Das Modell Schweden

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Im Land von Pippi Langstrumpf und Kronprinzessin Victoria ist so einiges passiert. Der Ministerpräsident bezeichnet sich als "Feminist" - aber die konsequenteste Feministin in der Regierung wurde gefeuert und die erste potenzielle Ministerpräsidentin wurde ermordet. Der Frauenkauf, die Prostitution, wurde zum Verbrechen erklärt und das Freiertum wird verfolgt. Und 2004 soll die Wehrpflicht für Frauen, die bereits seit 1989 einen uneingeschränkten freiwilligen Zugang zur Armee haben, eingeführt werden. Fast hundert Prozent der Frauen sind berufstätig, aber in der Statistik stecken auch die Frauen in Elternzeit (die von 86 Prozent der Mütter und 14 Prozent der Väter genommen wird). Und: die Mehrheit der Frauen arbeitet Teilzeit. Dafür haben die Schwedinnen aber einen echten Jamställdhets-Ombudsmannen. – Korrespondentin Luise Steinberger berichtet.

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Bei den Hildemans im Stockholmer Vorort Enskede wird Abschied gefeiert. Freunde und Bekannte sind gekommen, um die Vorräte in Keller und Hausbar auszutrinken. Überall in dem idyllischen Holzhaus im Bullerbüstil wuseln an diesem Nachmittag Kinder zwischen den Beinen der Erwachsenen herum. In einer Woche wird Anneli Hildeman mit ihrer Familie im Flugzeug nach Kampala sitzen. Die Anfangvierzigerin tritt an der schwedischen Botschaft in der ugandischen Hauptstadt eine Stelle als Entwicklungshilfekoordinatorin an. Ehemann Jonas hat sich unbezahlten Urlaub von seiner Stelle beim Arbeitgeberverband genommen und will in Afrika eine Beraterfirma aufbauen. Die vierjährige Emy wird eine englischsprachige Schule besuchen, und der zweijährige David einen internationalen Kindergarten.
Die Hildemans sind geübte Auslands-Schweden. Vor 15 Jahren hat Anneli in Indien Entwicklungshilfe geleistet und Jonas fuhr als „mitreisender Ehemann“ mit dem Motorrad durch Kalkutta. Danach folgten fünf Jahre in Brüssel, diesmal mit fester EU-Stelle für Jonas und Anneli als „mitreisender Ehefrau“, die für schwedische Firmen jobbte. Dann kamen die Kinder, und das junge Paar zog zurück nach Schweden, „weil hier mit Kindern ja alles viel einfacher ist“. Dachten sie.
Denn kann man anderes erwarten von einem Land, das seit Mitte der 90er Jahre einen Frauenanteil von fast 50 Prozent im Parlament hat und ein Kabinett mit genau gleich viel männlichen wie weiblichen Ministern? Von einem Land, dessen Regierung sich offiziell als „feministisch“ bezeichnet? Von einem Land, das über die großzügigste Elternurlaubsregelung der Welt verfügt?
1973 war die Einführung der so genannten 'Elternversicherung' bahnbrechend. Kein anderes Land außerhalb des „real existierenden Sozialismus“ bot seiner Bevölkerung so umfassende staatliche Familienhilfen an. Ein langhaariger blonder Mann mit einem Baby auf den muskulösen Armen machte Reklame für die Regelung, der zufolge berufstätigen Eltern 13 Monate Erziehungsurlaub bei 80 Prozent ihres Gehaltes zustehen. Prinzipiell steht Mutter und Vater je die Hälfte zu, die Eltern können sich ihre Erziehungsurlaubstage jedoch gegenseitig überschreiben.
Gleichzeitig baute Schweden ab den 70er Jahren die Kinderbetreuung aus. Die Gemeinden wurden angehalten, Krippen, Kindertagesstätten und Kindergärten für alle Kinder ab einem Jahr bereitzustellen, Ende der 90er wurde der Anspruch gesetzlich garantiert. Schweden befand sich im Boom, es wurden Arbeitskräfte gebraucht, da lag es nahe, nicht nur aus Frauenfreundlichkeit auch die Frauen zu aktivieren. Sozialpolitikerinnen wie die Friedensnobelpreisträgerin Alva Myrdal hatten schon vor 100 Jahren für die Rechte von Frauen und Kindern agitiert. Myrdal hatte bereits vor dem zweiten Weltkrieg Konzepte für Gemeinschaftliche Kinderbetreuung und gleichberechtigte Familien entwickelt, die nun, ein halbes Jahrhundert später, getestet werden sollten.
Nach vier Jahren Sprint zwischen Büro und Kindertagesstätte ist Anneli Hildeman jedoch ernüchtert. Sie ist an die Grenzen des schwedischen Systems gestoßen. Und der Entschluss, eine Stelle in Afrika anzutreten, hat auch damit zu tun: „In Schweden ist es für Eltern unmöglich, Kinder zu haben und gleichzeitig zwei berufliche Karrieren zu machen“, klagt sie. Dennoch: in Schweden bekommen Frauen immer noch relativ viele Kinder, im statistischen Durchschnitt zwei, wie Anneli. Doch sind die Kinder erstmal da, stellt sich bald heraus, dass die Frauen noch wählen müssen: zwischen Teilzeitarbeit plus Kinder oder Doppelt- bis Dreifachbelastung.
Claes Borgström ist Gleichstellungs-Ombudsmann, in Schwedisch: Jämställdhets-Ombudsmannen, von den SchwedInnen liebevoll JämO abgekürzt. JämO Borgström ist der Ansicht, dass die Reformen der 70er Jahre zumindest teilweise fehlgeschlagen sind: „Die Idee hinter dem Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen etwa war ja, dass Frauen in die Arbeitswelt integriert werden sollten und Männern und Frauen gleichzeitig die Möglichkeit gegeben werden sollte, Hausarbeit und Beruf gerecht untereinander aufzuteilen. Die Frauen gingen in den Beruf. Die Hauptverantwortung für die Hausarbeit aber haben sie weiterhin.“
In der Realität hat die Reform vor allem zu einer starken Segregation des Arbeitsmarktes geführt. Weiterhin gibt es also „Frauenarbeit“ und „Männerarbeit“. Schwedische Männer arbeiten heute zu 80 Prozent in privaten Unternehmen der Industrie, schwedische Frauen zu 80 Prozent im öffentlichen Dienst. Und ganz wie früher sind es die Frauen, die sich um Kinder, Alte und Kranke kümmern. Beamte in den Arbeitsämtern im dünn besiedelten Nordschweden klagen: „Manche Männer bleiben lieber arbeitslos, als eine ‚Frauenarbeit’ im Krankenhaus oder Kindergarten anzunehmen.“ Zudem werden Frauen und Männer für gleichwertige Arbeit immer noch häufig unterschiedlich bezahlt.
JämO Borgström eröffnet jährlich 150 bis 200 Ermittlungsverfahren wegen Lohn- und Gehaltsdiskriminierung, ein bis zwei dieser Fälle kommen vor Gericht. Grundsätzlich Recht bekommen hat seine Behörde zum Beispiel darin, dass die Arbeit einer weiblichen Krankenschwester und eines männlichen Medizintechnikers gleichwertig ist.
Borgström ist ein überzeugter Gleichstellungskämpfer: „Diskriminierung ist eine Kränkung der individuellen Menschenrechte und -würde.“ Und als Mann sieht er sich da in der Verantwortung: „Die Regierung wollte mit meiner Berufung den Automatismus durchbrechen, dass nur Frauen für eine Veränderung arbeiten. Die Männer müssen mitmachen.“
Wohl wahr: Im Frühjahr 2003 erlebte eine Einzelgewerkschaft erstmals in der hundertjährigen schwedischen Gewerkschaftsgeschichte, dass ihr eine andere Gewerkschaft in den Rücken fiel: Die Gewerkschaft der Gemeindearbeiterinnen (Kindergartenpersonal, Küchenhilfen in Krankenhäusern und Schulen) forderte höhere Gehälter. Darauf erklärte die männlich dominierte Papierarbeitergewerkschaft, der Streik der Frauen im Öffentlichen Dienst sei „unpassend“ und „inflationstreibend“.
Kein Wunder also, dass manche Frauen „sich darauf freuen, wenn sie ein Kind bekommen, mal eine Pause vom Arbeitsleben machen zu können“, weiß Kindergärtnerin Eva Svensson. Für eine Schwesternhelferin mit 1.600 € Brutto zum Beispiel oder eine Kindergartenhelferin mit 1.400 € ist ein Jahr zu Hause bei 80 Prozent des Lohns eine echte Alternative. Also sind es fast ausschließlich die Mütter, die den Erziehungsurlaub nehmen. In der schwedischen Statistik werden die Frauen im Babyurlaub als „berufstätig“ gerechnet, daher weist die Beschäftigungsstatistik immer Spitzenwerte mit rund 80 Prozent Frauenerwerbstätigkeit aus.
Nur jeder siebte Vater geht in Babyurlaub. Der Rest lässt die zwei ausschließlichen 'Väter-Monate' lieber verfallen, als Zuhause zu bleiben. „Und“, feixt die liberale Reichstagsabgeordnete Birgitta Ohlsson: „Männer nehmen ihren Erziehungsurlaub vorrangig im Sommer im Anschluss an den Urlaub, wenn Fußballweltmeisterschaften sind oder im Herbst zur Elchjagd.“
Birgitta Ohlsson, 28, ist eben aus den Flitterwochen zurückgekommen und voller Tatendrang. „Ich habe den feministischsten Mann, den man sich denken kann“, frohlockt sie. „Er war mein Vize im liberalen Jugendverband, wir haben ungefähr die gleichen Ansichten. Und verdienen tue ich auch mehr!“ Doch die Gleichstellungsarbeit der Regierung geht ihr nicht schnell genug: „Es wird viel geredet, aber wenig gehandelt bei den Sozialdemokraten.“
Tatsächlich haben sich die in Schweden seit Jahrzehnten Ton angebenden Sozialdemokraten den Feminismus nur widerwillig auf die Fahnen geschrieben. Die Forderungen der eigenen Genossinnen verhallten im Parteiapparat lange Zeit ungehört. Vor den Wahlen 1994 wendete sich das Blatt erst, als eine außerparlamentarische Gruppe von Frauen, die 'Stützstrümpfe', damit drohte, eine Frauenpartei zu gründen. Unter ihrem Druck quotierten die Sozialdemokraten ihre Listenplätze im Parlament 50/50. So wurde die Regierung unter Ingvar Carlsson 1994 die erste mit gleich vielen Ministerinnen und Ministern. Aber das schöne Bild täuschte.
Doch seit dem Frauenpartei-Schock schrieben die Parteien sich den Feminismus zumindest ins Parteiprogramm. Vorreiterin war 1996 die Linkspartei. 1999 zogen die Sozialdemokraten nach. Heute bezeichnen sich – bis auf die Konservativen und die Christdemokraten  – fünf der sieben Reichstagsparteien als „feministisch“.
Bei den regierenden Sozialdemokraten war die Initiative von Landwirtschafts- und Gleichstellungsministerin Margareta Winberg ausgegangen. Sie wollte nicht länger nur reden. „Ich glaube zwar nicht, dass allen Delegierten damals klar war, was sie da beschlossen, aber das macht nichts. Hauptsache, wir handeln danach“, sagt Winberg rückblickend. Die Tatsache, dass Winberg damals für „Kühe und Frauen“ zuständig war, erntete einigen Spott und ist vielleicht symptomatisch für den Stellenwert, der der Gleichstellungsarbeit eingeräumt wird. Doch nach dem Motto 'Steter Tropfen höhlt den Stein' hat die damalige Ministerin das Gender Mainstreaming als Leitsatz im Regierungsprogramm verankert.
Allerdings ist es wohl kaum ein Zufall, dass sie die Position als Vize-Ministerpräsidentin, bei der ausschließlich Gleichstellungsfragen angesiedelt waren, nur ein paar Jahre halten konnte. Sie zog mit Ministerpräsident Persson nicht am gleichen Strang. Im Oktober 2003 wurde Winberg aus der Regierung entlassen. Ab Februar 2004 wird sie Schweden als Botschafterin im Lula-Land Brasilien vertreten. Ihre Gleichstellungsfragen wurden der stellvertretenden Wirtschaftministerin Mona Sahlin zusätzlich auf den Tisch gelegt.
Systematisch waren unter Winbergs Ägide alle Minister, Staatssekretäre und Behördenchefs in Sachen Feminismus ausgebildet worden und sind gehalten, in ihren jeweiligen Fachentscheidungen die Auswirkungen auf Frauen und Männer immer mit zu bedenken. „Männer haben die Macht. Männer sind die Norm und Frauen die Ausnahme. Sieht man das und arbeitet für wirkliche Gleichberechtigung, dann ist man Feminist“, erklärte Winberg und klagte: „Die Gleichstellungsarbeit ist in der Vergangenheit in viel zu hohem Grad darauf ausgerichtet gewesen, formelle Strukturen zu verändern statt informelle Strukturen zu beseitigen, die ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern schaffen und aufrecht erhalten.“ Winberg hoffte: „Wenn Mutter und Vater wirklich die Kinderarbeit teilen würden, dann gäbe es auch für Arbeitgeber keinen Vorwand mehr, sie unterschiedlich zu behandeln.“ Aber, klagte die ehemalige Vizeministerpräsidentin im vergangenen August: „Leider habe ich für diese Idee keine Unterstützung in der Regierung.“ Dass sie aus dem Regierungsjob zur Botschafterin in Brasilien „befördert“ wurde, spricht für sich.
Im Stillen hatten viele Schwedinnen darauf gehofft und damit gerechnet, dass bald ein radikalerer Wind im Regierungskorridor wehen würde. Denn als ungekrönte Kronprinzessin für die Nachfolge von Göran Persson hatte sich Außenministerin Anna Lindh herauskristallisiert. Der Hoffnung wurde am 10. September 2003 ein blutiges Ende gemacht. „Das war doch unsere künftige Ministerpräsidentin!“, weinte die Sozialdemokratin Inger Leander am Tag nach der Tat vor einem Blumenberg in der Stockholmer Innenstadt und drückte damit aus, was viele Frauen fühlten. Die Namen, die seither als Persson-Nachfolger gehandelt werden, sind samt und sonders männlich.
Auch in den akademischen Berufen und vor allem in der freien Wirtschaft sind die Schwedinnen noch stark unterrepräsentiert. Nur acht von 335 Geschäftsführern börsennotierter Firmen sind Frauen, das sind zwei Prozent. Nur sechs Prozent der Führungskräfte in schwedischen Unternehmen sind Frauen (aber 14 Prozent in Frankreich und 20 Prozent in Italien – und immerhin elf Prozent in Deutschland).
Nur in der „Schweden AG“, so nennen die SchwedInnen das Königshaus, hat mit Kronprinzessin Victoria eine Frau die Anwartschaft auf das höchste Amt inne. Trotz der sozialistischen Tradition des Landes hat das Königshaus in Schweden noch einen großen Einfluss, wenn auch nur symbolisch. Und als besonders geschickte Botschafterinnen ihres Landes gelten Königin Silvia und ihre Tochter, Kronprinzessin Victoria. Sie stehen auf der Liste der meist bewunderten Schwedinnen auf Platz 1 und 3 – in der Mitte der königlichen Hoheiten die ehemalige Vorsitzende der ehemals kommunistischen Linkspartei, Gudrun Schyman.
Die liberale Abgeordnete Birgitta Ohlsson wünscht allen Frauen das, was den königlichen Hoheiten ganz selbstverständlich die Arbeit erleichtert: „Um Frauen auf Topjobs in der freien Wirtschaft zu bekommen, müsste der Staat Haushaltshilfen subventionieren.“ Doch auf diesem Ohr sind die Sozialdemokraten taub.
Birgitta Ohlsson und mit ihr viele Frauen in den Startlöchern, bringt das auf die Palme: „Die Sozialdemokraten regieren dieses Land im Prinzip seit 60 Jahren und sie sitzen in alten Idealen und Bildern fest!“ Eines dieser Bilder ist die Magd, die bei den reichen Leuten ausgebeutet wird. „Viele ältere Leute haben eine enorme Angst vor der Klassengesellschaft und davor, dass sie zurückkommen könnte“.
Noch bis in die 50er Jahre arbeiteten junge Mädchen vom Lande in bürgerlichen Stockholmer Häusern unter kläglichen Umständen als Dienstmädchen. Und häufig genug nahmen sich die Herren auch sexuelle Freiheiten, gegen die sich die jungen Frauen kaum wehren konnten. In dieser Geschichte hat ein anderer Teil der schwedischen Gleichstellungspolitik seine Wurzeln: der offensive Kampf für eine Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper und die Ahndung von Freiertum und Frauenhandel.
Mitte der 70er Jahre bekamen die Schwedinnen das Recht auf Abtreibung und Gewalt in der Ehe wurde strafbar. 1999 führte Schweden unter der Ägide von Ex-Ministerin Winberg ein bisher einmaliges Gesetz ein, mit dem es den Kauf von sexuellen Dienstleistungen verbot. Winberg damals: „Wir zeigen damit dem schwedischen Volk – und auch anderen Ländern, wenn sie es hören wollen – dass wir es hierzulande nicht akzeptieren, wenn jemand den Körper eines anderen Menschen kauft.“ In der Bevölkerung ist das Gesetz zunächst als zahnloser Papiertiger belächelt worden. Das war mit dem Verbot, Kinder zu schlagen, nicht anders. Doch heute, lächelt die liberale Ohlsson, „greifen Passanten ein, wenn sie jemanden sehen, der sein Kind schlägt“.
Mag sein, dass die Hildemans wieder ein bisschen genauer wissen, was sie – trotz aller Grenzen ihres Paradieses – an Schweden haben, wenn sie in zwei, drei Jahren aus Uganda zurückkehren in ihr Holzhaus im Büllerbüstil.
Luise Steinberger EMMA 1/2004

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