Für eine Welt ohne Prostitution

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Als die Mainzer Erklärung verlesen ist, sprechen noch einmal diejenigen, die am ­besten wissen, warum sie eine Welt ohne Prostitution fordern: Die Frauen, die selbst jahre- oder gar jahrzehntelang ihren Körper verkauft haben, und die bis heute darunter leiden, was das mit ihnen angerichtet hat. „Wir müssen gemeinsam dafür kämpfen, dass die Bordelle in Deutschland geschlossen werden“, sagt Rosen Hicher. 22 Jahre lang hat die 63-jährige Französin sich „freiwillig“ prostituiert, dann wurde sie eine der lautesten Stimmen Frankreichs gegen das „System Prostitution“ und für die Freierbestrafung. Heute bezeichnet sie Bordelle als „Frauengefängnisse“.

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„Wir können nicht akzeptieren, dass es als ‚Arbeit’ gilt, vaginal, anal und oral penetriert zu werden!“ sagt Amelia Tiganus. „Das System Prostitution schafft Orte, an denen Männer ihre patriarchale Macht weiter ausüben können. Weil die Freier kein Nein hören wollen, kaufen sie ein Ja.“ Die 35-jährige Rumänin wurde mit 18 an einen spanischen Zuhälter verkauft und kämpft heute mit ihrer ­Initiative „Feminicidio“ für ein Sexkaufverbot.

„Die deutsche Regierung muss endlich denjenigen zuhören, die die Prostitution überlebt haben und den Mut haben, darüber zu sprechen!“ sagt Sandra Norak. Die 29-jährige Deutsche war 18, als sie in die Fänge eines so genannten Loverboys geriet. Sechs Jahre lang prostituierte sie sich für ihn, nach rechtlicher Definition „freiwillig“. Heute studiert Sandra Jura und fordert vom deutschen Staat, dass er endlich das tut, was von den Vereinten Nationen bis zum EU-Parlament alle tun: Die Prostitution als „besonders verabscheuenswürdige Verletzung der Menschenwürde“ zu ächten.

Sodann gehen alle nach vorne, die die Mainzer Erklärung unterzeichnet haben. Das sind so viele, dass die Bühne des Hörsaals aus allen Nähten platzt. Es ist eine breite Front, die sich da zusammengeschlossen hat. Allen voran 20 ehemalige Prostituierte, die sich „Survivors“ nennen: Überlebende. Außerdem: 87 Organisationen aus 20 Ländern und europäische Frauenverbände. Ebenso wie EMMA und Alice Schwarzer, die den Kongress mit einem Vortrag über „Prostitution und Feminismus“ eröffnet hat.

Sie alle fordern die deutsche Regierung auf, „anzuerkennen, dass es sexuelle und sexistische Gewalt ist, sich den Zugang zum Körper eines Menschen zu erkaufen“ und „den Sexkauf zu bestrafen“.

Denn Prostitution ist „Weder Sex noch Arbeit!“ – so lautet der Titel des „3. Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen“, der vom 2. bis 4. April in Mainz stattfand. 350 Menschen – überwiegend Frauen, aber auch ­etliche Männer – kamen auf Einladung der ­Coalition for the Abolition of Prostitution (CAP) an die Johannes-Gutenberg-Universität. Das internationale Netzwerk CAP wurde 2013 gegründet, hat 27 Mitgliedsorganisationen aus 20 Ländern von Irland bis Indien, fast alle wurden von ausgestiegenen Prostituierten (mit)gegründet und alle unterstützen Frauen und Mädchen in der Prostitution beim Ausstieg. Wie die deutschen CAP-Mitglieder Sisters und Solwodi. Sisters, im September 2015 gegründet u. a. von der Streetworkerin Sabine Constabel, unterstützt Frauen in der Prostitution beim Ausstieg und ist zu einer wichtigen Stimme im Kampf gegen das System Prostitution geworden. Solwodi (Solidarity with Women in Distress) wurde 1987 in Kenia von Schwester Lea Ackermann ins Leben gerufen, hat heute 18 Beratungsstellen auch in Deutschland und hat den 3. CAP-Weltkongress in Mainz ausgerichtet. Drei Tage lang ging es um das System Prostitution, seine desaströsen Folgen und den Kampf dagegen.

Den Auftakt machte der „Survivor’s March“. Am 25. März setzte sich Rosen Hicher zusammen mit neun weiteren „Überlebenden“ aus Deutschland, Irland, Südafrika, Kanada, Australien, Rumänien und den USA in Bewegung. Ihr Weg war hochsymbolisch: Die Kämpferinnen für eine Welt ohne Prostitution starteten im französischen Straßburg, wo Sexkäufer bestraft werden, und gingen über die Europabrücke nach Kehl, in ein Land, in dem Prostitution erlaubt ist.

In Deutschland protzen heute Rockstars mit ihrer „Nacht im Puff“, feiern 18-Jährige ihr Abitur mit einem Puffbesuch, werben Bordelle auf Großplakaten oder auf Taxis, sind BordellbetreiberInnen BeraterInnen der Politik. Acht Tage und 207 Kilometer marschierten die Frauen, gaben Interviews, wurden von Bürgermeistern empfangen und verbreiteten so ihre Botschaft: „Listen to Survivors!“ – „Prostituton = Violence“. Und: „Sagt Ja zur Kriminalisierung der Freier!“

Zwei von drei Prostituierten haben eine Posttraumatische Belastungsstörung, berichtet auf dem Kongress Michaela Huber, Psychotherapeutin und Vorsitzende der „Gesellschaft für Trauma und Dissoziation“. Weit überdurchschnittlich viele Frauen waren als Kind oder Jugendliche Opfer von Missbrauch und Vergewaltigung. 85 bis 95 Prozent der befragten Prostituierten wollen aussteigen. Aber dazu braucht es Beratungsstellen und TherapeutInnen, die nicht der Ansicht sind, Prostitution sei „ein Beruf wie jeder andere“. In Deutschland, wo man allzu oft dieser Ansicht ist bzw. Beratungsstellen von der Pro-Prostitu­tionslobby unterwandert sind, sind solche Ausstiegshilfen Mangelware.

Anders in Frankreich, wo inzwischen 78 NGOs mit ihren Ausstiegs-Programmen zertifiziert sind, wie Claire Quidet vom französischen „Mouvement du Nid“ berichtet. Finanziert werden sie unter anderem aus den Geldstrafen für die Freier: 4.000 Sexkäufer wurden seit der Einführung der Freierbestrafung im April 2016 zu einer Geldbuße verdonnert.

Französische Männer, die Frauen zur sexuellen Benutzung kaufen, können auch in einen Sensibilisierungskurs geschickt werden. Veranstaltet werden diese Kurse u. a. von der Fondation Scelles. Der Neffe des Stiftungs-Gründers Jean Scelles, Philippe, ist heute ebenfalls in Mainz. „Mein Onkel war in der Résistance und hat 1941 mit einem Zuhälter in Algerien eine Gefängniszelle geteilt. Was der meinem Onkel erzählte, hat ihn so geprägt, dass er 1956 die Aktionsgruppen gegen den Frauen- und Kinderhandel gründete und 1992 die Fondation Scelles.“ Heute tritt die Stiftung mit ihren Anwälten als Nebenklägerin in Prozessen gegen Zuhälter auf, fördert Kampagnen und sammelt im „Centre de Recherches Internationales et de Documentation sur l’Exploitation Sexuelle“ Studien, Artikel und Dokumente. „Prostitution ist fast immer mit Armut, sozialen Notlagen, Gewalterfahrungen als Kind oder Jugendliche, mit Menschenhandel und dauernder Gewalterfahrung verbunden“, erklärt Prof. Gerhard Trabert. Der Sozial­mediziner, der in Mainz als Arzt für Obdachlose arbeitet, hat viel gesehen. Deshalb engagiert er sich mit seinem Verein „Armut & Gesundheit“ für die heutigen „Verdammten dieser Erde“ im Kampf gegen die Prostitution.

Die amerikanische Psychologin Melissa Farley hatte bereits früher mit Frauen in der Prostitution die desaströsen Folgen für Körper und Seele der Frauen erforscht. In ihrer aktuellen Studie beschäftigt sie sich mit den Motiven der Freier. Mehrere hundert Sexkäufer in fünf Ländern hat sie inzwischen befragt und berichtet von den ersten Ergebnissen ihrer Studie. Das Fazit von Psycho­login Farley ist klar: „Die Freier wissen genau, was sie tun!“

Acht Länder haben inzwischen die Freier­bestrafung eingeführt: 1999 machte Schweden den Anfang, es folgten Norwegen, Island, Kanada, Nordirland, Frankreich, Irland und zuletzt, im Januar 2019, Israel. Die Regierungen und Parlamente dieser Länder haben begriffen, dass in der Prostitution „die jüngsten, ärmsten und am meisten diskriminierten Frauen massiv überrepräsentiert sind und dass Prostitution gespeist wird von Armut, Sexismus und Rassismus“. Die Regierungen und Parlamente dieser Länder haben verstanden, dass man das „System Prostitution“, das ohne Frauenhandel nicht funktioniert, nur effektiv austrocknen kann, indem man die ins Visier nimmt, die die Nachfrage nach der Ware Frau überhaupt erst schaffen: die Freier.

Und Deutschland? „Deutschland ist eines der wenigen Länder der Welt, das Bordellbetreibern, Zuhältern und Freiern Straffreiheit und gesetz­lichen Schutz garantiert“, heißt es in der Erläuterung zur Mainzer Erklärung. Die Unterzeichnenden weisen Deutschland darauf hin, dass es mit seinem skandalösen Sonderweg, den das Land seit der fatalen rot-grünen Prostitutionsreform nun seit 17 Jahren geht, gegen gleich mehrere internationale Abkommen verstößt.

Allen voran gegen die Resolution der UN-Generalversammlung von 1949. „Die Prostitution und das sie begleitende Übel des Menschenhandels sind mit der Würde und dem Wert des Menschen unvereinbar“, erklärten die Vereinten Nationen. Deshalb seien nicht nur Bordellbetreiber zu bestrafen, sondern auch „jede Person, die eine andere Person, selbst mit deren Einwilligung, zu Zwecken der Prostitution beschafft, sie dazu verleitet oder verführt“ oder „die Prostitution einer anderen ­Person, selbst mit deren Einwilligung, ausnutzt“.

Selbst mit deren Einwilligung. Damit hat die UN-Generalversammlung, in der auch die Frauen­rechtlerin und Präsidentengattin Eleanor Roosevelt Mitglied war, bereits 1949 klar gemacht, dass Prostitution auch dann ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist, wenn sie angeblich „freiwillig“ passiert. Die Unterteilung in „gute“ (= freiwillige) und „schlechte“ (= unter Zwang) Prostitution ist also für die Staatengemeinschaft schon seit 70 Jahren Makulatur.

So sieht es auch das EU-Parlament, das im ­Februar 2014 mit Zwei-Drittel-Mehrheit erklärte, dass „nicht nur Zwangsprostitution, sondern auch freiwillige sexuelle Dienstleistungen gegen Bezahlung die Menschenrechte und die Würde des Menschen verletzen“. Prostitution sei „mit der Gleichstellung der Geschlechter nicht vereinbar“. Fazit der Resolution: „Die EU-Staaten sollen die Nachfrage nach Prostitution eindämmen, indem sie die Freier bestrafen und nicht die Prostituierten.“ Ein Jahr später schloss sich der Europarat dem EU-Parlament an und empfahl den EU-Mitgliedsstaaten das so genannte Schwedische Modell, sprich: Strafen für Freier, Entkrimina­lisierung und Ausstiegshilfen für Prostituierte.

Deutschland jedoch setzt sich mit seiner Laisser-faire-Haltung sogar gegen das „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ hinweg. Dieses so genannte CEDAW-Dokument der UN ist das weltweit wichtigste Abkommen zur Gleichstellung der Geschlechter, auch Deutschland hat es unterzeichnet. Umso erstaunlicher, dass die deutsche Regierung Artikel 6 des Abkommens schlicht ignoriert. Der lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Abschaffung jeder Form des Frauenhandels und der Ausbeutung der Prostitution von Frauen.“

Bald wird sich auch die „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) in die Riege derer einreihen, die das System Prostitution in ihren 57 Mitgliedsstaaten bekämpfen wollen – mit dem Schwedischen Modell. Das ist sensationell. „Die OSZE wird das abolitionistische Modell übernehmen“, erklärte Tatiana Kotlyarenko, OSZE-Beauftragte für Menschenhandel, auf dem Mainzer Weltkongress. „Wir nennen es das Gleichheits-Modell.“ Ziel: „Eine Welt ohne Prostitution.“

Und Deutschland? Deutschland wird immer einsamer mit seiner Pro-Prostitutions-Gesetz­gebung, die das Land zum Paradies für Freier und Menschenhändler und zum „Bordell Europas“ gemacht hat. Daran hat auch die viertelherzige Reform der Reform, das „Prostituiertenschutz­gesetz“, nichts geändert, aus dem die SPD alles wieder herausverhandelt hat, was den Ausbeutern und Profiteuren der „Sexindustrie“ auch nur halbwegs geschadet hätte. Das einzig brauchbare Instru­ment, die Anmeldepflicht, wurde so verwässert, dass es sich anderthalb Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes als Luftnummer erwiesen hat. Doch immer noch verteidigt das zuständige Frauenministerium sein Gesetz, das „die Handschrift der Pro-Prostitutionslobby trägt“, wie Alice Schwarzer auf dem Kongress bei ihrem Eröffnungsvortrag erklärte.

Und so verwundert es auch nicht, dass ausgerechnet das Frauenministerium weiterhin unhinterfragt die Propaganda der Pro-Prostitu­tionslobby verbreitet. „Wo die Prostitution verboten ist, ist sie nicht mehr sichtbar – aber dennoch vorhanden und vermutlich mit größeren Gefahren für die Prostituierten verbunden“, heißt es auf Anfrage von EMMA aus dem Frauenministerium. „Aus Ländern, in denen die Prostitution oder die Nachfrage nach Prostituierten verboten ist, wird vielfach berichtet, dass es dadurch kaum mehr möglich ist, Betroffenen und auch Ausstiegswilligen Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen.“

Das ist schlicht falsch. Und es stellt sich die Frage, von wem die Damen und Herren im Frauen­ministerium diese Informationen wohl haben mögen. Von Per-Anders Sunesson jedenfalls nicht. „Interpol hat erklärt, der schwedische Markt für Frauenhandel ist quasi tot“, berichtet der schwedische „Sonderbotschafter für die Bekämpfung des Menschenhandels“ (!) auf dem Mainzer Weltkongress. Und das ist geradezu logisch. In Schweden existieren heute weder ­Bordelle, geschweige denn Rotlichtviertel. „Die Frauen in der Prostitution haben keine Angst mehr, mit der Polizei zu sprechen“, erklärt Sunesson. Wer ein Geschäft zwischen einer Prostituierten und einem Freier anbahnt, macht sich automatisch strafbar.

Und dann ist da noch etwas: „In den 20 Jahren, in denen wir den Sexkauf bestrafen, hat sich in Schweden ein Sinneswandel vollzogen“, berichtet der Sonderbotschafter. „80 Prozent der Bevölkerung befürworten das Gesetz, Frauen wie Männer. Mein 28-jähriger Sohn zum Beispiel findet es absolut undenkbar, einen Menschen für Sex zu bezahlen.“

Am 8. März 2019 haben Schweden und Frankreich eine gemeinsame Erklärung abgegeben. „Sexuelle Ausbeutung wird so lange existieren, wie es eine Nachfrage nach Mädchen und Frauen in der Prostitution gibt“, erklärten die AußenministerInnen Margot Wallström und Jean-Yves Le Drian. „Deshalb wollen wir mehr Länder darin bestärken, die Gesetzgebung von Schweden und Frankreich zu übernehmen.“

Längst hat sich auch in Deutschland ein Bündnis aus feministischen und abolitionistischen Initiativen von Sisters über Solwodi bis Terre des Femmes zum Bündnis „Stop Sexkauf“ zusammengeschlossen. Seit der EMMA-Kampagne „Prostitution abschaffen!“ vom Herbst 2013, die eine öffentliche Debatte lostrat, geht das Gerede von der Prostitution als „Beruf wie jeder andere“ nicht mehr unwidersprochen durch. Spätestens das Urteil gegen Deutschlands Vorzeige-Bordellbetreiber Jürgen Rudloff zeigt, dass die „saubere Prostitution“ eine Illusion ist. Der einstige Talkshow-Star wurde wegen Beihilfe zu Zuhälterei und Menschenhandel zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Stimmung kippt, auch in der Politik. Die Konservativen scheinen endlich offen für einen Kurswechsel. „Wir müssen diskutieren, ob das Nordische Modell nicht doch der bessere Weg ist“, sagt Marcus Weinberg, der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion. Und langsam bröckelt auch die Mauer der Sozialdemokraten. Nicht nur die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier, Mit-Gründerin von Sisters, ist eine entschiedene Verfechterin des Schwedischen Modells. Auch die neue Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF), Maria Noichl, ist eine erklärte Abolitionistin. Die EU-Parlamentarierin marschierte mit, als Rosen Hicher und die anderen Survivors die Europa­brücke Richtung Freierparadies Deutschland überschritten.

Und: Diejenige, die die fatale rot-grüne Reform von 2002 als Justizministerin mitverantwortete, erklärt heute: „Ich habe die Reform des Prosti­tutionsgesetzes schon damals extrem kritisch gesehen. Leider haben sich meine Bedenken bewahrheitet“, sagt Herta Däubler-Gmelin. „Ich befürworte das Nordische Modell.“ Worauf wartet die Koalition?

Im Netz: cap-international.org; fondationscelles.org; womenlobby.org, stop-sexkauf.org; rotlichtaus.de; sisters-ev.de; solwodi.de; abolition2014.blogspot.com; emma.de/prostitution

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