Was ist ein richtiger Junge?
Anti-Macho-Kurse gibt es neuerdings zwischen Rhein und Ruhr. EMMA-Redakteurin Chantal Louis hat mit den Machos geredet: mit Patrick, Cengiz und Ugur.
Was ein richtiger Junge ist? Da muss Patrick nicht lang überlegen. "Einer, der vögeln kann!", sagt er und verzieht seine Pausbacken zu einem schiefen Grinsen. Sonst noch was? "Gut Fußballspielen muss er auch können!" Aha. Und warum? "Weil die guten Fußballer alle reich sind, und dann können die geile Weiber kriegen!"
Tja, so ist das mit dem Fußball und den Weibern, das können Ugur und Cengiz, beide 14 wie ihr Kumpel mit den gegelten Igelstoppeln, voll bestätigen. Alex lächelt verlegen und sagt nichts, wie meistens. Und Marc mit dem klugen Gesicht und der dicken Nickelbrille, der lieber zu Hause vorm Computer sitzt als im Tor steht, gilt in Sachen Fußball als nicht kompetent und folglich auch nicht in Sachen Weiber. Ob er ein richtiger Junge ist, wird in dieser Runde stark bezweifelt. Das macht ihm schon was aus, auch wenn er sich bemüht, drüberzustehen über dem dumpfen Wettpinkel-Wahn seiner Klassenkameraden.
Ein richtiger Junge sein ist manchmal allerdings auch verdammt stressig. Zum Beispiel, wenn Ugur mit anderen richtigen Jungs Fußball spielt und mal nicht so spät nach Hause will. "Dann sagen die: Na, gehst du schon rein zu deiner Mama, Milch trinken?" Ugur weiß, dass er, wenn er seinen Ruf retten will, dann besser draußen bleibt.
Oder wenn man vor den Mädchen "prahlen und angeben muss", wie Patrick sicher weiß, obwohl mann sich gar nicht so toll fühlt wie mann protzt. Oder wenn einem der Klassenkollege blöd kommt und man sich prügeln muss. "Das muss man", erklärt der sehr kleine, sehr schmale Cengiz, "weil das irgendwie mit dem Stolz und mit der Ehre zusammenhängt. Das ist für einen Jungen total wichtig." Ob Stolz und Ehre für ein Mädchen wichtig sind, weiß er auch nicht so genau. Ein Junge jedenfalls, der nicht zuschlägt, gerät sofort in Weichei-Verdacht. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann. So schlimm, dass man "Angst hat, dass man Freunde verliert."
Das alles haben die fünf Achtklässler herausgefunden, seit sie sich einmal die Woche treffen und zusammen mit Peter Schott über das Jungesein reden. Das tun sie seit einem halben Jahr. Damals hatte Marc den Schul-Pädagogen Schott um Hilfe gebeten, als er ständig von einem rabiaten Klassenschläger verprügelt wurde. Der Pädagoge holte ein paar ebenfalls Bedrohte dazu, und als die fünf die wohltuende Wirkung des Redens einmal erkannt hatten, wollten sie nicht wieder damit aufhören. Seither tagt die Kleine-Männer-Gruppe jeden Dienstag in der fünften Stunde. Und diskutiert, warum "wir Jungen Konflikte irgendwie nicht so gut mit Worten regeln können". Manchmal gehen sie auch ins Kino oder sitzen männermäßig am Lagerfeuer, weil "nur Labern eigentlich uncool ist". Nur Labern, das machen Mädchen. Richtige Jungs grillen Würstchen.
Weil an der Gesamtschule Köln-Rodenkirchen die Mädchen immer öfter über Bedrohungen klagten und Prügeleien zwischen den Jungen an der Tagesordnung waren, gibt es dort seit einem Jahr Peter Schott, den Jungenarbeiter, und seine Kollegin Mechthild Hammelrath, die Mädchenarbeiterin. Zunächst sollte nur eine Anlaufstelle für die Mädchen geschaffen werden. Deren Notwendigkeit bezweifelte kaum jemand an der Schule, denn die Mädchen sind bekanntermaßen die Hauptopfer der Jungengewalt.
Das Wort "Jungenarbeit" für die Haupttäter aber existierte erst gar nicht im Stellenplan. Ein paar couragierte Lehrerinnen, darunter Co-Schulleiterin Eva Glattfeld, wollten aber auch die Jungmachos in die Pflicht nehmen – und holten mit ein bisschen Schummelei bei der Stellenbeschreibung den erfahrenen Jungen-Pädagogen Schott an die Schule.
Solche Mogeleien werden vermutlich schon bald überflüssig sein: Die Erkenntnis, dass sich nicht nur die (potentiellen) Opfer, sondern auch die (potentiellen) Täter mit ihrer Geschlechterrolle auseinandersetzen sollten, ist inzwischen an entscheidender Stelle angekommen. So startete die nordrhein-westfälische Frauenministerin Birgit Fischer im Sommer ‘99 ein in Deutschland einmaliges Projekt: Sie dehnte das 1997 eingeführte Programm "Selbstbehauptung für Mädchen an Schulen" auch auf Jungen aus. Neuer Titel: "Selbstbehauptung und Konflikttraining für Mäd- chen und Jungen an Schulen".
Um die steigende Gewalt einzudämmen, sollten sich nicht mehr länger nur die Mädchen bemühen müssen, "Grenzen zu setzen und deutlich zu zeigen, was sie wollen und was nicht". Ab jetzt sollten sich auch die kleinen Herren der Schöpfung "kritisch mit ihrer männlichen Rolle auseinandersetzen und lernen, gewaltfrei mit Konflikten umzugehen." 800.000 Mark stellte das Land zur Verfügung, 1.500 Mark pro Kurs. Um das Ganze möglichst weit zu streuen, werden an jeder Schule nur zwei Kurse pro Schuljahr gefördert – für jedes Geschlecht einer. Angesichts steigender Gewalt an den Schulen nicht eben viel. Trotzdem.
Ministerin Fischer ahnte nicht, was sie mit ihrer Idee auslösen würde. Kaum war die Pressekonferenz im Frauenministerium zu Ende, brach in den Redaktionen Panik aus. "Geschminkte Jungs in Frauenkleidern, die sich gegenseitig sanft massieren" ("Express"), tauchten da in journalistischen Männerphantasien auf. In den "Anti-Macho-Kursen" würden die strammen Jungs sicher auch in Babypflege und Weinen trainiert, fürchteten die Schreiber und prognostizierten angesichts dieser "überholten Ina-Deter-Pädagogik" eine "ganze verwirrte Jungen-Generation". Die Bild-Zeitung hob diese Horrorvision sogar auf die Titelseite und fragte die Ministerin barsch, wie sie für einen solchen Schwachsinn Geld ausgeben könne: "Haben wir keine anderen Sorgen?"
Kein Wunder, dass die Söhne solcher Väter sich schwertun mit gröhlfreiem Körperkontakt jenseits von Fußball und Kloppe. Peter Schotts erster Kurs im Rahmen des NRW-Programms war jedenfalls prompt vorbei, als er mit den Jungs ein "Körperspiel" machte: Zwei Mannschaften, die in zwei Reihen auf dem Boden saßen, sollten sich durch Rückenklopfen nach einem vorher bestimmten Code Botschaften von hinten nach vorne übermitteln. Das war zuviel der Zärtlichkeit. "Ich hatte den Eindruck, das hätte ihnen Spaß gemacht. Aber hinterher haben sie gesagt: ‘Iiih, das ist ja schwul!’ Und da war die Sache natürlich gelaufen."
Logisch. In den Verdacht, schwul und ergo das größte Weichei überhaupt zu sein, darf ein richtiger Junge natürlich auf gar keinen Fall geraten. "Solche Körperübungen sind bei uns schon im 1. Schuljahr kaum möglich. Die Jungen ertragen kaum Nähe", bedauert auch Klaus Bochem. Der Schulleiter des Görlinger Zentrums, einer kombinierten Grund- und Gesamtschule, im sozialen Brennpunkt Köln-Mengenich hat beobachtet, wie sich die Jungengewalt in den letzten Jahren verschlimmert hat. "Ihre Konflikte haben sie ja schon immer mit den Fäusten ausgetragen, aber heutzutage wird nochmal reingetreten, wenn jemand schon am Boden liegt." Das lernen viele seiner Schüler zu Hause von Papi. "Da wird die Mutter eben durchgeprügelt, wenn sie sich angeblich wieder wie ‘ne Schlampe benommen hat."
Jetzt gibt es am Görlinger Zentrum die ersten Anti-Gewalt-Kurse mit NRW-Förderung: Seilbahnfahren und Bäumeklettern für die Mädchen, Vertrauensübungen und Reflektionsrunden für die Jungen.
Ganz so schlimm sei es nicht mit der Gewalt an ihrer kleinen dreizügigen Schule, sagt Waltraud Schmitz. "Wir haben hier nicht die großen Prügeleien. Aber massive Unterrichtsstörungen und Attacken, die öfter unter die Gürtellinie gehen als früher." Natürlich überwiegend von den Jungen. Mittlerweile hat man an der Hauptschule in der Hochhaus-Wüste Köln-Chorweiler registriert, "wieviel Aufmerksamkeit diese kleinen Rambos auf sich ziehen". Die LehrerInnen sind sensibel dafür geworden, dass dagegen die "Aggression der Mädchen in den allermeisten Fällen Autoaggression ist".
Für die Mädchen ist in den letzten Jahren deshalb an der Schule auch einiges getan worden, zum Beispiel das Projekt "Mädchen in technischen Berufen", Selbstverteidigungskurse oder Kanufahren. Auch eine Mädchengruppe gibt es. "Mädchenarbeit ist inzwischen weitgehend akzeptiert", freut sich Lehrerin Schmitz, die seit 18 Jahren in Chorweiler unterrichtet und ein stolzes Vierteljahrhundert Schuldienst hinter sich hat.
Dass man auch mit den Jungen nicht bis in alle Ewigkeit nur Fußballspielen sollte, wenn man ihr ruppiges Verhalten ändern will, wurde in letzter Zeit im Kollegium schon öfter diskutiert. Aber was tun? "Wir haben das Thema Gewaltprävention mit den Jungen in den Konferenzen zwar angesprochen", erzählt Waltraud Schmitz, "aber wir hatten dafür noch kein Konzept. Mit der Jungenarbeit stehen wir noch ganz am Anfang."
Dann flatterte im Sommer letzten Jahres die NRW-Förderung der Jungen-Konflikttrainingskurse in den Schulbriefkasten. "Zuerst dachte ich: Na, dat wär ja auch zu schön gewesen, wenn die Mädchen mal wat nur für sich gehabt hätten." Aber als Waltraud Schmitz sich das Konzept durchgelesen hatte, war sie umgestimmt. Erstens, weil ein Jungenkurs nur gefördert wird, wenn es an der Schule auch einen für Mädchen gibt. Zweitens, "weil es wirklich Zeit wird, dass wir auch bei den Jungs diese klassischen Muster aufbrechen."
Der erste Versuch ging schief. Einen Breakdancer hatte sie engagiert. "Weil wir den Jungs mit ihrem Bewegungsdrang entgegenkommen wollten." Die anschließende "Reflektionsphase" mit ihrem Sportlehrer fanden die coolen Tänzer dann nicht mehr so prickelnd, fragten in die Runde, was es denn jetzt überhaupt noch zu reden gäbe und verstummten. Fazit: "Für solche Kurse muss man professionelle Leute engagieren, die auf diesem Gebiet schon Erfahrung haben."
Das hat Waltraud Schmitz jetzt im neuen Schuljahr vor. Den nächsten "Anti-Macho-Kurs" wird Andreas Peters leiten, der Erfahrung hat auf dem Gebiet Jungenarbeit. Der 40-jährige Pädagoge macht beim Kölner "Bildungswerk für gewaltfreie Veränderung – Umbruch" seit Mitte der 80er Jahre sogenannte "Trainingsarbeit" mit SozialarbeiterInnen, LehrerInnen und Kindern. Und eben auch speziell mit Jungen.
In seinen Kursen – Titel: "Coole Jungs" – spielen die kleinen Konkurrenzexperten Kooperationsspiele ohne Sieger. Zum Beispiel "Die Reise nach Paris", eine abgewandelte "Reise nach Jerusalem", bei der niemand ausscheidet. Statt des üblichen Wegdrängelns der Mitspieler muss der Trupp versuchen, komplett auf immer weniger Stühlen zu stehen. Da ist Festhalten und Zusammenrücken angesagt.Das übliche "Pack mich nicht an, ey!" oder "Bist du schwul, oder was?" bleibt dann trotz ungewohnter Nähe erfahrungsgemäß aus.
Mit älteren Jungs redet der Mann über Fragen wie "Was heißt eigentlich Mannsein?", "Wodurch entsteht Ehre?" oder "Fühl ich mich als Junge wohl?" Oder er versucht, den kleinen Machos in Rollenspielen zu verklickern, wie ihre Art der Anmache auf Mädchen wirkt. "Durch das Fernsehen sind die Jungen in den letzten Jahren viel stärker sexualisiert", hat Pädagoge Peters beobachtet. "Die laufen permanent mit Rammelbewegungen durch die Gegend und haben ein total leistungsbezogenes Bild von Sexualität im Kopf: ‘Ich kann immer und überall!’"
Den Trend zur Jungenarbeit konstatiert Andreas Peters seit ein bis zwei Jahren. Zwei Gründe sieht er für die neue Aufmerksamkeit für die "kleinen Helden in Not": Erstens herrsche besonders an Haupt- und Sonderschulen mit bis zu zwei Dritteln männlicher Besatzung in Sachen Gewalt "wirklich Notstand". Zweitens seien jetzt die erste Generation Männer mit "entsprechender Sozialisation" im erziehungsfähigen Alter. Denn Jungenarbeit, da herrscht Konsens, muss von vorbildtauglichen Männern gemacht werden.
Aber noch herrscht Männermangel an der Jungenarbeits-Front, denn Männer halten sowohl Mädchen als auch Jungenarbeit nach wie vor gemeinhin für Frauensache. Aus Bequemlichkeit – und aus Angst, denn die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle geht auch beim Herrn Lehrer ans Eingemachte. Folge: "Männer trauen sich da nicht ran", wie Peter Schott weiß, denn mit schöner Regelmäßigkeit hört er an der Gesamtschule Rodenkirchen den Satz: "Peter, mach du das mal!"
"Es gibt kaum Männer, die sich dazu verpflichtet fühlen, diese Arbeit zu machen", kann Andreas Peters nur bestätigen. Die wenigen, die dazu bereit sind, versucht er einzubinden und zu begeistern. "Ich rege immer an, dass bei den Kursen ein Lehrer zuschaut und dass die Gruppe dann weiterläuft. Wir machen sonst Sisyphus-Arbeit."
Wenn Peters in diesem Schuljahr an der Hauptschule Chorweiler seine "coolen Jungs" die "Reise nach Paris" spielen lässt, dann wird ein Kollege von Waltraud Schmitz dabei sein. "Vielleicht entsteht daraus ja eine feste Jungengruppe, wie es sie für die Mädchen schon gibt", hofft die Lehrerin, die überhaupt findet: "Mädchen- und Jungenarbeit müsste zum Standardprogramm von Schulen gehören und viel stärker Thema in der Lehrerfortbildung sein."
Genau darauf soll es nach dem Willen des NRW-Frauenministeriums hinauslaufen. Wegen der großen Nachfrage im Jahr 1999, in dem 289 Jungen- und 563 Mädchenkurse beantragt und gefördert wurden, hat Ministerin Fischer den Etat für dieses Jahr auf 1,5 Millionen Mark aufgestockt, damit mindestens 1.000 Kurse stattfinden können. Das ist immer noch nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, aber das "Initiativprogramm" könne die Schulen eben nur anregen. Lehrer-Fortbildung in Sachen Jungenarbeit ist als Folge des Programms geplant.
Patrick, Cengiz, Ugur, Marc und Alex wollen sich auf jeden Fall auch im neuen Schuljahr weiter treffen. Patrick hat sich inzwischen überlegt, dass die Mädchen vielleicht doch lieber was ganz anderes wollen als seine noch zu erfußballernden Reichtümer und sein Geprotze und Geprahle. "Vielleicht", vermutet er vorsichtig, "fänden die einen ohne das Prahlen ja sogar viel besser?" Ausprobieren will er das aber lieber nicht. Zu gefährlich. Aber manchmal würde er schon gern mal ein Weichei sein dürfen. Nur ab und zu.
Chantal?Louis, EMMA 5/2000
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