„Silvester war nur die Spitze des Eisbergs!“

Foto: Jesco Denzel/laif
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Wie ist nach den Silvester-Krawallen die Stimmung in Neukölln?
Um vorweg etwas Positives zu sagen: Wir hatten solche Debatten über den „Problemstadtteil“ Neukölln ja schon öfter. Was sich verändert hat, ist aber das Selbstbewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner. Die sind jetzt viel öfter bereit, mit den Journalisten zu sprechen, die seit Silvester in den Kiezen unterwegs sind, und sich deren kritischen Fragen zu stellen. Und sie erklären ihnen: „Wir leben hier und sind diejenigen, die zuallererst betroffen sind!“ Zum Beispiel: „Ich bin ein arabischer Ladenbesitzer oder türkischer Vater und ich möchte, dass diese Typen bestraft werden!“ Und da sind viele überrascht: „Oh, die Migranten verurteilen diese Täter auch selbst!“

Und die Neuköllner ohne Migrationshintergrund?
Die sagen: „Det is doch nix anderes als sonst! Det sind doch die Idioten, die wir immer hier haben.“ Und das stimmt. So ist es ja tatsächlich.

Dieses Mal war aber doch eine Eskalationsstufe. Hat Sie das überrascht?
Es hat mich erschreckt. Aber überrascht hat es mich nicht. Ich habe mir nochmal ein Video angeschaut, das schon vor einigen Jahren an Silvester auf der Hermannstraße gemacht wurde. Das ist so brutal, dass man sich denkt: Da will ich zu Silvester niemals sein! Angriffe gegen Sicherheitskräfte gab es vorher auch. Das Phänomen ist also nicht neu. Dass aber in diesem Jahr gezielt Feuerwehrautos in den Hinterhalt gelockt wurden mit dem Ziel der Plünderung und größtmöglichen Zerstörung, diese verabredeten und orchestrierten Attacken – das hatten wir in dem Ausmaß in Neukölln in meiner Erinnerung so noch nie. Das hat eine neue Qualität. Und deshalb ist es auch so wichtig, sehr genau nach den Ursachen zu schauen.

Und was sind die Ursachen?
Die Täter sind junge Männer, viele von ihnen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Hier in Neukölln reden wir von 17 Herkunftsländern, aber auch von deutschen Staatsbürgern mit und ohne Migrationsgeschichte.
Jene, die für extreme Gewalttaten verantwortlich sind, haben mit großer Wahrscheinlichkeit ein nicht sehr ausgeprägtes Reflektionsvermögen. Wenn man die einzeln nach dem Grund für ihr Handeln befragen würde, dann vermute ich, dass viele ganz schlicht antworten würden: „Die Polizei ist unser Gegner!“ Das sagen sie ja auch sonst offen in die Kameras. Mir reicht es aber nicht zu sagen: „Der kommt aus dem Libanon, deshalb ist der so!“ Das Ganze hat natürlich mit toxischer Männlichkeit zu tun. Es geht ja schon damit los, dass die Jungs und jungen Männer völlig unter sich sind. Wo sind denn eigentlich deren Schwestern und Freundinnen? Ich bin auch in Neukölln aufgewachsen. Aber wir sind an Silvester zusammen losgezogen, Jungen und Mädchen. Das hat sich in bestimmten Milieus völlig verändert. In den jugendlichen Peergroups dort kann man immer wieder eine Art Geschlechterapartheit beobachten, so wie es sie auch in bestimmten Milieus der Herkunftsländer bzw. deren ihrer Eltern ist. Wenn wir also über den Zusammenhang von Täterschaft und Migrationshintergrund reden – was immer nur einen Teilaspekt von einer Analyse ausmachen kann – dann müssen wir uns auch das Geschlechterverhältnis angucken. Und wenn in bestimmten Vierteln in Neukölln in der Öffentlichkeit die Mädchen wenig bis kaum noch präsent sind, wenn immer mehr nur Jungen und Männer die öffentlichen Plätze in diesen Wohnvierteln besetzen, dann ist das die Frage, die ich mir als Integrationsbeauftrage stelle. Wenn in bestimmten Stadtteilen Frauen und Mädchen spätestens nach Sonnenuntergang aus dem Straßenbild verschwinden, dann ist das unser großes Problem, dann müssen wir herausfinden, woran das liegt. Silvester ist also nur die Spitze des Eisbergs für das, was eigentlich das ganze Jahr über dort los ist.

Wie ist das zu erklären, wenn nach den Ereignissen an Silvester große Aufregung herrscht, auch bei den Politikern, während den Rest des Jahres die Probleme ignoriert werden?
Früher hat mich das extrem geärgert. Inzwischen sehe ich es als Möglichkeit, meine Botschaft zu verbreiten. Dass in diesen Milieus die geschlechtsspezifische Arbeit und die Möglichkeit der Teilhabe an unserer Gesellschaft das Allerwichtigste ist, um eine friedliche und demokratische Gesellschaft zu erhalten. Wir müssen die progressiven jungen Menschen stärken, die Mädchen wie die Jungen. Es ist nämlich gerade in einem sozial abgehängten Milieu, in dem oft das Recht des Stärkeren gilt, sehr schwer, ein Junge zu sein, der sich nicht dem Gruppendruck anpasst. Ein ganz wichtiger Lösungsansatz, der aber leider komplett außer Acht gelassen wird, ist auch das Empowerment von Mädchen und Frauen. Das müsste überall eingefordert werden. Und zwar nicht nur, wenn es um Frauen in Führungspositionen geht. Das ist eine abgehobene Debatte. Wir müssen unten anfangen. Da sind die Schwachen, und unsere Aufgabe ist es, diesen Mädchen zu gewährleisten, dass sie individuell und selbstbestimmt in diese Welt gehen können. Genau das muss Mädchen und Jungen ab dem Kindergarten vermittelt werden. Immer auch mit dem Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit.

Kann man denn diese Jungen, die von Anfang an in diese Hackordnung hereinwachsen, überhaupt noch erreichen?
Das Problem ist ja in den letzten Jahren offenkundig immer größer geworden.Wenn man will, kann man fast jeden erreichen. Ich weiß auch nicht, ob das Problem größer geworden ist oder einfach nur mehr wahrgenommen wird. Eins der größten Probleme ist aus meiner Sicht, dass sich die Milieus immer stärker trennen. Früher war Neukölln viel durchmischter. Da hat neben der türkischen Arbeiterfamilie auch mal ein deutsches Lehrerehepaar gewohnt. Schon Martin Luther King hat die Durchmischung von sozialen Milieus und Kulturen in Schulen gefordert, damit alle die gleichen Chancen haben und alle die gesamte Bandbreite der Gesellschaft miteinander erleben. Bildung muss sowohl soziale und emotionale Entwicklung im Blick haben und als klares Ziel, Kinder in kritischem Denken zu fördern, um einen moralischen Kompass zu entwickeln. An Schulen mit Kindern, die sich zu 90 Prozent aus denselben kulturellen und sozialen Hintergründen zusammensetzen, fehlt den Kindern oft der Umgang mit dem Anderen. Das ist doch ganz klar. Für den Prenzlauer Berg gilt das ja übrigens auch, nur umgekehrt. Eine Schule, an der nur Kinder mit superambitionierten Eltern sind, die ihre Kinder zum Klavier- und Geigenunterricht fahren und das Auslandsjahr komplett finanzieren, ist für unsere Gesellschaft auch nicht gut. Vielleicht schaffen wir es ja, besser als die Franzosen und die Amerikaner zu werden, wo diese Segregation noch weiter fortgeschritten ist. Durchmischung und geschlechtsspezifisches Empowerment: Wenn wir die zwei Punkte durchsetzen würden, wären wir in bestimmten Milieus schon weit.

Und was kann man tun, um diese jungen Männer vom Männlichkeitswahn runter zu kriegen?
Dafür gibt es eine Bandbreite an Ideen. Wir haben zum Beispiel eine sehr emanzipierte Jungen- und Männerarbeit in Neukölln. Leider sind diese Projekte nicht regelfinanziert und bekommen auch Schwierigkeiten, wenn sie Problemfelder benennen, die kulturspezifisch sind. Das kann so absurde Züge annehmen, dass man türkischen und arabischen Jungs vorwirft, sie würden Rassismus schüren, wenn sie von Gewalt im Namen der Ehre reden – es ist wirklich zum Haareraufen. Es gibt dann auch noch die besonders harten Fälle von Kindern und Jugendlichen, die Polizei spricht da von „kiezorientierten Mehrfachtätern“. Die fallen oft schon früh auf mit einem gewaltbereiten asozialen Verhalten. Die Forderung nach schnellen und harten Strafen ist im Prinzip richtig. Aber erstens sind diese Jungs oft noch nicht mal alt genug, um in den Jugendarrest zu kommen. Und selbst wenn, dann reicht das allein nicht, weil es dann oft schon zu spät ist. Diese Tendenzen zeigen sich meist schon sehr früh, das wird Ihnen jede Sozialarbeiterin und jeder Polizist bestätigen. Aber für diese Kinder haben wir sehr wenig Ideen und Konzepte, dabei haben wir da noch die größte Chance, was zu verändern.

Wie könnte das denn aussehen?
Wir haben in Neukölln zum Beispiel ein herausragendes Präventions-Projekt. Aber das besteht nur aus vier Polizisten und Polizistinnen, die regelmäßig an die Schulen gerufen wurden, wenn es gewalttätige Vorfälle gab. Dann haben diese vier Kollegen einen Vorschlag gemacht: Wenn sie sowieso ständig an diesen Schulen sind, wäre es doch nachhaltiger, wenn man sie nicht mehr als Streifenpolizisten einsetzt, sondern ausschließlich zur Prävention. Denn diesen Jungen – und auch einer Minderheit von Mädchen, die auffallen – müssen sehr rasch Grenzen gesetzt werden. Sie wurden dann tatsächlich freigestellt und waren jeden Tag im Einsatz, an insgesamt 37 Schulen allein in Süd-Neukölln. Dort sind sie immer wieder hingegangen, so dass die Jugendlichen sie schon kannten. Sie haben eine Beziehung zu den Jugendlichen aufgebaut, wohlgemerkt als Polizisten und nicht als kumpelige Sozialarbeiter. Und wenn dann ein Jugendlicher auffällt, dann sind immer dieselben Kollegen da. Und vor diesen Polizisten haben die Jugendlichen dann auch Respekt. Das Ergebnis war: Innerhalb von sechs Monaten wurden zwei Drittel der Mehrfachtäter nicht mehr auffällig!

Machte das Projekt Schule?
Leider nicht! Seitdem tingelt das Präventionsteam der Polizei als Bittsteller durch die Instanzen, um so ein Projekt im größeren Stil finanziert zu bekommen. Die Idee der Polizei ist außerdem, das zu kombinieren mit einer reflektierten Kinder- und Jugendarbeit, bei der auch kulturelle Hintergründe und das Rollenverständnis kritisch hinterfragt werden sollten, die bei Gewalttaten ja eine große Rolle spielen. Ein Projektantrag für diese differenzierte Jugendarbeit wurde vom Träger MINDprevention (ein vom Psychologen Ahmad Mansour gegründetes Projekt, Anm. d.Red.) bei der Berliner Landeskommission gegen Gewalt eingereicht und gleich am folgenden Tag abgelehnt.

Warum?
Das wird so nicht in die Ablehnung geschrieben, aber ich als Integrationsbeauftragte weiß es: Weil in den Entscheidungs-Etagen zu oft Leute sitzen, die der Meinung sind, es sei „rassistisch“, wenn man sich kritisch anschaut, welchen Einfluss Kultur und Herkunft auf die Sozialisation und das Rollenverständnis haben. Und das geht zu Lasten aller Kinder und Jugendlichen in Neukölln. Ich weiß es sicher, weil die Träger und Projekte, die davon betroffen sind, mir immer wieder mitteilen, man würde ihnen von Seiten der Senatsverwaltungen Wörter wie „Ehrkultur“ aus den Projektbeschreibungen streichen und sie teilweise zwingen, stattdessen „antimuslimischer“ Rassismus in ihre Förderanträge zu schreiben. Die Träger knicken ein, um weiter finanziert zu werden. Wer anders arbeiten möchte, bekommt keine Förderung. Die politischen Entscheidungsträger müssten sich die Mühe machen mal zu gucken, was an der Basis los ist und was dort gebraucht wird. Sie müssten da mutig und jenseits aller ideologischen Rechts-Links-Debatten draufschauen.

Vor sieben Jahren hat die Kölner Silvesternacht das Land schockiert. Waren eigentlich in Neukölln auch Frauen stärker Opfer?
Ich weiß es nicht. Mir ist davon bisher nichts zu Ohren gekommen. Ich bin mir sicher, dass bei diesen Tätern in der Neuköllner Silvesternacht etliche dabei sind, die ein ganz ähnliches Frauenbild haben wie die Männer in der Kölner Silvesternacht. Belegt haben wir in Neukölln eine steigende Anzahl homophober Übergriffe. Ein überdurchschnittlicher Teil dieser Täter wird als „südländisch“ aussehend beschrieben. Es traut sich aber kaum jemand, darüber zu reden, weil man ja nicht rassistisch sein will. Dabei müsste diese Debatte gerade von Linken und Grünen geführt werden, um den Opfern und Tätern gerecht zu werden, und um den Rassisten nicht das Feld zu überlassen. Die Betroffenen fühlen sich durch diesen unaufrichtigen Umgang sehr alleingelassen, ich höre das sehr oft.

Offenbar scheuen sich zumindest Innenministerin Nancy Faeser und die Berliner Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, beide SPD, inzwischen nicht mehr, die Tätergruppe klar zu benennen.
Ich finde sehr gut, dass es generell immer mehr Menschen gibt, die sich realistisch zum Thema äußern und die nicht im Verdacht stehen, sofort Abschiebeflüge einzufordern. Es braucht nämlich weder diesen ewigen Opfer-Diskurs über Migranten noch brauchen wir rassistische Pöbeleien. Ich lehne menschenverachtende, rassistische Haltungen ab. Gleichzeitig möchte ich mir nicht diktieren lassen, ob ich über Probleme reden darf, wenn zum Beispiel eine, durch bestimmte kulturelle Sozialisation geprägte Frauenverachtung sich in Gewaltexzessen Bahn bricht, wie bei der Kölner Silvesternacht. Mir ist es völlig egal, wo jemand herkommt. Jeder, der hier lebt ist mein Mitmensch, und deshalb kritisiere ich den auch auf Augenhöhe. Und da sage ich dann auch ganz klar: Die Sozialisation bestimmter Männer hat sie zu Frauenhassern gemacht. Und jeder, der versucht, das abzustreiten, ist für mich auch ein Frauenfeind. Diesen Debatten-Polizisten, die behaupten, es sei rassistisch, über das Problem zu reden, antworte ich: „Wisst ihr, was rassistisch ist? Wenn man die Täter nicht ernst nimmt!“

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