Spanien: Se Acabo! - Es reicht!
Im Leben von Jenni Hermoso ist nichts mehr so, wie es war. Seit dem 20. August, dem Tag als die Spanierinnen in Sidney den Weltmeistertitel im Frauenfußball für ihr Land holten, haben sich die Ereignisse überschlagen. Da war der Moment des Siegestaumels der Frauen, in dem Verbandschef Luis Rubiales der 33-Jährigen unaufgefordert einen Kuss auf die Lippen drückte. Es folgte die öffentliche Empörung, weit über Spaniens Landesgrenzen hinaus und schließlich Jennis Anzeige gegen den mächtigen Fußballpräsidenten, der sich drei Wochen gegen seinen Rücktritt sträubte.
Doch weder über den sportlichen Triumph noch über ihren moralischen Sieg über Rubiales kann Jenni sich richtig freuen. Es tat ihr weh, zusehen zu müssen, wie ihre Teamkolleginnen bei der Nations League die Siegesserie in Schweden und der Schweiz fortsetzen konnten und sie selbst nicht einmal mehr aufgestellt wurde, angeblich zu ihrem „persönlichen Schutz“. Dabei war Jenni ab diesem Moment erst recht ganz auf sich alleine gestellt, den vielen Solidaritätsbekundungen zum Trotz.
Um dem Medienrummel zu entfliehen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen, kehrte die Spanierin zu ihrem Club Pachuca in Mexiko zurück. Für den kickt sie seit 2022. In der Heimat hat die Fußball-Heldin inzwischen Strafantrag gegen Rubiales gestellt. Und auch dafür sind ihr Spaniens Feministinnen dankbar, denn ohne Jenni wäre die überfällige Debatte über den allgegenwärtigen Sexismus in allen Bereichen des Lebens nie in Gang gekommen.
Den Demonstrationszügen, die Spaniens Straßen nach dem Kuss-Skandal eroberten, schlossen sich diesmal auch auffallend viele Männer an, die sich zuvor kaum für Frauenrechte interessiert hatten. Sogar die Kicker des Fußballclubs FC Sevilla solidarisierten sich mit ihren Kolleginnen. „Es ist Schluss!“ (¡Se acabó!) riefen die DemonstrantInnen und skandierten damit den landesweiten Schlachtruf, den ursprünglich sechs von Jennis Kolleginnen aus dem WM-Team geprägt hatten. Mit dem Hashtag #Seacabó gelang der Anstoß zu einer machtvollen iberischen #MeToo-Bewegung.
Binnen kürzester Zeit meldeten sich Hunderte von Frauen, die den Mut fanden, nicht länger zu schweigen und den allgegenwärtigen Machismo anzuprangern. Den Anfang machten Sportlerinnen und Sportjournalistinnen. „In jeder Redaktion gab es Rubiales“, so die Journalistin Emma Herrero. Es konnte der Chef sein, Kollegen oder ein Interviewpartner.“ Auch die Verlegerin Andrea Luca kennt das Phänomen. „Es beginnt schon damit, dass gestandene Sportlerinnen von ihren Trainern wie kleine Mädchen behandelt werden.“
Längst hat die Bewegung auch auf den Kunst- und Kulturbetrieb übergegriffen, wo Frauen sich die Übergriffe ebenfalls nicht länger gefallen lassen wollen. Für die Songwriterin und Sängerin Natalia Lacunza aus Pamplona ist Jenni ein Vorbild. In der Plattenindustrie hat die 24-Jährige zu spüren bekommen, wie Manager oder Produzenten ihre Machtposition gnadenlos ausnützen. „Diese Industrie wäscht Machismus rein und die Vergewaltiger, die sich hier tummeln“, sagt die junge Frau der spanischen Tageszeitung El Mundo.
Dass die Reaktion auf Rubiales Fehlverhalten so stark war, hat gute Gründe. Nirgendwo sonst in Europa hat die Gesellschaft in den vergangenen Jahren einen derart grundlegenden Wandel erlebt wie in Spanien. In Sachen Frauenrechten ging es in den letzten Jahren hierzulande in Riesenschritten voran. Inzwischen rangiert das Land beim Genderindex auf Platz sechs in der Europäischen Union, weit vor Deutschland.
Die linke Regierungskoalition von Ministerpräsident Pedro Sánchez ermöglichte die Verabschiedung einer Reihe von progressiven Gesetzen. So können etwa junge Frauen ab 16 Jahren ohne Zustimmung der Eltern eine Abtreibung vornehmen lassen. Spezielle Zentren geben die „Pille danach“ gratis aus. Wer bei Menstruationsbeschwerden daheim bleibt, hat Anspruch auf bis zu fünf bezahlte Krankheitstage. Auch das Sexualstrafrecht wurde reformiert, fortan können sexuelle Handlungen ohne ausdrückliche Zustimmung aller Beteiligten strafrechtlich geahndet werden.
Früh erkannte man auf der Iberischen Halbinsel, dass die Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist. „Es gibt drei Meilensteine in der spanischen Frauenbewegung“, sagt Paloma del Río, die bekannteste Sportjournalistin des Landes. Der erste war die Andalusierin Ana Orantes, deren Ehemann sie 1997 bei lebendigem Leib verbrannte. Warum? Weil sie im Fernsehen die 40 Jahre währenden Misshandlungen in ihrer Ehe geschildert hatte. Eine Woge der Empörung ging durch das Land, ab diesem Moment wurde die bis dato selbstverständliche Gewalt gegen Frauen nicht mehr still hingenommen. 2004 verabschiedete das spanische Parlament ein Gesetz zum Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt in Beziehungen. „Das war eine soziale Revolution“, erinnert sich die Journalistin.
Der nächste Meilenstein waren die Proteste gegen das Fehlurteil gegen fünf Männer, die eine 18-Jährige im Jahr 2016 in Pamplona vergewaltigt und ihre Taten sogar gefilmt hatten. Die Richter verurteilten die Männer für den Tatbestand des „sexuellen Missbrauchs“ und nicht der Vergewaltigung, weil sich das Opfer aus ihrer Sicht nicht ausreichend gewehrt hatte. Abertausende Spanierinnen und Spanier gingen damals auf die Straße. Danach gab es ein neues Verfahren, die Strafen wurden verschärft.
Und der dritte und vorläufig letzte Meilenstein ist die Reaktion von Jenni auf den Kuss von Rubiales, der ihr in diesem Moment auch noch mit beiden Händen den Kopf festhielt, so dass es kein Entrinnen gab. „Das hat mir überhaupt nicht gefallen, aber was sollte ich machen?“, so Jenni. Sie tat erst einmal nichts, dafür reagierten Menschen im ganzen Land an ihrer Stelle. Der Protest wurde schnell global, sogar die Vereinten Nationen riefen dazu auf, Verhaltensweisen wie die von Rubiales nicht länger zu dulden.
Ist der Machismo in Spanien nun besiegt? Feministin Beatriz Simó Roig glaubt nicht daran. Aber: „Wichtig ist jetzt erst einmal, dass sich Männer wie Rubiales künftig nicht mehr so viele Freiheiten herausnehmen können wie bisher. Und selbst wenn sie im Herzen weiterhin Machos geblieben sind, trauen sie sich in Zukunft wohl kaum, dies laut und unbesorgt herauszuposaunen. Das ist immerhin ein Anfang.“
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