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Helene Hegemann: Bleibt fremd

Helene Hegemann. - FOTO: William Minke
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Es geht ums Überleben. Es geht immer ums Überleben bei Helene Hegemann, mit Gewalt und Wucht. Und um das Wahrgenommen-, das Gesehenwerden. In einer ihrer letzten Kurzgeschichten („Schlachtensee“) war die Protagonistin Surferin und warf sich mit Männermut gegen die Atlantikwellen. Jetzt ist die Protagonistin ihres neuen Romans Kampfsportlerin. Sicher scheint: Diese Frau kann jeden Vergewaltiger aufs Kreuz legen.

Alle Gefühle werden hier im und mit dem Körper ausgetragen. Doch dann passiert Irrationales. N, die in einem Hinterhaus, anscheinend Kreuzberg, lebt, umringt von Pennern, entdeckt geheimnisvolle Graffiti gegenüber ihrer Wohnung im 4. Stock. Wie konnte ein Mensch dahingelangen? Sie recherchiert. Es ist „Striker“ (der dem Buch den Titel gibt). Der Held ist allgegenwärtig in der Stadt und nirgends. Er radelt über Dächer, seilt sich von Hochhäusern ab und versucht, die Stubenhocker zu irritieren, wenn nicht gar zu erschrecken. Das würde N eigentlich auch gerne können.

Doch ihre Herausforderung lauert vor ihrer Wohnungstüre. Da nistet sich die obdachlose Yve ein, die N so etwas wie ihr dunkler Zwilling zu sein scheint. Sie macht ihr Angst. Könnte auch sie, N, in so eine Lage rutschen? Unstet, ein wenig irre und hochgefährdet. Sie könnte. Um Yve zu meiden, verlässt N von nun an nachts ihre Wohnung und streicht durch ihr Viertel. Sie kennt schon alle Penner – und fühlt sich ihnen beunruhigend nahe.

Manchmal nimmt sie die U-Bahn ins andere, feine Ende der Stadt. Da hat ihre aktuelle Affäre, eine Politikerin im Außenministerium, eine Villa. Deren Gartentor öffnet sich auf Knopfdruck und in ihren Mails kommen Wörter vor wie „gegebenenfalls“. Was N fremder ist als das Brabbeln der Obdachlosen vor ihrem Haus.

Sie bleibt fremd. Verloren. Am Rand der Welt.

Manchmal blitzen Erinnerungen an die Mutter von N hoch, eine Trinkerin. Auch die Mutter von Helene Hegemann hat sich zu Tode gesoffen. Sie starb, als Helene 14 Jahre alt war und zum getrennten, in Berlin lebenden Vater zog, ein linker Theatermacher. Sie begann zu schreiben. Sie ist 33 und war 18, als ihr viel beachteter Roman „Axolotl Roadkill“ erschien, enthusiastisch gelobt als „großer Coming-of-Age-Roman der Nullerjahre“. Sie war 15, als ihr erstes Theaterstück aufgeführt wurde: „Ariel 15“, Untertitel: „Die Grundlagen der Verlorenheit“.

Sie ging mit 16 Jahren von der Schule. Sie konnte nichts mehr lernen. Das Leben hatte ihr schon alles beigebracht.

Weiterlesen:
Helene Hegemann: Striker (Kiepenheuer & Witsch, 23 €)

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