Lenka Reinerová
Seit Wochen klettern die Bauarbeiter hoch oben auf dem Stahlgerüst des gläsernen Büropalastes herum. Zu ihren Füßen verlaufen die Straßenbahnschienen, über die im Minutentakt die Züge aus dem Prager Stadtzentrum in Richtung Vorstadt rattern, vorbei an den Fassaden, die grauer werden, je weiter man sich vom Zentrum entfernt. Hier draußen wohnt Lenka Reinerová, die große Dame der deutsch-tschechischen Literatur.
Das Rauschen der Straße dringt durch die zweiflügeligen Fenster in ihre Wohnung, oben, im vierten Stock, unter dem Dach eines der unscheinbaren Häuser an der Ausfallstraße. Doch wenn Reinerová hinausblickt, sieht sie mehr als graue Fassaden. Sie sieht die Vergangenheit: "Sind Sie an der Baustelle vorbeigekommen, an diesem neuen Glaskasten, der mal ein Bürogebäude wird? Früher stand da die Villa eines Fabrikanten, der Eisenbahnwaggons hergestellt hat." Wenn sie so erzählt, tief eingesunken in ihren grauen Sessel, dann klingt das nicht nach resignierter "Früher-war-alles-besser"-Rhetorik. Die liegt ihr nicht. Lenka Reinerová drückt sich neutral aus, sie konstatiert.
So tönen auch ihre Bücher. Lenka Reinerová beobachtet, notiert, verdichtet und erzählt. Ihre Geschichten sind autobiografisch gefärbt, häufig nimmt sie den Leser mit auf ihre Streifzüge durch die Stadt, in der sie jede Straßenecke an eine andere Begebenheit aus vergangener Zeit erinnert. Sie sagt: "Ich habe so viel gesehen und erlebt, da muss ich keine Handlung mehr erfinden." Die Freunde und Weggefährten aus der Jugend hat sie allesamt überlebt: Egon Erwin Kisch, Anna Seghers, Max Brod und die anderen, die in den frühen 1930er Jahren die Prager Literaturszene prägten.
Die letzte deutschsprachige Autorin Prags. Das ist mehr als eine Tatsache. Da klingt immer Ehrfurcht mit vor der Biografie der deutsch-tschechischen Jüdin, die in ihrem Leben so viel überstanden hat: den Holocaust, die stalinistischen Säuberungen in der Tschechoslowakei, eine schwere Krebserkrankung. "Wenn ich jetzt Briefe schreibe mit der Datumszeile 2006 - das erscheint mir selbst unwahrscheinlich. Dass ich jetzt schon fast ein ganzes Jahrhundert hier herumlaufe!"
Natürlich, sie hatte Glück. Aber vielleicht hat auch ihre erfrischende Offenheit dem Glück den Weg erleichtert. So kommt sie 1933 mit 16 Jahren in die Prager Literaturkreise: Sie inszeniert Erich Kästners "Pünktchen und Anton" und lädt zur Theatervorstellung übermütig alle Theaterkritiker von Rang und Namen ein. "Zu meinem Entsetzen sind die tatsächlich gekommen, sogar Max Brod war da", erzählt sie.
"Ein wenig zu lapidar" sei die Vorstellung gewesen, schreibt Franz Carl Weiskopf von der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) über die Premiere. Da muss Reinerová noch heute schmunzeln: "Ich wusste zwar nicht, was das Wort bedeutet, aber immerhin hat er mich seither für seine Zeitung schreiben lassen." Sie dürfte die jüngste Autorin der AIZ gewesen sein.
Eine illustre Truppe, weil sich in der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei die Exilanten aus ganz Deutschland treffen. Im Mittelpunkt der Szene steht Egon Erwin Kisch, damals schon eine Reporterlegende. Ihm, dem 50-Jährigen, begegnet Lenka Reinerová mit 19: "Ein richtig alter Greis war das in meinen Augen, der an keinem weiblichen Wesen vorbeigehen konnte." Die junge Autorin kanzelt ihn ab - und erwirbt sich so die Achtung Kischs. Mit seiner Hilfe schlägt sie sich nach der Invasion der Nazis 1939 über Paris, Marseille und Casablanca bis nach Mexiko-City durch. Dort wohnt sie ein Stockwerk über Kisch. Beide träumen von der Diktatur des Proletariats. "Ich fand das eine absolut vertretbare, gerechte Forderung. Die, die nie etwas hatten, sollten auch einmal an die Reihe kommen", erinnert sich Lenka Reinerová. Deshalb geht sie nach dem Krieg nach Prag zurück.
Dann, an einem Freitagmorgen 1952 holt der Sicherheitsdienst sie ab. Einfach so, ohne Vorwarnung. Es ist die Zeit der stalinistischen Säuberungen. Sie ist Jüdin, war jahrelang im Exil, kennt viele Leute - das genügt, um sie verdächtig zu machen. 15 Monate lang sperrt man sie in eine Zelle ohne Tageslicht. Untersuchungshaft. Sie hat keinen Kontakt zu ihrem Mann, zu ihrer kleinen Tochter. Sie darf nicht lesen, darf nicht schreiben. Die Erinnerungen an die Zeit im Gefängnis arbeitet Reinerová viel später in ihrem Buch "Alle Farben der Sonne und der Nacht" auf. Es ist erst vor drei Jahren erschienen. Seit der Wende veröffentlich Lenka Reinerová viel. Fünf Bände mit ihren Erzählungen sind allein seit 1996 erschienen. Ihr jüngstes Buch hat Lenka Reinerová ganz ihrer Stadt gewidmet, ihrem "närrischen Prag".
Sie muss einfach schreiben, weil ihre Stadt sich so rasant verändert. Weil im Stadtzentrum neben ihrer ersten eigenen Wohnung aus den Jugendtagen heute ein Museum für Sexspielzeug steht, weil Touristen in grellbunten Kafka-Pullis die Altstadtgassen verstopfen und im Judenviertel Marionetten- Rabbis feilgeboten werden. Auf ihre Neugier auf das Leben in der Stadt hat ihr Alter keinen Einfluss. Nur das Tempo ihrer Streifzüge durch Prag ist etwas langsamer geworden. Vor allem aber eins hat sich geändert, sagt Reinerová: "Früher habe ich die Passanten und die Umgebung beobachtet. Heute nicht mehr. Heute nehme ich sie wahr - das hat eine andere Intensität!"
Alle Bücher von Reinerová: Aufbau Verlag.