Missbrauch: Im Namen des Herrn

Missbrauchsopfer Kerstin Claus mit Missbrauchsbeauftragter, Bischöfin Kirsten Fehrs. Foto: Heike Lyding/epd-bild/imago images.
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Als am 13. November 2018 die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs ans Rednerpult tritt und über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche spricht, ist es mucksmäuschenstill im Saal. Alle hören zu. So emotional, so klar und ehrlich hat in der evangelischen Kirche noch niemand öffentlich über das Thema gesprochen.

Einmal im Jahr tagt das oberste Parlament der evangelischen Kirche, die EKD-Synode. Die Sitzungen ziehen sich über mehrere Tage, es geht um Kirchengesetze, Budgets, um die Zukunft von Kirche und Gesellschaft. In den Ausschüssen wird bis in die Nacht gearbeitet und diskutiert, die Vorträge im Plenum sind da manchmal Nebensache. Doch diesmal ist es anders.

Fehrs ist 2018 sozusagen die Missbrauchsbeauftragte der Kirche, genauer: die Sprecherin des fünfköpfigen „Beauftragtenrates“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Das Gremium bündelt die Bemühungen um Aufarbeitung, Prävention und Anerkennungsleistungen. Denn die evangelische Kirche ist föderal aufgebaut, umfasst 20 Landeskirchen mit 20 BischöfInnen und 20 Synoden, eigenständigen Haushalten und Kirchengesetzen. Die EKD spannt sich darüber wie ein Dach, sie darf bei vielem mitreden und vieles anregen, aber sie kann die Landeskirchen zu nichts verpflichten.

Fehrs schildert an diesem Tag im November 2018 den Synodalen, wie perfide Täter vorgingen, wie sie die Schwäche von Konfirmandinnen und Konfirmanden ausnützten und wie sexuelle Gewalt Leben zerstöre. Den Betroffenen gelte „Respekt und Dank“ dafür, dass sie überhaupt noch mit der Kirche sprechen, sagt Fehrs, – nach all den Verletzungen, „die wir ihnen als Institution zugefügt haben“. Es gebe „nichts, aber auch gar nichts zu beschönigen, an dem unsensiblen und wirklich unangemessenen Verhalten seitens verschiedenster kirchlicher Stellen“.

Ein Elf-Punkte-Handlungsplan solle helfen, dass sich die Kirche von der Basis bis zur obersten Leitung eine „Haltung“ erarbeite und verinnerliche. „Eine Haltung, aus der heraus man sich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzt und dann auch den Verwundungen, Ängsten, den Forderungen und auch dem Zorn Betroffener mit Achtung begegnen kann.“ Die Perspektive von Betroffenen sei „konsequent einzubinden“.

Einige Synodale wischen sich Tränen aus den Augen, andere fordern „alles und wirklich alles zu tun, damit die Wahrheit ans Licht kommt und den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt“. Alle legen spontan eine Schweigeminute für die Opfer ein. Endlich, so scheint es, ist das Thema in der Mitte der Kirche angekommen. Im Jahr 2018!

Katharina Kracht, Mitglied im EKD-Betroffenenbeirat. Foto: Tristan Vankann/fotoetage
Katharina Kracht, Mitglied im EKD-Betroffenenbeirat. Foto: Tristan Vankann/fotoetage

Bereits in den 1990er Jahren hatten sich vereinzelt Frauen und Männer an die Kirchenämter gewandt und berichtet, was evangelische Pfarrer ihnen angetan hatten. 2010, als zahlreiche Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche öffentlich wurden, gingen die Betroffenen an die Medien, weil sie feststellen mussten, dass die beschuldigten Pfarrer mit milden Auflagen davon gekommen waren; ein Pastor im schleswig-holsteinischen Ahrensburg war lediglich diskret versetzt worden.

2010 machte auch Kerstin Claus ihre Erfahrungen mit einem Pfarrer der bayerischen Landeskirche öffentlich. Mitte der 1980er Jahre, sie war 14 Jahre alt, hatte sie ihm auf einer Konfirmandenfreizeit anvertraut, dass es zuhause und in der Schule gerade schlecht lief. Der junge Pfarrer half ihr, ermöglichte ihr den Wechsel auf ein Internat. Dafür musste Kerstin Claus seine Übergriffe ertragen. Erst viele Jahre später, nachdem sie geheiratet hatte und als Mutter selbst Verantwortung für ein Kind trug, wurde ihr bewusst, was damals gelaufen war. 2003 informierte sie die bayerische Landeskirche. Der Pfarrer gab einiges zu, dass es zu Geschlechtsverkehr gekommen sei, bestreitet er bis heute. Er sollte eine „Entschuldigung“ an Kerstin Claus schreiben, Distanz wahren und an einen gemeinnützigen Verein spenden. Das war alles. Er durfte weiterhin als Religionslehrer arbeiten und KonfirmandInnen betreuen.

2010 arbeitete Kerstin Claus als Nachrichtenredakteurin beim ZDF und hatte täglich mit den Meldungen zu Missbrauch in der katholischen Kirche, in der Odenwaldschule, in evangelischen Kinderheimen, in Ahrensburg zu tun. Sie schaute im Internet nach, was aus „ihrem“ Pfarrer geworden war. Sie sah, dass man ihn befördert hatte und dass er in seiner Gemeinde das Konfirmandenalter von 14 auf 12 Jahre heruntergesetzt hatte. Eine Kollegin von Claus berichtete in der Sendung „Mona Lisa“ darüber, und schnell beschäftigten sich die bayerischen Kirchenjuristen erneut damit. Diesmal ermittelte auch die Staatsanwaltschaft, doch nun waren die Übergriffe verjährt. Der Pfarrer blieb im Dienst, durfte aber keinen Kontakt mehr zu Kindern und Jugendlichen haben.

Mittlerweile sind in der evangelischen Kirche und in der evangelischen Diakonie 881 Fälle bekannt geworden. Doch erst im Dezember 2020 hat die EKD eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die alle Landeskirchen umfasst. Sie soll im Jahr 2023 Ergebnisse liefern. Ob die ForscherInnen öffentlich die Namen der TäterInnen und VertuscherInnen werden nennen dürfen, ist nicht klar. Auch nicht, ob leitende Geistliche ihre Posten räumen werden, wenn ihnen Vertuschung nachgewiesen wird. 2010 trat die nordelbische Bischöfin Maria Jepsen wegen der Vorgänge in Ahrensburg zurück. Sie ist bislang in der evangelischen Kirche die einzige, die einen solchen Schritt tat.

Forscher haben herausgefunden, dass in der katholischen Kirche der Zölibat, das selbstherrliche Priesterbild, männerbündische Machtstrukturen und die rigide Sexualmoral die Übergriffe begünstigten. Bei den Protestanten führte in den 1980er Jahren eher das Gegenteil zu einer „Kultur der Grenzverachtung“: die liberale Sexualmoral, gemischt mit reformpädagogischen Ideen. Pastoren gaben sich progressiv, kumpelten mit KonfirmandInnen, feierten mit ihnen Partys und senkten mit Alkohol die Hemmschwellen. Wer nicht mitmachte, galt als spießig und wurde ausgeschlossen. Anders als in der katholischen Kirche sind die Täter in der evangelischen Kirche nur zu einem Teil Pfarrer. Auch Erzieher, Leiter von kirchlichen Heimen und ehrenamtliche Mitarbeiter, etwa Leiter von Jugendgruppen, wurden übergriffig.

Die dezentralen Strukturen in der evangelischen Kirche halfen beim Verwischen der Zuständigkeiten, Seilschaften unter Theologen führten dazu, dass man Gerüchten nicht nachging und wegsah. Manche Einrichtungen entwickelten sich zu geschlossenen Gesellschaften, Kontrolle von außen gab es nicht.

Auch das evangelische Pfarrhaus – das als wohltuendes Gegenteil zum zölibatär lebenden katholischen Priester gilt – kann sich, wie in Ahrensburg, als Falle für Kinder erweisen. Dort hatte der Pastor über Jahre seine Stiefsöhne missbraucht. Die Machtposition des Vaters verstärkte sich durch die Amtsautorität des Pastors.

Nach der Synode 2018 richtete die EKD eine zentrale, unabhängige Anlaufstelle für Betroffene ein. Alle Landeskirchen ernannten Ansprechpartner und setzten Kommissionen ein, an die sich wenden kann, wer einen Antrag auf „Anerkennungsleistungen“ stellen will. Das ist nicht wenig.

Auch mit der Beteiligung von Betroffenen ging es voran. Auf der EKD-Synode 2019 hielt Kerstin Claus eine ebenso klare und eindringliche Rede wie Bischöfin Fehrs im Jahr zuvor. Sie machte den Synodalen klar, „welch unglaubliche Kraft“ es brauche, um sich an die Kirche zu wenden, weil das „Machtungleichgewicht“ dazu führe, dass sich Betroffene immer wieder neu ausgeliefert fühlten. Sie schärfte ihnen ein, wie wichtig es sei, dass die Bedürfnisse Betroffener „im Mittelpunkt von Aufarbeitung stehen“. Wieder hörten alle gebannt zu und dankten Kerstin Claus mit lautstarkem Applaus.

Im September 2020 nahm nach jahrelangen Forderungen von Betroffenen endlich der siebenköpfige EKD-Betroffenenbeirat seine Arbeit auf. Doch dann kam die Ernüchterung: Weder Kerstin Claus noch andere Betroffene wurden 2020 auf die Synode eingeladen. Die Parlamentarier tagten digital und zeitlich verkürzt. Deshalb habe man die „große Sorge“ gehabt, „dass wir die Bedürfnisse von Betroffenen in der digitalen Konferenz nicht berücksichtigen könnten“, erklärte Synoden-Präses Irmgard Schwaetzer. „Man hat uns so liebevoll beschützt, dass man uns erst gar nicht gefragt hat“, spottet Katharina Kracht, Mitglied im EKD-Betroffenenbeirat.

Einer, der die Betroffenen von Anfang an konsequent in den Mittelpunkt seiner Aufklärungsarbeit gestellt hat, ist Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Immer wieder mahnt er die Kirchen, die Expertise der Frauen und Männer ernst zu nehmen, die Missbrauch erlebt haben. Kerstin Claus arbeitet seit Jahren im Betroffenenbeirat beim Bundesbeauftragten mit und hat dort gelernt: „Betroffenenpartizipation geht nur mit klaren Strukturen, Empowerment, verbindlichem Mandat und Bezahlung“.

Davon sei man in der evangelischen Kirche noch weit entfernt, klagt Katharina Kracht. Man höre viele warme Worte, doch dann passiere wenig. „Sie werden Ihre Deutungshoheit aufgeben müssen und sich auf die vielfältigen Perspektiven Betroffener einlassen müssen“, hatte Kerstin Claus den Synodalen gesagt. Wie es scheint, haben noch nicht alle in der evangelischen Kirche den Mut dazu.

CLAUDIA KELLER

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