Silvia Neid auf dem Sprung

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Vom 10. bis 30. September ist Frauenfußball-Weltmeisterschaft in China. Doch wer ist eigentlich die Trainerin der Weltmeisterinnen?

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Da ist er wieder, dieser spezielle Blick. Dieser distanzierte und zugleich fragende Blick, den Silvia Neid immer dann zeigt, wenn ihr Gegenüber gerade gedanklich langsamer ist als sie selbst. Vor ein paar Minuten war im Scheinwerferlicht eines Magdeburger Kaufhauses das neu designte WM-Trikot der deutschen Frauenfußball-Nationalmannschaft vorgestellt worden, und Silvia Neid hatte in schwarzer Jeans und weißem V-Kragen-Shirt locker über die anstehende Weltmeisterschaft der Frauen in China gesprochen. Jetzt sitzt die Bundestrainerin des WM-Teams in einem Hinterzimmer vor Journalisten und überlegt, ob dieser Herr vom Lokalradio es ernst meint, wenn er fragt: "Was heißt das denn, wenn sich die Nationalmannschaft zu einem Lehrgang trifft? Können Sie erklären, was Sie da so machen?" Neid sieht ihn an und beginnt ihre Antwort mit eben diesem Blick, halb erstaunt, halb belustigt: "Also, wir treffen uns und gehen drei Mal am Tag schön Essen." – Pause – "Na, und drum herum trainieren wir. Wir trainieren hart, mindestens zwei Mal am Tag, dazu kommen Taktiksitzungen und physiotherapeutische Behandlungen, Trainingsspiele gegen Jugend-Mannschaften, Besprechungen – die Spielerinnen sind gut beschäftigt auf so einem Lehrgang."
Seit 25 Jahren, seit es die Frauen-Nationalmannschaft gibt, arbeitet die 43-jährige Silvia Neid daran, den Frauenfußball in Deutschland als das darzustellen, was er ist: Eine Sportart, die mit Leidenschaft und höchstmöglicher Professionalität gelebt wird. Das sind auch die beiden Eckpfeiler von Neids Leben. Der Weg, den der Frauenfußball in Deutschland seitdem zurück gelegt hat, ist auch Neids Weg. "Die Silv’ steht eigentlich für die Geschichte der Nationalmannschaft", sagte die ehemalige Bundestrainerin Tina Theune-Meyer einmal über sie.
Als Neid, die das Amt der Bundestrainerin 2005 von Theune-Meyer übernahm, mit dem Fußballspielen anfing, musste sie noch sich und ihren Sport mit jedem Spiel rechtfertigen – was ihr so gut gelang, dass ein Pokaltreffer von Neid schon 1988 von den Zuschauern zum "Tor des Monats" gewählt wurde. Im Oktober 1982, beim ersten offiziellen Länderspiel der deutschen Frauen überhaupt, war Neid mit 18 Jahren eine der Jüngsten gewesen – und schoss nach ihrer Einwechslung in das historische Spiel gleich zwei Tore. Jeder öffentliche Auftritt war in dieser Zeit eine seltene Chance für den Frauenfußball. Die gutaussehende und eloquente Frau aus dem Odenwälder Wallfahrtsort Walldürn nutzte sie stets mit Schlagfertigkeit und, ja, Charme.
Dabei gab es, als Silvia Neid geboren wurde, noch nicht einmal eine Frauenfußball-Nationalmannschaft. Doch Neid kann sich an nichts anderes erinnern, als eben schon als Kind dem Ball hinterher gelaufen zu sein: "Seit ich gehen kann, habe ich Fußball gespielt." Vater Franz, ein ehemaliger Amateur-Oberligaspieler, und auch Bruder Ricardo spielten Fußball, und mit elf lief auch Silvia nach den Jahren auf den Bolzplätzen erstmals beim SV Schlierstadt in einem Vereinstrikot auf.
Bis zur Bundestrainerin musste die gelernte Fleischfachverkäuferin und Großhandelskauffrau noch eine gewisse Strecke zurücklegen.
Neid, eine technisch beschlagene, laufstarke und kreative Spielmacherin, gewann mit Bergisch-Gladbach und Siegen (wo sie heute noch lebt) die deutsche Meisterschaft und DFB-Pokale, führte die Nationalmannschaft als Kapitänin zum ersten EM-Sieg 1989 im ausverkauften Stadion in Osnabrück und bekam 1994 als eine der ersten Nationalspielerinnen ein Angebot, im Ausland als Profi zu spielen. Doch Neid, die sich selbst einmal als "emotional, ehrgeizig, selbstbewusst und nachtragend" bezeichnet hat, schlug diese Chance, in Japan zu spielen, aus, weil der damalige Bundestrainer Gero Bisanz drohte, "Legionärinnen" nicht mehr in die Nationalelf zu berufen. Jetzt – 25 Jahre, 111 Länderspiele, 48 Nationalmannschaftstore und neun Fußballlehrerinnen-Jahre später – ist Neid Bundestrainerin des amtierenden Frauen-Weltmeisters. Und eine von international 15 ehemaligen Nationalspielerinnen, die 2005 vom Fußball-Weltverband zu Fifa-Botschafterinnen ernannt wurden.
Von 1996 bis 2005 waren Cheftrainerin Theune-Meyer und Assistenztrainerin Neid ein gut funktionierendes Gespann gewesen. Mit der Zeit schien es, als wenn sich in Theune-Meyer und Neid zwei Antipoden getroffen hätten, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit wunderbar ergänzten und kreativ wirksam wurden. Während Theune-Meyer nie laut wurde und fast schüchtern die Öffentlichkeit mied, so gut es mit diesem Job ging, schlug Neid in der Kabine schon mal deutliche Töne an und kritisierte öffentlich, wenn es etwas zu kritisieren gab. Nun beginnt die Phase, in der die Frauen-Nationalmannschaft ihre Titel und ihr Renommee verteidigen muss (siehe auch Seite 60), und Neid hat sich für diese herausfordernde Aufgabe die ruhige, analytisch starke Ulrike Ballweg als Assistentin zur Seite geholt.
Als Mannschaftskapitänin Neid während ihrer aktiven Zeit immer wieder mit Rekordnationalspieler Lothar Matthäus verglichen wurde, antwortete sie einmal genervt, dass ihr zu dem Vergleich mit Matthäus "die entscheidenden fünf Gramm" fehlten. Silvia Neid ist eben eine Frau – und eine leidenschaftliche Fußballerin. Dafür hat sie 25 Jahre lang gekämpft.

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