Schutzbrief gegen Verstümmelung
In Deutschland leben 68.000 Frauen und Mädchen, denen die Schamlippen und die Klitoris weggeschnitten worden sind. Um die 15.000 sind aktuell davon bedroht, so die Schätzungen des Bundesfamilienministeriums.
Immer zum „Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung“ am 6. Februar werden diese Zahlen veröffentlicht, federführend von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in ihrer Dunkelzifferstatistik (EMMA berichtet seit 1977). Und auch in diesem Jahr zeigen sie: Sowohl die Zahl der Betroffenen als auch der Gefährdeten steigt kontinuierlich an.
Der Aufschrei – an diesem Tag – ist groß, dann gerät das Thema meist wieder in Vergessenheit. Das Verstümmeln passiere ja im Ausland, in Somalia, Äthiopien, Guinea, Dschibuti oder Mali. Eltern fliegen mit ihren Töchtern in diese Länder und lassen sie dort „beschneiden“. Oft schlagen Lehrerinnen Alarm, die ahnen, was ihren Schülerinnen bevorsteht, können aber letzten Endes nichts ausrichten. Manchmal wird aber auch eine Beschneiderin nach Deutschland eingeflogen oder ein Arzt in Deutschland unter der Hand dafür bezahlt.
Den Mädchen sollen starke Argumente gegen familiären Druck mitgegeben werden
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) will nun mit einem Schutzbrief gegen die barbarische Tradition vorgehen. Der soll gefährdeten Mädchen mit auf Reisen in ihre Herkunftsländer gegeben werden. Der Brief stellt klar, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland strafbar ist, auch wenn sie im Ausland passiert. Eltern drohen bis zu 15 Jahre Haft und der Verlust des Aufenthaltstitels.
„Wir wollen gegen eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen auf der Welt handeln“, sagte Giffey. Der Schutzbrief soll den Mädchen „starke und überzeugende Argumente gegen den gesellschaftlichen und familiären Druck in den Herkunftsländern an die Hand geben“. Er wird in verschiedene afrikanische und asiatische Sprachen übersetzt. Der Brief, der die Größe eines Reisepasses hat, lasse sich gut bei Reisen mittragen. Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, Bundesaußenminister Heiko Maas, Bundesinnenminister Horst Seehofer und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn haben den Schutzbrief ebenfalls mitunterzeichnet.
Für Gwladys Awo, die Giffeys Initiative öffentlich unterstützt, ist es ein wichtiges Dokument. Sie ist Vorsitzende des Vereins Lessan, der sich gegen Genitalverstümmelung einsetzt. Manchmal, schildert Awo, möchte sie einfach aus ihrer Beratung gehen und schreien: "Ich habe Mädchen begleitet, die von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen sind. Das tut sehr weh, wenn man ein achtjähriges Mädchen sieht, deren Klitoris komplett zugenäht ist."
Der Schutzbrief wird auf den Webseiten der beteiligten Ministerien, der Bundesländer sowie diverser NGOs zum Herunterladen und Bestellen bereitstehen. (Hier herunterladen!) Der gedruckte Flyer soll künftig bei Beratungsstellen und Arztpraxen ausliegen.
Ein Grund für die rapide Zunahme der Genitalverstümmelung in Deutschland ist die Migration aus Ländern wie Eritrea oder Somalia, in denen Mädchen und Frauen nahezu zu 100 Prozent verstümmelt werden.
In Lockdown-Zeiten ist es für Betroffene unmöglich Hilfe zu finden
Terre des Femmes warnt zudem vor der Verlagerung der grausamen Praxis in Kliniken in Asien und Nordafrika. „Diese führt dazu, dass der Eingriff verharmlost wird und sogar Akzeptanz findet, wenn er von medizinischem Fachpersonal durchgeführt wird. Es gibt sogar Bestrebungen, die medikalisierte Verstümmelung als Kompromiss zu legalisieren!“, sagt Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin von Terre des Femmes.
Die Organisation warnt zudem vor den Folgen des Corona-Lockdowns. Wegen eingeschränkter sozialer Kontakte und dem Rückgang von Arztbesuchen sowie der Schließung von Schulen und Sportvereinen fielen nahezu alle Anlaufstellen weg. „Für Mädchen, die von weiblicher Genitalverstümmelung bedroht oder betroffen sind, ist es in Lockdown-Zeiten fast unmöglich, Hilfe zu suchen“, so Stolle.
Die Zahl der Mädchen und Frauen, die an ihren Genitalien verstümmelt werden, könnte von weltweit 4,1 Millionen im Jahr 2020 auf 4,6 Millionen im Jahr 2030 ansteigen, teilte Terre des Femmes mit.
Frauenrechtsverbände fordern bereits seit Jahren: Europa muss endlich deutlich Flagge zeigen! Genitalverstümmelung darf nicht hingenommen werden! Nirgendwo! Nach bahnbrechenden Urteilen in Frankreich und Irland müssen auch in Deutschland endlich Haftstrafen verhängt und Menschen ausgewiesen werden, die ihre Töchter verstümmeln lassen. Bis jetzt ist es in Deutschland noch zu keiner einzigen Verurteilung gekommen. Ein Schutzbrief allein reicht nicht.
Hilfsprojekt gegen weibliche Genitalverstümmelung von Terre des Femmes: Let’s CHANGE