Simone de Beauvoir: Zum Denkmal erhoben

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Auch posthum sind Beauvoir und Sartre immer noch für einen Skandal gut. Als 1983, drei Jahre nach Sartres Tod, die Briefe erschienen, die er Beauvoir schrieb, ging ein Aufschrei durch die Pariser Zeitungen. Das also sollte das emanzipierte Paar schlechthin gewesen sein: ein Macho, der seiner Partnerin bis ins Kleinste seine sexuellen Abenteuer schildert, um sich so seine Freiheit zu erkaufen? Waren mehrere Generationen von Intellektuellen nicht auf einen Mythos hereingefallen? Hatte man nicht als neu ausgegeben, was im Grunde doch nichts anderes war als das alte Lied?

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Als 1990, vier Jahre nach Beauvoirs Tod, in Frankreich ihre Briefe an Sartre erschienen, war das Maß der Entrüstung nicht geringer. Der größte Verriss war in der linken Tageszeitung Libération zu lesen, die Beauvoir noch 1986 einen der schönsten Nachrufe gewidmet hatte. Schon auf der Titelseite erfahren die Leser, was Beauvoir wirklich war: „Eine machistische und kleinliche Frau“. Nicht nur Sartre gebärdete sich also als Macho, sondern auch Beauvoir?

Seit der Veröffentlichung der Briefe und des in Frankreich gleichzeitig erschienenen Kriegstagebuchs wissen wir, was Beauvoir zu Lebzeiten verschwiegen oder abgestritten hat: dass sie Liebesbeziehungen zu Frauen unterhielt. Die Tatsache selbst erregt nur in der extrem rechten Presse Ärgernis. Die meisten Kritiker begnügen sich mit amüsierten Wortspielen. Einige entdecken sogar aufgrund dieser Beziehungen unvermutete menschliche Züge an der Philosophin. So auch Marianne Alphant in Liberation.

Woran sie jedoch Anstoß nimmt, ist, dass „Leibniz als Vorwand für die Verführung Sorokines dient und die Sartreschen Thesen dazu herhalten müssen, Védrine zu betrügen“. Zwei Drittel der Korrespondenz wurde verfasst, als Sartre Soldat und Kriegsgefangener war. In dieser Zeit hatte Beauvoir nicht weniger als fünf Geliebte. Die Beziehungen zu Sartre und dessen ehemaligem Schüler Jacques-Laurent Bost beschränken sich auf Briefe und seltene Zusammenkünfte bei Heimaturlaub. Die Verbindung mit ihrer ehemaligen Schülerin Olga, mit der sie und Sartre 1936 das erste „Trio“ bildeten, ist inzwischen zu einer intensiven Freundschaft geworden.

Das Verhältnis mit Bianca Bienenfeld, die unter dem Decknamen Louise Védrine erscheint – auch sie war eine ehemalige Schülerin und vor Sartres Mobilisierung mit beiden in einem Trio vereint – kommt Beauvoir wie eine “seriöse Liaison“ vor, derer sie zunehmend überdrüssig wird. Und schließlich gibt es noch Nathalie Sorokine, die dritte ehemalige Schülerin, die Beauvoir so hartnäckig mit ihrer Leidenschaft verfolgt, dass diese peu à peu nachgibt.

Zwischen Sartre, Bost, Olga und ihr geht solange alles glatt, wie bestimmte Regeln beachtet werden (Rendezvous heimlich, Briefe postlagernd). Denn Olga wiederum ist auch die Geliebte Bosts und weiß nichts über dessen Beziehung zu Beauvoir. Aber Védrine macht Schwierigkeiten: Sie fordert dieselben Rechte Sartre gegenüber wie Beauvoir, das heißt, sie will mit Sartre genauso viele Tage Heimaturlaub verbringen. Beauvoir verteidigt ihre privilegierte Stellung, ist doch ihre Beziehung zu Sartre in dem berühmten Pakt zwischen den beiden als die „notwendige“ definiert, während den jeweiligen „Dritten“ nur Satellitenfunktion zukommen soll.

Sie schreibt an Sartre, wie sie Védrine gegenüber argumentiert hat, und rät ihm zu derselben Strategie: „Sprechen Sie gegebenenfalls in diesem Sinn und legen Sie den Akzent auf die Idee des ‚in-Situation-Seins‘, die sie überzeugt hat.“ Beauvoir und Sartre sind also Komplizen gegenüber der Dritten im Bunde, die den kürzeren zieht.

Diese Manipulation ist für die Kritikerin von Libération der Stein des Anstoßes – obwohl Beauvoir nie verhehlt hat, dass der Pakt zwischen ihr und Sartre auf Kosten der Dritten ging. Noch Jahre später, als die Beziehung definitiv zu Ende ist, schreibt sie an Sartre, wie schwer Védrine die Trennung getroffen habe. Sie glaubt, für den Zustand verantwortlich zu sein, in dem Védrine sich befindet. Dieses Schuldgefühl wird in keiner einzigen Kritik erwähnt. Es passt nicht zu dem Bild, das die Presse von Beauvoir konstruiert, um den Mythos besser demontieren zu können.

Dies trifft auch für ihre Beziehung zu Nathalie Sorokine zu, die sie „mit Hilfe von Leibniz verführt“ haben soll. Wer die Briefe unvoreingenommen liest, erkennt deutlich, wer wen verführt hat. Irrsinnig verliebt, stellt die Ex-Schülerin ihrer Lehrerin nach, und von einem Brief zum nächsten kann man feststellen, wie die junge Frau Beauvoirs Sympathie gewinnt.

Doch Beauvoir ist nicht nur auf Bettgeschichten aus, wie die meisten Kritiker es unterstellen, sie sucht authentische Beziehungen. Darum wird Védrine, die nach Beauvoirs Dafürhalten häufig in Klischees denkt und die Geliebte ihrem Universum einverleiben will, ihr immer unerträglicher. Darum zieht sie zunehmend Sorokine vor, von der sie sich als Person geschätzt fühlt: Bei ihr ist sie nicht nur das geliebte Objekt, sondern sie selbst ist gemeint.

Während Sartre an einem gewissen Grad von Perversion Geschmack zu finden scheint, graut es Beauvoir vor Sexualität ohne Zärtlichkeit. So kann man erklären, dass Védrine sie im Bett abstößt, denn sie fühlt, dass hinter Védrines autonom werdendem Körper ihre Person verschwindet. Dies muss man wissen, um folgenden Satz, den der Verriß in Libération zitiert, richtig zu verstehen: „Im Bett wirft Védrine sich voll Leidenschaft in meine Arme, ihr Sinnenrausch kommt mir schrecklich organisch vor.“ Für die Libération-Autorin Beweis für eine „verkrampfte Feindseligkeit der Frau und dem Körper der anderen Frau gegenüber“. Sie schlägt vor, "Das andere Geschlecht" vor dem Hintergrund dieser Entdeckung neu zu lesen. Denn: „Was sind feministische Positionen wert, wenn sie derartig tief im Ekel vor der Frau und in ihrer herablassenden Annektierung verankert sind?“

Doch dies ist nur einer von vielen Beweisen für Beauvoirs „Machismus“ in den Augen von Libération (der französischen taz). Im Zimmer von Wanda Kosakiewics, Sartres Geliebter, empfindet Beauvoir eine Boudoir-Atmosphäre „mit überall herumstehenden Kosmetikdosen, ewig ungemachtem Bett, herumliegenden Kleidungsstücken“. Ihr spontaner Eindruck: „Irre, wie das nach Frau aussieht.“ Mit Einfühlung gelesen, kann, ja muss man diese Passage aus Beauvoirs Sicht als Ablehnung der traditionellen Frauenrolle verstehen, vielleicht auch als Befremden, dass Sartre sich davon beeindrucken lässt. Die Libération-Autorin aber liest sie so: Die Frauen sind für Beauvoir die Anderen, folglich muss Beauvoir der Mann sein.

Auch Beauvoirs Verhalten ihrem jungen Liebhaber gegenüber spricht in den Augen der Libération-Kritikerin Bände. Im Juli 1938 teilt sie Sartre mit, dass sie nach einer gemeinsamen Wanderung in den Alpen mit dem „kleinen Bost“ geschlafen hat. „Natürlich war ich es“, so fügt sie hinzu, „die den Vorschlag machte“. Und schon ist ein neues Indiz gefunden, das die Überlegenheitsattitüde Beauvoirs beweist, als deren äußeres Zeichen im übrigen der Turban, das „despotische Emblem“, gilt, „Verkleidung oder Hoheitszeichen einer Weiblichkeit, an der Beauvoir ganz offensichtlich zweifelt“. Für Marianne Alphant steht fest: Beauvoir will „immer die Männerrolle spielen“.

Die Zerstörung eines Mythos kann ein heilsamer Vorgang sein, sollte man doch annehmen, dass sie eine bessere Annäherung an die Realität gestattet. Aber Beauvoirs Kritikerinnen ersetzen das alte Klischee nur durch ein neues Bild, das aktuellen Bedürfnissen entspricht. Diese Absicht ist auch deutlich spürbar in dem zweiten Artikel, der 1990 für starkes Aufsehen sorgte. Er erschien in der linksliberalen Wochenzeitung Le Nouvel Observateur, einst quasi das Hausblatt von Beauvoir und Sartre. Verfasserin ist die Historikerin und Revolutionsspezialistin Mona Ozouf, die nach eigenem Eingeständnis wie viele der heute 50- bis 60-jährigen zu jenen gehört, denen die Lektüre Beauvoirs die Augen öffnete und dazu verhalf, sich aus den Zwängen ihres Milieus zu befreien.

Den Leitsatz ihres Artikels will Ozouf einem Brief an Sartre entnommen haben (tatsächlich stammt er jedoch aus Beauvoirs Kriegstagebuch): „Ich spüre die Bedrohung, die in der Lüge steckt, aber ich muss sie trotzdem wie die Wahrheit aussehen lassen.“

Mona Ozouf zitiert diesen Satz außerhalb seines Kontextes. Er steht bei Beauvoir im Zusammenhang mit der Nacht, in der der „Sinnenrausch“ Védrines Beauvoir so „schrecklich organisch“ vorkommt. Ihre Leidenschaft für sie ist erloschen, aber Védrine merkt es nicht. Beauvoir klärt sie noch nicht auf: Sie will ihr nicht wehtun. Die Lüge, die so aussehen soll wie die Wahrheit, besteht also darin, Védrine vorläufig die Illusion zu lassen. Ozouf erklärt den Satz dagegen für programmatisch und konfrontiert ihn mit dem Ideal der „Transparenz“, das Beauvoir und Sartre aufgestellt hatten. Dabei verschweigt sie, dass dieses Ideal nur für die beiden galt, nicht jedoch für die Dritten im Bunde.

Solange man sich in den 60ern und 70ern am Mythos des Traumpaars orientierte, wurden solche unbequemen Wahrheiten verdrängt. In den 90ern kommen die posthumen Schriften jedoch genau richtig, um in ihrer ungeschliffenen Krudität der Frustration der Ex-Adeptinnen Nahrung zu geben. Wer die neuen Klischees nicht bedient und Beauvoir verteidigt, muss damit rechnen, zum alten Eisen gezählt zu werden. Den dazu nötigen Mut bringen nur wenige auf. Zu ihnen gehört Josyane Savigneau von der liberalen Tageszeitung Le Monde. In ihren Augen sind Beauvoirs Briefe und das Tagebuch weitere Belege für die Existenz der Liebe in Freiheit. Sie widerlegen für sie die gängige Ansicht, dass Sartre ein „verkappter Macho“ gewesen sei, dem Beauvoir zeitlebens „auf die Nerven fiel“.

Savigneau deutet auch die Frauenbeziehungen anders als Marianne Alphant in Libération. Für die Le Monde-Autorin beweisen die Briefe Beauvoirs intensives Interesse für alles, was sie angeblich ablehnte: „den Körper, die Neugier auf Liebschaften, die Freiheit, darüber zu sprechen, den Humor, die täglich neue Erfindung eines einzigartigen Lebens zu zweit.“

Allerdings sind die Artikel in Libération und im Le Nouvel Observateur repräsentativer für das Denken der französischen Intellektuellen heute. Was auch immer die persönlichen Positionen Alphants und Ozoufs sein mögen, ihre Rezensionen konnten nur so geschrieben werden, weil ein neuer Zeitgeist herrscht. Die Vorstellung von Aufklärung und Fortschritt, die Beauvoir und Sartre auch im Leben in der französischen Öffentlichkeit verkörperten, hat ihre Berechtigung verloren. Seit den 80er Jahren fungieren beide in den Pariser Medien als Sündenböcke: Die ehemaligen Linksintellektuellen projizieren auf sie, was aus ihrer heutigen Sicht ihre eigenen Irrtümer waren. Die posthume Veröffentlichung von Beauvoirs Briefen war ein Anlass mehr, eine Denkerin zu verurteilen, der ihre Kritikerinnen viel von ihrem eigenen Scharfsinn verdanken.

Beauvoirs Emanzipationsmodell gilt in der öffentlichen Rede heute nicht nur in Frankreich als überholt, baute es doch auf Grundannahmen auf, die die weltpolitischen Vorgänge offenbar widerlegt haben: dass die Geschichte erkennbar ist, dass die Menschen lernfähig sind, dass die Wirklichkeit verändert werden kann. Die in der Theoriedebatte heute dominierende vernunftkritische Richtung geht noch weiter. Die zu dieser Richtung gehörenden Neofeministinnen haben die überkommene Philosophie unserer westlichen Kultur, die universelle Geltung beansprucht, als männlich determiniert erklärt. Auf einer solchen „männlichen“ Philosophie, dem Existentialismus, begründete Beauvoir ihre feministischen Thesen.

Für Beauvoir ist das Streben nach Selbstüberschreitung ("Transzendenz") jedem menschlichen Bewusstsein eigen. Da die aktive Teilhabe an der Welt in der Geschichte den Frauen verwehrt wurde, fordert sie im "Anderen Geschlecht" auch für sie das Recht, sich handelnd frei in die Zukunft zu entwerfen. Diese Forderung nach Gleichberechtigung ist aber – so will es die aktuelle Theorie – eine Forderung nach Vermännlichung. Zweifellos spielen diese Thesen eine Rolle, wenn die Libération-Kritikerin Beauvoir als Mann identifiziert.

Eine der einflussreichsten Neofeministinnen, die den „Phallogozentrismus“ – das männliche Vernunftdenken – bekämpfen, ist die französische Literaturwissenschaftlerin Hélène Cixous. Beauvoirs klare, eindeutige Sprache ist nach ihrer Ansicht in der „libidinalen Ökonomie“ der Männer verankert. Sie setzt eine „weibliche Schreibweise“ dagegen, die Eindeutigkeit in Unentscheidbarkeit auflösen und so den Phallogozentrismus von innen aushöhlen soll. Wie groß Cixous’ Aggressivität Beauvoir gegenüber ist, kam kürzlich in einem Interview zum Ausdruck. Sie betrachtete die Rationalistin, so äußerte sie sich, nicht mal als Gegnerin sie sei einfach „niemand, nichts“.

Ähnlich ausfällig wurde eine weitere führende Figur des Pariser Feminismus in einer Fernsehaufnahme. Antoinette Fouque, im Ausland vor allem als Gründerin des Frauenverlags "Des Femmes" bekannt, ist wie Cixous von der Psychoanalyse beeinflusst. Stärker noch als Cixous fundiert ihre Variante des Feminismus auf dem biologischen Geschlechtsunterschied und vertritt damit die Position, gegen die Beauvoir 1949 angetreten war. „Man wird nichts als Frau geboren: man wird dazu gemacht“ lautete die Kernthese des "Anderen Geschlechts". Nicht die Biologie macht uns zu dem, was wir sind, sondern Gesellschaft und Geschichte. Dagegen setzen Frauen wie Fouque heute: „Man wird als Mädchen oder Junge geboren, und die Physiologie ist ein Schicksal für das Mädchen oder den Jungen“.

Freilich gibt es noch Feministinnen, die sich in Beauvoirs Nachfolge sehen, aber auch bei vielen von ihnen ist die Autorin des "Anderen Geschlecht" heute nicht mehr unumstritten, jedenfalls in Paris. Dass die These, Sartre habe seine Philosophie von Beauvoir übernommen, in Großbritannien aufgestellt wurde, ist kein Zufall. In den angelsächsischen Ländern kann man sich noch positiv über Beauvoir äußern, ohne deswegen zum intellektuellen Paria abgestempelt zu werden.

Die Pariser Aggression soll zweifellos die Abnabelung von einer erdrückenden Vordenkerin weiter vorantreiben, aber Muttermord reicht nicht aus als Erklärung für die aktuelle Beauvoir-Rezeption in Frankreich. Wie Sartre ist auch Beauvoir in Paris einem fundamentalen Wandel im Denken zum Opfer gefallen – an deutschen Universitäten spricht man gerne von einem „Paradigmenwechsel“. Bis Anfang der 70er Jahre musste man in geschichtlichen Kategorien denken, heute dominiert die Psychoanalyse: Der Feind steht nicht mehr außen, sondern innen.

Der in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung immer stärker werdende soziale Druck macht es allerdings nicht unwahrscheinlich, dass das Bewusstsein für gesellschaftliche und historische Bedingtheiten demnächst wieder zu Ehren kommt. Vielleicht wird dann der Differenz-Feminismus aufs Abstellgleis geschoben und Beauvoirs „egalitärer Feminismus“, die These von der Gleichheit der Geschlechter, wiederentdeckt.

"Simone de Beauvoir: Briefe an Sartre". Herausgegeben von Sylvie Le Bon de Beauvoir, übersetzt von Judith Klein (2 Bände, Rowohlt).

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