(Sexual-) Gewalt im Internet
Ein „weltweiter Weckruf!“ – als nichts Geringeres bezeichnete „UN Women“ und die „UN Broadband Commission for Digital Development“ ihren Report zur „Cyber-Gewalt gegen Frauen und Mädchen“. Ein Weckruf, der allerdings schon nach wenigen Tagen wieder verstummte. Der Report wurde aus dem Verkehr gezogen. Warum?
Physische Gewalt und Cyber-Gewalt nähren sich gegenseitig
Auf 61 Seiten stellten die VerfasserInnen die Online-Übergriffe auf eine Stufe mit der Gewalt gegen Frauen, wie sie in der Offline-Welt seit jeher grassiert. Mehr noch: „Physische Gewalt und Cyber-Gewalt nähren sich gegenseitig“, heißt es in dem UN-Report. „Was früher eine private Angelegenheit war, kann heute innerhalb von Sekunden an eine Milliarden Menschen auf der ganzen Welt gesendet werden.“ Es gibt kein Entkommen. Wohin auch immer die Betroffenen fliehen – das Internet ist schon da.
Vor allem jüngere Frauen zwischen 18 und 24 Jahren müssen laut UN im Netz Stalking, sexuelle Belästigung und körperliche Drohungen erdulden. Es gibt bisher kaum Zahlen, wie viele Frauen davon weltweit betroffen sind. Doch ein Blick in die deutsche Kriminalstatistik verrät: Sogar die angezeigte Anzahl derer, die im Netz bedroht wurden, hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt. Von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Die Täter sind meistens männlich – und die Opfer weiblich.
Diese Entwicklung wird in Zukunft durch die steigende Verbreitung von Smartphones oder durch das „Internet der Dinge“, in dem jeder Gegenstand vernetzt sein soll, noch verschärft. Smartphone-Messenger wie WhatsApp, Soziale Online-Medien wie Facebook oder Twitter und auch Foren wie reddit oder 4chan sind neue Kanäle für ein altes Problem von „epidemischem Ausmaß“. Oder wie die Chefin von UN-Women, Phumzile Mlambo-Ngcuka, es nüchtern ausdrückt: „Tot ist tot. Ob du tot bist, weil dein Mann dich erschossen oder zu Tode geprügelt hat. Oder ob du dich selbst umbringst, weil du die virtuellen Schikanen nicht mehr ertragen kannst – unterm Strich verlieren wir ein Leben.“ Die Selbstmorde junger Frauen, die über die Hatz im Netz verzweifeln, werden in der Tat ein echtes Problem.
Unter Feministinnen ist diese Frauenhatz im Netz schon lange Thema. EMMA berichtete 2010 das erste Mal über Bloggerinnen, die systematisch bedroht wurden (EMMA 3/2010). Seither ist das Problem noch eskaliert. Ein Höhepunkt waren die Gamergate-Attacken gegen Frauen aus der Spiele- Industrie im vergangenen Jahr. Drei der Betroffenen, darunter die Game-Analystin Anita Sarkeesian, flüchteten nach Morddrohungen auf Twitter sogar aus ihren Wohnungen (EMMA 2/2015). Eine solche Wucht bekommen die Attacken durch die ihnen eigene Mob-Mentalität: „Belästigung im Internet ist zu einer Art Team-Sport geworden, in dem die Postenden versuchen, sich wie in einem Wettbewerb gegenseitig zu übertreffen“, heißt es in dem UN-Report.
Häme, Hass-Kommentare und Drohungen in Sozialen Online-Netzwerken sind die am meisten verbreiteten Übel. Identitäts-Diebstahl gehört genauso dazu, wie die Überwachung von Frauen im Alltag, bis hin zum langjährigen Stalking. Auch das sogenannte „Doxing“, also das Zusammensammeln, bzw. Hacken und Posten privater Daten der Betroffenen (wie Fotos, Telefonnummer und Adresse) fällt unter Cyber-Gewalt.
Das Netz hat eine eigene Form der Demütigung: den Racheporno
Nicht zufällig haben die Attacken gegen Frauen im Netz eine eigene Form der Demütigung hervorgebracht: die „Rachepornos“, sprich das Veröffentlichen intimer Fotos oder privater Sexvideos im Internet, meist durch Ex-Liebhaber oder Ex-Freunde. Oder auch: Das Posten von Fotos, die sich der Täter auf kriminellem Wege beschafft hat, indem er zum Beispiel einen Datenspeicher hackt.
Vor einem Jahr gelangten so Nacktfotos dutzender prominenter Frauen wie Jennifer Lawrence aus deren Apple-iCloud an die Öffentlichkeit. Lawrences Kommentar: „Das ist kein Skandal, das ist ein Sexualverbrechen!“
Der UN-Bericht verschweigt nicht, was diese Enthemmung auch beflügelt: „Es gibt einschlägige Statistiken, dass Pornografie 30 Prozent des Internet-Traffics ausmacht. Die Forschung offenbart auch, dass 88,2 Prozent der als am besten bewerteten Porno-Szenen aggressive Handlungen enthalten und sich diese Aggressionen zu 94 Prozent gegen Frauen richten“. Wie wissenschaftlich umfänglich belegt, neigen manche Männer nach dem Konsum von Pornografie dazu, „ein verringertes Einfühlungsvermögen für Vergewaltigungsopfer zu zeigen; gesteigerte Aggression an den Tag zu legen; oder zu schreiben, dass eine provokant gekleidete Frau es verdient, vergewaltigt zu werden.“ Die Verfügbarkeit pornografischer Inhalte habe außerdem die Konkurrenz unter den Anbietern gesteigert – und damit auch die Anzahl gewaltsamer Bilder im Internet, schreibt der UN-Report.
In der Aufzählung der vielfältigen Formen von Cyber-Gewalt erwähnen die AutorInnen auch einen Aspekt, der in der Debatte über Gewalt gegen Frauen on- wie offline selten thematisiert wird: den Zusammenhang mit Frauenhandel und Prostitution. „Nicht nur, dass die Kommerzialisierung von Sex im Internet die Nachfrage in der Sexindustrie erhöht hat. Es ist auch leichter für Menschenhändler geworden, die legalen Aspekte dieser Kommerzialisierung als Deckmantel für ihre illegalen Machenschaften zu nutzen.“ Dazu zählen: „Das Anwerben von Opfern in Sozialen Online-Netzwerken; der Austausch von Geld über Online-Transfer-Systeme; und die Organisation der vielen logistischen Fragen für den Transport der Menschenhandels-Opfer.“ Nicht zuletzt diese offenen Worte werden dem UN-Report zum Verhängnis werden.
Der Satz „Im Internet ist der Ton halt ein bisschen rau!“ ist dank seiner mantramäßigen Wiederholung zum geflügelten Wort geworden – und verhöhnt die Betroffenen. Selbst eine Autorität wie Mlambo-Ngcuka berichtet, dass sie Schwierigkeiten hatte, Verantwortliche aus der Tech-Industrie vom Ernst der Lage zu überzeugen. „Lady, Sie sind so aufgebracht, chillen Sie mal!“ – mit den Worten reagierte ein Mann aus der Spielebranche.
Es dauerte dann nur wenige Tage, bis die UN ihren „weltweiten Weckruf“ wieder zum Verstummen bringen mussten.
Was war passiert? Ein Blogger hatte kurz nach Erscheinen die 120 Quellenverweise in dem Report penibel durchforstet und war tatsächlich auf einige Ungereimtheiten gestoßen. Ungereimtheiten, die in einem anderen Zusammenhang vermutlich niemanden gestört hätten – aber wenn es um Kritik am Sexismus geht, ist man eben genau.
Sarah Parkes, Sprecherin der ebenso an der Veröffentlichung beteiligten „International Telecommunication Union“, entschuldigte sich für die „nicht den Standards entsprechenden Fußnoten“. Im Gespräch mit EMMA fügte sie ironisch hinzu: „Wir hatten bei diesem Thema durchaus mit Kritik gerechnet – aber von dieser Wucht sind wir dennoch überrascht.“ Parkes kündigte in Bälde den überarbeiteten Bericht an, „inklusive ergänzter Fußnoten.“
Die Entertainment Software Association (ESA), eine Art Unternehmerverband der Milliarden schweren Spiele-Industrie, bezeichnete das UN-Papier prompt als „uninformiert und irreführend“. Was war irreführend? Dass der UN-Report sich erlaubt hatte, darauf hinzuweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen gewalttätigen Videospielen und realer Gewalt gibt? Als sei das neu! Und nicht längst vielfach wissenschaftlich belegt.
Will dieser UN-Report etwa das Internet zensieren?
Die Vice-Journalistin Sarah Jeong ging so weit zu beklagen, dass der UN-Report über die sexistische Cyber-Gewalt gewagt hatte, die Auswirkungen des Internets auf die Pornoindustrie und die Prostitution überhaupt zu thematisieren. Und einige JournalistInnen und BloggerInnen klagten, hinter dem UN-Report stecke der verdeckte Versuch, das Internet zu zensieren und die Nutzer noch stärker zu überwachen.
Als Kanzlerin Merkel am Rande der UN-Generalversammlung Mark Zuckerberg dazu aufforderte, gegen die rassistische Hetze gegen Flüchtlinge auf Facebook vorzugehen, hagelte es Schlagzeilen. Denn Zuckerberg hatte auf den Tadel der „mächtigsten Frau“ der Welt mit „Yeah!“ geantwortet. Dabei sind die Konsequenzen des Frauenhasses im Netz schon rein quantitativ mindestens so schwerwiegend wie die des Fremdenhasses. Und ganz wie in der Offline-Welt funktionieren beide nach denselben perfiden Mechanismen. In Deutschland ist bis zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser EMMA-Text geschrieben wird, so gut wie kein Medium auf das Debakel um den verhinderten Report zur „Cyber-Gewalt“ eingegangen.
Die Konsequenzen von Rassismus und Sexismus für die Gesellschaft und die Ökonomie werden enorm sein, warnen ExpertInnen schon lange. Befragungen belegen, dass Frauen sich sowohl als Nutzerinnen als auch als Macherinnen aus dem Netz zurückziehen, weil sie in der digitalisierten Gesellschaft ausgeliefert sind. Was heißt, dass diese Frauen von der Zukunft abgeschnitten sein werden. Privat wie ökonomisch.
Von den ursprünglich 61 Seiten des UN-Reports ist zurzeit nur noch eine dreiseitige Bulletpoint-Liste übrig. Die Themen Videospiele, Prostitution und Pornografie werden nicht mehr erwähnt. Wir dürfen gespannt sein auf die Reaktionen, die ohne jeden Zweifel auch auf die neue Fassung des Reports kommen werden – vor allem in Sachen Fußnoten.
Der Artikel ist ein Auszug aus dem Dossier "World Wide Women" aus der November/Dezember EMMA 2015. Zur Dossierübersicht