. unterwegs war. Elmar Theveßen stimmt Weisband zu: „Diese Ideologie beinhaltet, dass es hier nicht nur gegen Juden geht, sondern gegen alle, die zu ‚Anderen‘ deklariert werden“, erklärt der ARD-Terrorismus-Experte. Diese „Anderen“ könnten Muslime sein, Menschen mit abweichender Meinung oder Feministinnen.

Die Welt macht darauf aufmerksam, dass das Manifest des Täters in Foren der sogenannten „Incel“-Bewegung verbreitet wurde. Diese „involuntary celibataires“, die unfreiwillig Beziehungslosen, geben Frauen, die ihrer Ansicht nach zu selbstbewusst geworden sind, die Schuld an ihrem Single-Dasein. In ihren Foren ergießen sie sich in Hasstiraden auf den Feminismus. Einer von ihnen war der Attentäter, der im April 2018 in Toronto mit einem Transporter in eine Menschenmenge fuhr und zehn Menschen tötete. Stephan B., der Attentäter von Halle, spielte in seinem Video denselben Song ab, den auch der Toronto-Attentäter auf seiner Todesfahrt hörte.

Es gebe in der Szene „einen massiven Hass auf Menschen, die für die Gleichberechtigung der Geschlechter eintreten“, erklärt Daniel Köhler, Direktor des GIRDS-Forschungsinstituts für Deradikalisierung, auf die Frage der Welt nach der „Frauenfeindlichkeit in dieser Community“.

„Einmal Verlierer, immer Verlierer“ fluchte Stephan B., nachdem es ihm nicht gelungen war, in die Synagoge einzudringen.
Der Attentäter von Halle erfüllt das klassische Täter-Muster.

So war es auch bei Brenton Tarrant, dem Attentäter von Christchurch, der am 15. März dieses Jahres eine Moschee stürmte und 50 Menschen erschoss. Auch Tarrant, der seine Tat ebenfalls per Livestream übertragen hatte, hatte sich in rechten Foren radikalisiert und in seinem Manifest eine krude Mischung aus Fremden- und Frauenhass verkündet.

„Starke Männer werden nicht ethnisch ausgetauscht, starke Männer lassen ihre Kultur nicht untergehen, starke Männer lassen ihr Volk nicht sterben“, schrieb Tarrant. „Schwache Männer haben uns in diese Lage gebracht und starke Männer werden jetzt gebraucht, um sie wieder in Ordnung zu bringen”. So ein starker Mann wäre Brenton Tarrant, der frauenlose Arbeitersohn ohne Ausbildung, gern gewesen. Seine Vision: Eine Gesellschaft mit „starken Geburtenraten“ und „starken Geschlechternormen“.

Der gekränkte Mann kann gefährlich werden. Lebensgefährlich.

Auch Anders Breivik hatte davon geträumt, das „Patriarchat wiederherzustellen“. Der Mann, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen erschoss, wollte nicht nur die Welt vor der „islamischen Invasion“ bewahren. Er war ein erklärter Frauen- und Feministinnenhasser. Und ein krachend gescheiterter Mann, der mit 27 wieder bei seiner Mutter einzog.

Auch bei den islamistischen Attentätern ist der pathologische Frauenhass unverzichtbarer Teil ihrer menschenverachtenden Ideologie, ganz wie der Judenhass. Der Mann, der am Nachmittag des 7. Oktober in Limburg mit einem gestohlenen LKW in eine Autoschlange fuhr, war polizeibekannt. Seine Vergehen: Körperverletzung, Drogendelikte, Diebstahl und – sexuelle Belästigung.

Kurz vor dem Aufprall habe der Mann „Allah, Allah“ gerufen, berichten Zeugen. Doch die Polizei erklärt, es handle sich nicht um einen Terrorakt, sondern um die Tat eines „verwirrten Einzeltäters“. Es mag sein, dass der Attentäter von Limburg allein loszog, um Menschen zu töten. Wie womöglich auch Stephan P. in Halle. Doch in Wahrheit haben beide Hunderttausende Komplizen.

„Einmal Verlierer, immer Verlierer“ fluchte Stephan B., nachdem es ihm nicht gelungen war, in die Synagoge einzudringen. Er hatte vergeblich versucht, die verschlossene Tür der Synagoge aufzuschießen – drinnen zitterten 70 gläubige Juden, die an diesem Tag Jom Kippur feiern wollten, das Fest der Versöhnung. Juden müssen also in Deutschland wieder um ihr Leben fürchten. Es ist unendlich beschämend.

Kurz bevor er sich mal wieder als Loser abgekanzelt hatte, hatte Stephan B. einer Frau, die zufällig an der Synagoge vorbeigekommen war und sich über den Lärm beschwert hatte, in den Rücken geschossen. Anschließend ballert er noch mehrfach auf die am Boden liegende, vermutlich schon tote Frau.

„Der gekränkte Mann kann gefährlich werden“, hatte Alice Schwarzer in einer Analyse über den Zusammenhang zwischen Terrorismus und Amokläufen geschrieben. „Lebensgefährlich.“

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