Sie sind schwach & stark zugleich

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An einem kalten Winterabend nehme ich in Delhi an einer Veranstaltung teil, die eine Organisation für Kinderrechte organisiert hat. Neben mir sitzt eine große, schlanke Frau. Sie ist anders angezogen als ich, es ist offensichtlich, dass sie aus einem nordindischen Dorf kommt. Ihr Name ist Bhanwri. Bhanwri gehört dem untersten Ende im Spektrum der Kasten und Klassen Indiens an. Sie ist arm, ihr Mann ist Töpfer, beide bestreiten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie Terrakottatöpfe herstellen und verkaufen, in denen man Wasser aufbewahrt.

Bhanwri hat aber auch eine andere ­Geschichte. Anfang der 1990er-Jahre arbeitete sie in ihrem Heimatstaat Rajasthan bei einem großen Entwicklungsprojekt mit, dem Women’s Development Programme. Eine ihrer Aufgaben war es, das Gesetz gegen Kinderehen bekannt zu machen und Eltern zu überzeugen, ihre Kinder zur Schule gehen zu lassen, anstatt ihre Ehen zu arrangieren.

Dabei geriet sie mit einer Familie einer höheren Kaste aneinander, die im Begriff war, ihre kleinen Kinder zu verheiraten. Als Bhanwri sie daran hindern wollte, beschlossen die Männer – aufgebracht, weil eine Frau einer niederen Kaste es wagen konnte, ihnen zu sagen, was sie zu tun hatten –, ihr eine Lehre zu erteilen. Als sie draußen auf dem Feld arbeitete, vergewaltigten sie vier dieser Männer.

Das löste eine Protestwelle von Frauengruppen in Rajasthan und im ganzen Land aus. Die Tat löste auch Diskussionen innerhalb der Frauenbewegung aus. Bhanwri war zum Zeitpunkt der Vergewaltigung ihrer Arbeit nachgegangen. Wie, fragten Frauengruppen, sollte ein Arbeitsplatz definiert werden? Kann ein Feld als Arbeitsplatz verstanden werden? Und hatte die Arbeiterin – in diesem Fall Bhanwri – dann nicht das Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz?

Die Frauen reichten eine Petition – die sich als historisch erweisen sollte – beim obersten indischen Gerichtshof ein. Darin wurden Maßnahmen für die Sicherheit und den Schutz von Frauen am Arbeitsplatz gefordert. Das führte schließlich zu einem strengen Gesetz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, das heute alle Büros, Institutionen, Fabriken etc. verpflichtet, Maßnahmen zur Verhinderung sexueller Belästigung zu ergreifen und sich mit Vorfällen, die sich trotz allem ereignen, zu befassen.

Am Morgen vor meiner Begegnung mit Bhanwri hatte ich an der Veranstaltung eines großen Unternehmens teilgenommen, wo Gender-Diskriminierung am Arbeitsplatz das zentrale Thema war. Der große Saal war mit Hunderten von Frauen und einigen Männern gefüllt, die darüber debattierten, wie wichtig es sei, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Haupttagespunkt war die sexuelle Belästigung, und ein Firmenchef nach dem anderen betrat die Bühne und sprach über die Notwendigkeit, sich mit diesem lange totgeschwiegenen Problem zu befassen.

Hunderte Millionen von Frauen leben in Indien wie Bhanwri in Armut und sind Vorurteilen und Gewalt ausgesetzt. Doch jeder Kampf, der gekämpft wird, jeder kleine Sieg, der errungen wird, zeugt von dem außergewöhnlichen Mut und der Widerstandsfähigkeit der Frauen. Da ist zum Beispiel die Geschichte von Baby Halder. Baby kam arm zur Welt und hatte ein mühsames Leben. Ihre Mutter, die von der Alkoholsucht ihres Ehemanns ­genug hatte, lief davon, als Baby noch ein Kind war. Also fiel die Aufgabe, den Haushalt zu führen, Baby und ihrer knapp zwei Jahre älteren Schwester zu.

Als sie zwölf war, wurde Baby mit einem Mann verheiratet, der mehr als doppelt so alt war. Es stellte sich heraus, dass er keine Arbeit hatte, gewalttätig und ­alkoholsüchtig war. Im Alter von 13 Jahren wurde sie Mutter. Sie bekam zwei weitere Kinder und lebte in größter Armut. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, nahm ihre drei Kinder, stieg ohne Fahrkarte in einen Zug und fuhr nach Delhi. Dort arbeitete sie in einem Haushalt und mühte sich ab, über die Runden zu kommen und ihre Kinder großzuziehen.

Eines Tages fand sie eine Arbeit im Haus eines emeritierten Professors. Dem fiel Babys Liebe zu Büchern auf. Er ­ermunterte sie zu lesen. Wenig später gab er ihr ein Notizbuch und schlug ihr vor, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Das tat sie – ihr Buch wurde sofort ein Bestseller. Heute ist Baby, die Sexarbeiterinnen in Kolkata betreut, eine interna­tional publizierte und gefeierte Autorin.

Oder nehmen wir die Geschichte von Salma, deren wirklicher Name Rokkiah ist. Sie kommt aus einer kleinen, eng verbundenen muslimischen Gemeinschaft im Bundesstaat Tamil Nadu. In ihrem Dorf war es Tradition, die Mädchen, sobald sie ihre Menstruation bekamen, aus der Schule zu nehmen und bis zur Heirat zu Hause zu behalten. Salma war keine Ausnahme. Vom Teenageralter bis sie fast zwanzig war, hielt sie sich mehr oder ­weniger in den vier Wänden ihres Zuhauses auf. In dieser Zeit schmuggelte ihr Bruder, ein Autor, Bücher für sie ins Haus. Und ihre Mutter schmuggelte die von ihrer Tochter geschriebenen Gedichte raus und ließ sie unter dem Pseudonym Salma veröffentlichen.

In diesen Gedichten quälte sich die ­Verfasserin damit, ihren Körper und seine Begierden zu verstehen. Salma wurde rasch als Autorin erotischer Gedichte bekannt und versetzte das literarische Establishment von Tamil Nadu in helle Aufregung. Weil sie aber unter einem Pseudonym schrieb, wusste niemand, wer sie wirklich war.

Als Salma zwanzig wurde, verheiratete man sie mit einem Mann aus einem Nachbardorf. Der kandidierte in dieser Gegend regelmäßig für politische Ämter und war gewählt worden. Kurz darauf führte der indische Staat die Gesetze ein, die Salmas Leben ändern sollten – wie das von Hunderttausenden anderen indischen Frauen auch: 1992 erließ die Regierung ein Gesetz, das es zur Pflicht machte, bei Dorf- und Kommunalwahlen 33 Prozent der Sitze für Frauen zu reservieren.

In der ersten nun folgenden Wahl traten 1993/94 in ganz Indien fünf Millionen Frauen an. Jede Hundertste der auf dem Land lebenden Frauen führte einen Wahlkampf, von diesen Frauen gelangten 800.000 an die Macht. Eine von ihnen war Salma.

Für Salma war der Kampf nicht leicht gewesen: Ihr eigener Mann konnte nicht mehr kandidieren, weil das Amt, das er seit Längerem innegehabt hatte, nun für Frauen vorgesehen war. In vielen solchen Fällen verlangten die Familien von ihren Frauen, die Männer zu „vertreten“ und auf diese Weise zu Erfüllungsgehilfinnen zu werden. Das verlangte man auch von Salma. Doch es kam anders: Salma war in der Politik sofort in ihrem Element, ihre schriftstellerische Arbeit setzte sie gleichzeitig fort. Heute inspiriert Salma Millionen von Frauen.

Eine andere Geschichte ist die von Faustina Bama, einer Schriftstellerin, die zur Gemeinschaft der Dalit gehört, die in der Rangfolge der Kasten an allerunterster Stelle steht. Bama wurde in ihrem Dorf von Angehörigen oberer Kasten stark diskriminiert. Da sie nicht wollte, dass andere Dalits und vor allem die jungen Mädchen dieselbe Art von Diskriminierung erleben müssen, trat sie in die Kirche ein und wurde Nonne. Sie dachte, dadurch könne sie Mädchen unterrichten und ihnen helfen, ihre Lebensumstände zu verbessern. Sieben Jahre später verließ Bama die Kirche wieder. Sie hatte festgestellt, dass diese genauso patriarchalisch und ungerecht ist wie das Kastensystem.

Bama wurde schließlich Schriftstellerin und berichtete bewegend und leidenschaftlich über ihre Erfahrungen. Ihr erstes Buch, der autobiografische Roman Karruku, brachte ihr den Zorn ihrer eigenen ­Gemeinschaft ein. Die war zunächst der Ansicht, dass Bama sie „bloßgestellt“ hätte. Heute ist Bama nicht nur eine bekannte Autorin, deren Werke im In- und Ausland veröffentlicht werden, sondern ähnlich wie Baby und Salma eine Inspirationsfigur für Hundertausende indische Frauen.

Bhanwri, Baby, Salma und Bama – ihre Geschichten sind mehr als nur Geschichten von Einzelpersonen. In Indien findet man Tausende solcher Geschichten, die vom Mut und von der Widerstandskraft von Frauen handeln. Viele dieser Frauen kommen aus ärmlichen Verhältnissen und sind unterprivilegiert. Doch auch Frauen, die aus einem reichen und gebildeten Milieu stammen, sind ihren Weg gegangen. Unter ihnen sind Bankerinnen (einige der wichtigsten Banken ­Indiens werden von Frauen geleitet), weibliche Industrielle (im Transportwesen und Gastgewerbe, der Zucker- und der Medizinindustrie), Politikerinnen (es gab eine Premierministerin und auch das Ministerpräsidentenamt wird in einigen der wichtigsten indischen Bundesstaaten von Frauen bekleidet), Flugkapitäninnen (private Fluggesellschaften stellen heute verstärkt Pilotinnen ein), Künstlerinnen, Fotografinnen, Journalistinnen oder Autorinnen.

Wie passen diese widersprüchlichen Realitäten zusammen? Was ist die wahre Geschichte indischer Frauen? Eine, die von Unterdrückung und Diskriminierung handelt – oder eine, die von Kampf und Errungenschaften erzählt? Wie immer bei solchen Fragen gibt es keine einfachen Antworten.

Schon bald nach der Gründung des neuen Nationalstaats 1947 zeigten sich die ersten Bruchlinien. An die Stelle des anfänglichen Optimismus und der Hoffnung trat Enttäuschung. Es keimten überall im Land Protestbewegungen auf und in praktisch allen waren Frauen aktiv.

Eine der ersten Kampagnen dieser noch jungen Frauenbewegung wandte sich gegen sexuelle Gewalt. Sie war durch den Freispruch zweier Polizisten, die ein minderjähriges Mädchen namens Mathura vergewaltigt hatten, ausgelöst worden. Die Tat verbreitete sich im ganzen Land wie ein Lauffeuer und führte 1983 schließlich zu den ersten wesentlichen Änderungen im Strafgesetz gegen Vergewaltigung.

Das, was später als Fall Mathura bekannt wurde, machte Gewalt gegen Frauen zum Schlüsselthema der Frauenbewegung. In den folgenden Jahren griffen Gruppen im ganzen Land dieses Thema auf: die selektive Abtreibung weiblicher Föten oder die Verwendung nicht getesteter Verhütungsmittel bei Frauen; die häusliche sowie die mit der Mitgift in Zusammenhang ­stehende Gewalt oder den Kinderhandel.

Die wohl schärfsten Probleme betrafen aber das Kastensystem. Die Frauengruppen der Dalits fragten, warum der Mainstream der Frauenbewegung im Hinblick auf ihre Realität und die kastenbedingte Diskriminierung so blind gewesen sei. Warum galt die Realität einer Elite als „Norm“ und wurden alle anderen Realitäten als Abweichungen angesehen? Sie verglichen ihre Diskriminierung mit der Rassendiskriminierung: ein Mal, mit dem man geboren wird und das einen das ganze Leben lang verfolgt.

Die Frauenbewegung besteht bis heute aus einer Vielzahl von Kampagnen und lokal aktiven Gruppen, die unabhängig voneinander arbeiten, in entscheidenden Momenten aber zusammenkommen.

Mit dem Aufkommen des Internets hat aber auch hier ein Wandel eingesetzt. Obwohl die Reichweite in Indien noch immer begrenzt ist und Zugang und Nutzung nach wie vor geschlechtsabhängig sind, hat sich das Internet als wertvolles Instrument zur Mobilisierung und Raum für Kommunikation erwiesen. Heute gibt es zahlreiche, meistens von jungen Feministinnen betriebene Websites, auf denen feministische Anliegen diskutiert werden und die daran arbeiten, Archive einzurichten und Diskussionen anzustoßen.

Als im Dezember 2012 eine junge Medizinstudentin von einer Gruppe Männer vergewaltigt wurde und daraufhin starb, brachen in den mittleren Städten und Großstädten in ganz Indien Proteste aus. Das Internet stellte sich dabei als entscheidend heraus. Die Medien berichteten live. Bilder, Slogans, Plakate, Lieder und Reden wurden im ganzen Land bekannt, was zur Entstehung einer ungewöhnlichen Bewegung führte, die Jung und Alt, unterschiedliche Klassen und Gemeinschaften, Frauen und Männer, Studenten und Familien vereinte. Das Resultat war, dass der Staat gezwungen war zu handeln. Ein Jahr später wurde ein neues Gesetz formuliert und erlassen.

Ende 2017 begann eine Gruppe junger Frauen auf Facebook eine Liste mit Namen #MeToo zu führen, in der einige hochrangige Universitätsdozenten der sexuellen Belästigung beschuldigt wurden. Wie so oft im Internet breiteten sich diese Posts wie ein Virus aus und führten zu hitzigen Debatten. Die Frauenbewegung ist weltweit.

Information:
Die Autorin hat 1984 den ersten feministischen Verlag Indiens ‚Kali‘ mitgegründet. Heute ist sie verantwortlich für den Verlag Zubaan.

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