Wenn Frau will, steht alles still
Ein Scharfschuß in den Apfel war er nicht, der Schweizer Frauenstreik. Aber auch kein Schuß in den Ofen.
Der junge Mann springt vor und zurück wie ein zähnefletschender Hund an der Kette und stößt wilde Worte aus: *»Efschießen sollte man euch, vergasen und kremieren..." Wohlgefällig blicken ihn die Umstehenden an. Er nimmt ihnen die Worte aus dem Mund.
Die Frauen, denen diese Behandlung angedroht wird, ruhen derweil gelassen in ihren Liegestühlen auf den Straßenbahnschienen. Lächelnd blockieren sie, im Herzen der Stadt Zürich, den Mittagsverkehr. Trambahnen, die eine Annäherung versuchen, werden trommelnd rückwärts in die Flucht geschlagen. Siegreiches Aufheulen der Besetzerinnen, Buhrufe der Zuschauer.
Hier sah's ganz so aus, als ob der Wunsch der Organisatorinnen, der Frauenkommission des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, in Erfüllung ginge: Kein besinnlicher Muttertag sollte der landesweite Frauenstreiktag am 14. Juni werden, sondern etwas Kratzbürstiges. Nicht bloß der Verkauf von Raviolibüchsen und Tiefkühlpizza an sitzengelassene Männer sollte angekurbelt werden, sondern auch deren Bewußtsein: Wenn frau will, steht alles still.
Doch, sagen wir es gleich: Das einzige, das wirklich still stand, war der Verkehr. In mancher Stadtmitte war nur noch das Klappern der Absätze zu hören, und nie gesehene große, stumme Menschenströme schoben sich eilig aneinander vorbei. In Bern nutzten die Bernerinnen die Gunstder Stunde und hinderten ausländische Diplomaten, die der Schweiz zum 700. Geburtstag gratulieren wollten, an der Vorfahrt vor das Bundeshaus. Die Herren mußten zu Fuß gehen. Als sie den großen Frauenauflauf mißdeuteten und huldvoll in die lila Menge winkten, schallte ihnen unbekümmert lautes Frauenlachen entgegen. Entnervt hupten Automobilisten, wenn sie in lila gekleideten Frauenmassen stecken blieben. Wutentbrannt stiegen sie aus, wenn launig ein lila Ballon an ihre Stoßstange geknüpft wurde.
Ein schöner, langer Streiktag hätte es werden sollen. Doch dann folgte, wie immer in der harmoniesüchtigen Schweiz, Kompromiß auf Kompromiß. Da das Wort,,Streik " viele Arbeitgeber so rot sehen läßt wie das Wort Saddam einst Bush, schwächten es einige Gewerkschaften eilends auf „Frauen-Aktionstag" ab. Und als feststand, daß sich weder die Verkäuferinnen noch die Fabrikarbeiterinnen zu streiken getrauten, machte man aus dem Streiktag Streikminuten: Wenigstens von elf bis elf Uhr fünf sollten alle Hände ruhn.
Sie taten's selbst dann nicht. Die meisten der hunderttausend Demonstrantinnen, die auf der Straße Spruchbänder und lila Ballone schwenkten, waren Frauen, die sich das Streiken leisten konnten: Hausfrauen und Selbständige, Frauen aus sozialen Berufen, die vor Kündigung sicher waren, oder aus Milieus, wo sie auf aufgeschlossene oder sich aufgeschlossen gebende Arbeitgeber zählen konnten: Redaktionen, Verlage, Bibliotheken.
Womit aber niemand gerechnet hatte: Eine halbe Million Schweizerinnen erschien zwar am Arbeitsplatz, störte aber durch kleine Sabotageakte den gewohnten Dienstablauf - so lust- und fantasievoll, wie das Dilettantinnen eigen ist. Denn die Schweiz kennt keine Streiktradition.
Eine Lehrerin backte zu Hause einen Kuchen und verteilte ihn am Streiktag an ihre Schulklasse. Zwei Drittel bekamen die Buben, ein Drittel die Mädchen. Und als letztere empört reklamierten, bekamen sie zu hören: , ,So ergeht es Euch auch im Leben." Apothekerinnen in Chur verkauften den Männern am 14. Juni weder Aspirin noch Lindenblütentee oder Präservative, sondern nur wichtige Medikamente auf Rezept. In einem Fotolabor lasen die erstaunten Kunden vor der Kasse: „Die Menschheit ohne Frauen ist wie ein Fotogeschäft ohne Entwicklung." Die Zürcher Tonhalle-Musikerinnen kamen nach der Pause geschlossen 30 Sekunden zu spät. Die Krankenschwestern in Vevey erschienen in Männerkleidern zur Arbeit: „Wären wir Männer, hätten wir mehr Lohn." In Neuenburg läuteten alle Kirchenglocken, und in Genf kleideten sich die Theologinnen lila.
Am meisten Aufruhr stifteten zweifellos die Aktivistinnen, die Fabriken heimsuchten, wo die Frauen besonders krass unterbezahlt werden: Grenzgängerinnen im Tessin beispielsweise, Arbeiterinnen im Wallis und in St. Gallen. Beim Anblick der respektlosen Spruchbänder verlor mancher Boß die Contenance und faustete - eine Fernsehkamera nahm's auf - so zornentbrannt auf die Demonstrantinnen hinunter wie ein Mephisto auf einer ländlichen Laienühne. Seine Arbeiterinnen getrauten sich nicht einmal ans Fenster.
Als am Abend des 14. Juni vier Herren aus Wirtschaft und Poltik am Fernsehen Bilanz zogen, wirkten sie durchaus erleichtert. Zwar war in der Schweizer Presse sehr lange nicht mehr so viel von Gleichberechtigung und anderen lästigen Frauenanliegen gesprochen worden. Doch schien sich der Schaden in Grenzen zu halten.