Ausschluss von Denken und Welt?
Die Humboldt-Universität zu Berlin (HU) ist in letzter Zeit zum Schauplatz eines Kampfes um die Meinungsfreiheit und die akademische Freiheit geworden. In den Seminaren des Fachbereichs Gender Studies ist es seit Jahren üblich, dass eine grundsätzliche Kritik an einer queer-feministischen Ausrichtung kaum noch geäußert werden kann, ohne dass die Person, die eine solche Kritik formuliert, mit negativen sozialen Konsequenzen rechnen muss – bis hin zu Diskriminierungsvorwürfen und Ausschluss von Lehrveranstaltungen. Zwischen einer begründeten Kritik und einem unbegründeten Angriff wird nicht mehr unterschieden, das Dogma ist sakrosankt.
Gleichzeitig gibt es Seminare, in denen die Teilnehmer über ihre so genannten Positionierungen – von geografischer und sozialer Herkunft bis zur Wahl der GeschlechtspartnerInnen – Auskunft geben sollen. Eine solche Kategorisierung dient der Hierarchisierung unterschiedlicher Diskriminierungsverhältnisse. Auf diese Weise soll eine Gleichheit realisiert werden, die mit der universalistischen Perspektive gebrochen hat: nämlich dass Menschen unabhängig von ihrer Besonderheit gleich behandelt werden sollen. Da eine solche Praxis der Selbstentblößung viel Zeit in Anspruch nimmt, kann es durchaus sein, dass es im Seminar zur Lektüre und gemeinsamen Diskussion der Literatur erst gar nicht mehr kommt.
Eine solche Praxis wird zumeist mit dem Konzept des „Schutzraums“ begründet. Man müsse bestimmte Gruppen von Menschen vor Gewalt schützen. Gemeint ist hier eine Gewalt, die nicht als intendierter Angriff, körperlich oder sprachlich, daherkommt, sondern die in der Unterschiedlichkeit der Menschen selbst angelegt sei. Das heißt dann beispielsweise „epistemische Gewalt“. Die beginnt schon dort, wo ein Mensch es wagt, über etwas zu sprechen, was jenseits seiner Erfahrungswelt liegt. Doch gerade die eigene Erfahrung zu überwinden, ist doch Voraussetzung von Denken, geistiger Erfahrung und letztlich auch von Empathie und Mitgefühl.
Bei einem Kolloquium zu epistemischer Gewalt an der HU kam es folgerichtig zum Eklat. Dass hellhäutige WissenschaftlerInnen sich zur Kritik des Rassismus äußerten, war den dort versammelten Aktivisten nicht etwa ein deutliches Zeichen gegen, sondern für Rassismus. Es sei „Ausübung rassistischer Gewalt“ gewesen, wie es in einem von „schockierten Anwesenden“ auf dem Blog der Fachschaft der Gender Studies veröffentlichten Statement heißt. Ein klarer Fall zur Ergreifung von Schutzmaßnahmen. Dem entgrenzten Begriff der Gewalt wird der begrenzte Schutzraum entgegengestellt, der als einziges Heilmittel gegen die vermeintlich beobachteten Diskrimierungen angepriesen wird.
Dass Wissenschaftler und Lehrpersonal Angriffen ausgesetzt sind, ist in den letzten Jahren an der HU häufiger vorgekommen. Als der Erziehungswissenschaftler Malte Brinkmann eine Vorlesung zur Einführung in die kanonischen Texte seiner Disziplin hielt, von der Antike bis zur Gegenwart, kam es zu Protesten. Vor allem Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, erregte aufgrund seiner abwertenden Äußerungen über Frauen und Farbige Unwillen.
Mit einem solchen Autor, der Rassismus und Sexismus reproduziere, wolle man sich nicht beschäftigen. Dass Kant mit seinem aufklärerischen Denken gleichzeitig die Grundlage der Kritik von Ungleichheit, also auch Rassismus und Sexismus, und für eine Autonomie des Individuums gegeben hat, war den Protestierenden keine Erwähnung wert, es blieb ihnen schlicht verborgen.
Die Geschichte der Menschheit ist aber ein Ineinander von Emanzipation und Herrschaft, einen unschuldigen Standpunkt gibt es nicht. Die Aufklärung aufgrund ihrer Verstrickung in die Gewaltgeschichte gänzlich zu verwerfen, führt nur tiefer in das Verhängnis hinein. Niemand hat das deutlicher gesehen als die von Brinkmann in seiner Vorlesung auch behandelten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“. Die ProtestlerInnen störten die Veranstaltung aber letztlich so enorm, dass sich ihre KommilitonInnen gezwungen sahen, die Polizei zu rufen.
In seinen Gender Studies wurde Lann Hornscheidt Ziel einer so genannten Intervention. Hornscheidt hatte bis Dezember vergangenen Jahres eine Professur an der HU inne. Aufsehenerregend waren vor allem Vorschläge zur geschlechterneutralen Sprache wie „Professx“ und „Studierxs“, was auch Hornscheidts Forschungsschwerpunkt war. Weil das x aber als rassistische Vereinnahmung, Beispiel Malcolm X, kritisiert wurde, verwendet Hornscheidt inzwischen die Endung -ecs. In einem von Hornscheidt geleiteten Seminar kam es zum Eklat, weil nicht einvernehmlich geklärt werden konnte, ob das Seminar eher ein Schutzraum für transsexuelle oder für farbige Menschen sei.
In der Konsequenz führte das bis zum Ausschluss der Transperson aus der Gender-Studies-Fachschaft und Rassismusvorwürfen gegen Hornscheidt. Angesichts einer solchen Situation mag man an den Zauberlehrling denken, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wurde.
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der HU, befindet sich hingegen in einer etwas anderen Situation, ebenso der Historiker Jörg Baberowski, denn beide kann man getrost als konservativ und fern des queeren Aktivismus bezeichnen. Münklers Vorlesungen wurden trotzdem in einem anonymen Blog kritisiert, Baberowski wird vor allem von einer trotzkistischen Gruppe attackiert.
Dass sich die in der skizzierten Weise geäußerte Kritik vor allem auf eine Ausdehnung der Begriffe von „Gewalt“ und „Schutzraum“ bezieht, ist fatal. Denn das Konzept des Schutzraums, welches der sozialen Arbeit und der psychologischen Hilfe entstammt, um wehrlose Betroffene vor wiederholt ausgeübter brutaler Gewalt zu schützen, zielt ja auf eine Unterbindung der Ursache der Gewalt. In Bezug auf die Universität kann die Folge eines solchen Verständnisses nur heißen, unliebsame Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Deutlich in Erinnerung zu rufen ist aber, was eine Institution wie die Universität ist: Ein Ort, an dem öffentliches Denken erlernt und geprobt werden soll. Wer aber unterstellt, dass geäußerte Gedanken gleichzusetzen wären mit unmittelbarer Gewalt, macht sich selbst handlungsunfähig. Wie kommt man nur auf die Idee, dass Sprache – im Allgemeinen, also auch, wenn sie es nicht androht – reale Gewalt bedeuten würde?
Wie kommen erwachsene Menschen auf die Idee, sich selbst einen Reizschutz zu diagnostizieren, der unterhalb dem jedes Kleinkindes liegt? Woher diese Unfähigkeit oder dieser Unwille, mit Ambivalenzen umzugehen? Ein wissenschaftlicher und demokratischer Diskurs ist aber ohne Ambivalenz nicht zu haben. Ein intellektueller Raum ist ein Schutzraum für das Denken, zu dem notwendig die Kritik gehört. Sie ausschalten zu wollen, bedeutet, dem Denken die Grundlage zu entziehen. Die Universität muss ein Ort des Widerspruchs sein. Dass der queere Aktivismus gerade dabei ist, das Gegenteil zu erreichen, gehört zur Tragik dieser moralischen Bewegung.
In dem Streben, Orte der Ambivalenz in Schutzräume zu verwandeln und zu bereinigen, liegt der autoritäre Zug des queeren Aktivismus. Der Philosoph Hegel, der vor nahezu 200 Jahren an der HU lehrte, schrieb dazu einst, dass sich die „schönen Seelen“ aus der Weltverachtung speisen und in das Böse kippen, das sie meiden wollen; er nannte das die Antinomie der moralischen Weltanschauung. Letztlich fehlt dem queeren Aktivismus eine Vorstellung von Emanzipation, intellektuell wie politisch. Streng darüber zu wachen, dass sich alle fein säuberlich voneinander getrennt gemäß ihrer Identitäten korrekt verhalten, ignoriert das grenzüberschreitende Moment jeder Emanzipationsbewegung.
Das unkritische Verhältnis der Queer-Szene zum politischen Islam ist nur ein Gradmesser, wie man es tatsächlich mit der Befreiung hält. Soziale Freiheit, also die Möglichkeit, ohne Angst verschieden sein zu können, ist das Ziel universaler und umfassender Emanzipation. Das aber scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Mehr zum Thema in der aktuellen Juli/August-EMMA
Beissreflexe - Gewalt als Antwort auf Kritik
Gender Studies - Die Sargnägel des Feminismus?
Identitäten - Das Ende des Frauseins
Verdrängung - Die Lehre aus Orlando
Weiterlesen
"Beißreflexe", hrsg. von Patsy l'Amour laLove (Querverlag 16,90 €)
Jakob Hayner studierte bis 2016 Literatur und Philosophie an der HU Berlin und arbeitet heute als Journalist.
Ausgabe bestellen