Sind Mädchen doof?

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Heute ist Girls' Day, der Tag an dem die Unternehmen ihre Türen öffnen, damit Mädchen ab der fünfte Klasse einen naturwissenschaftlichen oder technischen Beruf kennenlernen können. Seit EMMA 1999 das erste mal über den "Take your daughter to work day" aus den USA berichtete, ist viel passiert. Aber nicht genug. Mädchen wählen auch 2017 immer noch häufig eine Berufsausbildung, die als typisch weiblich gilt. Also zum Beispiel im Dienstleistungssektor, wie Verkäuferin oder Friseurin. Und auch den Universitäten sieht es nicht anders aus: Die Zahl der Frauen in den Geisteswissenschaften überwiegt im Vergleich zu MINT-Fächern überdeutlich. Bildungswissenschaftler sind sich heute einig, dass viele Initiativen einfach zu spät ansetzen. Wenn die Mädchen 13 Jahre alt sind, sind die Weichen längst gestellt. Forscherinnen von der University of Illinois haben kürzlich sogar herausgefunden, dass schon im Alter von nur sechs Jahren Mädchen plötzlich überzeugt sind, dass sie kein Mathe können. Und diese (Selbst)Einschätzung spielt eine sehr große Rolle für ihre Zukunft.

Wagen wir ein kleines Expe­ri­ment: Denken Sie bitte kurz an jemanden, den Sie richtig, richtig klug finden. Wer fällt Ihnen ein? Albert Einstein? Stephen Hawking? Goethe? Oder der Detektiv Sherlock Holmes? Warum nicht.

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Die Antwort könnte aber auch lauten: Lise Meitner, die Entdeckerin der Kernspaltung. Mary Anderson, die Erfinderin des Scheibenwischers. Oder Jane Austen, die Schriftstellerin. Und statt Sherlock Holmes könnte ihnen Hermine einfallen, die superschlaue Zauberin aus Harry Potter.

Aber Sie sind eine Frau. Und selbst Frauen neigen dazu, Brillanz eher mit dem anderen Geschlecht in Verbindung zu bringen. Das ist wissenschaftlich vielfach verbrieft. Und diese (Selbst-)Einschätzung hat gravierende Folgen, zum Beispiel in Bezug auf die Berufswahl. Daran konnten bislang auch Projekte zur Frauenförderung nur wenig ändern. Warum? Eine Antwort lautet: Weil die Maßnahmen, die Klischees wie „Mathe ist was für Jungs“ abbauen sollen, viel zu spät losgehen. In der Grundschule ist der Zug längst abgefahren.

Zu diesem Ergebnis ist gerade eine Forscherinnen-Gruppe um die Psychologin Lin Bian von der University of Illinois gekommen. Sie haben herausgefunden: „Sobald die Mädchen sechs Jahre alt sind, hören sie auf, ihr eigenes Geschlecht als brillant zu betrachten – im Gegensatz zu Jungen.“ Mehr noch: In diesem Alter beginnen Mädchen plötzlich, Aktivitäten zu meiden, für die man angeblich „sehr, sehr klug“ sein muss. Vorher aber haben dieselben Mädchen das ganz anders gesehen.

Die Forscherinnen hatten mit 400 Mädchen und Jungen im Alter von fünf, sechs und sieben Jahren spielerische Experimente durchgeführt. Erster Test: Sie haben den Kindern eine Geschichte erzählt. Die Kinder wussten, dass diese Geschichte von einer sehr, sehr schlauen Person handelt. Sie wussten nicht, ob diese Person ein Mann oder eine Frau ist. Dann legten sie den Kindern Fotos von zwei Frauen und zwei Männern vor und fragten: Von wem handelt wohl diese Geschichte?

Ergebnis: Im Alter von fünf Jahren waren genauso viele Mädchen wie Jungen davon überzeugt, dass die Geschichte von einer Person ihres jeweils eigenen Geschlechts handelt. Bei den Sechsjährigen änderte sich die Einschätzung plötzlich: Während die Jungen immer noch davon überzeugt waren, dass die Geschichte von einem Mann handelt, war nun auch eine größere Zahl der Mädchen davon überzeugt, dass die Geschichte von einem schlauen Mann handelt.

Als die Kinder nach ihrer Einschätzung der Schulleistungen befragt wurden, waren die Mädchen in allen drei Altersgruppen überzeugt, dass Schülerinnen viel besser abschneiden als Schüler – was ja im echten Leben auch der Fall ist. Aber: Die Tatsache, dass Mädchen bessere Noten haben, änderte bei den Sechs- und Siebenjährigen nichts an ihrer Wahrnehmung, Jungen seien „einfach schlauer“. Die Mädchen betrachteten ihre Leistungen offenbar nicht als das Ergebnis ihrer Intelligenz, sondern ihres Fleißes.

Das ergab auch der dritte Test der Forscherinnen: Sie legten den Sechs- und Siebenjährigen zwei inhaltlich identische Spiele vor – behaupteten aber, das eine sei für Kinder, „die richtig, richtig schlau sind“, das andere für „Kinder, die richtig, richtig fleißig sind.“ Die Kinder sollten entscheiden, welches Spiel sie kennenlernen wollen.

Das Ergebnis: Die Mädchen interessierten sich deutlich weniger für das Spiel für smarte Kids als die Jungs. Und deutlich mehr für das Spiel, bei dem es vor allem darum ging, sich anzustrengen. „Die Vorstellung von Kindern, wer brillant ist und wer nicht, hat also direkten Einfluss auf die Entscheidung, welcher Tätigkeit sie nachgehen“, schreiben die Forscherinnen in ihrer Studie, die sie im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlichten.

Das heißt, dass im Alter von nur sechs Jahren die Weichen für den Rest des ­Lebens schon gestellt sind.

Aber wen wundert das! Eltern in den USA googeln zum Beispiel die Frage „Ist mein Sohn ein Genie?“ sehr viel häufiger als „Ist meine Tochter ein Genie?“. Bei Töchtern googeln die besorgten Eltern eher: „Ist meine Tochter übergewichtig?“ Obwohl Jungen objektiv häufiger übergewichtig sind als Mädchen. ExpertInnen aus der Wirtschafts- wie aus der ­Erziehungswissenschaft raten auch in Deutschland schon seit Jahren dazu, schon in den Kindergärten Vorbilder zu präsentieren, die mit den typischen Rollenklischees brechen.

In der Untersuchung von Bian & Co gab es übrigens noch eine zweite Geschichte, die sie den Kindern erzählt haben. Sie handelte von einer Person, die „richtig, richtig nett ist“. Auch diesmal waren sich die Jungen und Mädchen ab sechs Jahren einig: Das muss eine Frau sein! 

Alexandra Eul

Aktualisierte Fassung, 27.4.2017

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Der 1. Töchtertag

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Franziska wippt zaghaft in dem schwarzen Ledersessel. So ganz wohl ist ihr noch nicht in dem Riesending, in dem die 13-Jährige ein Stück versinkt. Aber nach einer Minute Wippen geht es schon besser. Und als der eigentliche Sesselinhaber, Dr. Rockel, ihr verrät: "Manchmal leg ich sogar die Füße auf den Schreibtisch", da lässt Franziska sich das nicht zweimal sagen. Sie klatscht ihre Jeansbeine auf die Tischplatte und grinst. Jetzt ist es da, das coole Chefsessel-Feeling. Und verschwunden die bange Befürchtung, so ein Sessel könnte für ein Mädchen eine Nummer zu groß sein. Und genau deshalb hat Wolfgang Rockel, der Leiter der Telekom-Kundenniederlassung Hamburg, heute Morgen seinen Platz für Franziska geräumt.

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Die Füße lässig auf dem Tisch, beantwortet das Mädchen nun auch die Frage, ob sie sich vorstellen könnte, später selber mal Bossin zu sein, mit einem entschiedenen: "Ja!" inklusive politisch korrekter Begründung: "Wenn Mädchen sehen, was sie alles machen können, dann machen sie das auch."

Genau so sieht die zwölfjährige Saskja das auch. "Alle Mädchen meinen immer, Männerberufe wären so schwer. Aber so schwer können sie ja gar nicht sein." Saskia für ihren Teil hat nämlich schon die häusliche Kaffeemaschine zerlegt und wieder zusammengebaut und aus der Tatsache, dass sie anschließend funktionierte, geschlossen: "Wenn man Mut hat, schafft man alles!"

In dieser Einstellung werden Franziska, Saskja und die anderen 40 Mädchen, die heute Morgen die Deutsche Telekom in Hamburg gestürmt haben, an diesem Donnerstag schwer ermutigt. Zum Beispiel von Herrn Schlegel. "Ihr seid in der Schule leistungsmäßig besser als die Jungs", bestätigt der Ausbildungsleiter den 12- bis 13-Jährigen in Plateauschuhen und Batikhosen. Und fährt fort: "Aber später ergreift ihr leider meist die typischen Mädchen-Berufe, obwohl ihr viel größere Kapazitäten habt." Und weil das immer noch so ist, werden die Mädchen heute mit Vätern und Müttern, Onkeln und Tanten Computerprogramme schreiben, Kundengespräche führen oder Telefondosen verlegen.

Die Telekom ist, ganz wie rund 30 weitere Groß- und unzählige Kleinunternehmen, mit von der Partie beim TöchterTag oder, wie der Original-Titel der aus den USA importierten Idee lautet: beim "Take Our Daughters to Work Day". Das Konzept: Männer und Frauen nehmen jeweils am letzten Donnerstag im April ihre Töchter oder ein anderes Mädchen mit an ihren Arbeitsplatz. Einen Tag lang sollen die Mädchen erleben, dass ihnen nicht nur das Dutzend üblicher "Frauenberufe", sondern die ganze (Berufs-)Welt offen steht. "Stellt euch den Tag vor, an dem Mädchen wie ihr absolut überall arbeiten werden: als Dirigentinnen, Richterinnen, Forscherinnen, Erfinderinnen", schwärmen die TöchterTag-Erfinderinnen von der feministischen Frauenstiftung "Ms. Foundation".

Im Land der auch für Frauen immer weniger begrenzten Möglichkeiten ist der "Take Our Daughters to Work Day" seit seinem Start 1993 längst zur Institution geworden. 11 Millionen Mädchen haben in diesem Jahr mitgemacht. Die potenziellen Informatikerinnen, Journalistinnen oder Astronautinnen werden von Unternehmen wie American Express, IBM, der New York Times oder der NASA mit offenen Armen empfangen. Für jeden dritten amerikanischen Betrieb ist die Teilnahme am Töchtertag heute Ehrensache.

EMMA berichtet schon seit 1997 über den DaughtersDay und lancierte schon im vergangenen Jahr den ersten deutschen Töchtertag für 2001. Als erster stieg der rot-grün regierte Stadtstaat Hamburg ein. Und die hanseatische Wirtschaft zog rasch mit. Aber auch in anderen Städten regte sich erstmals was. Rund 5.000 deutsche Mädchen zwischen zehn und 15 Jahren schwärmten am 26. April in die Unternehmen aus, davon 1.500 allein in Hamburg.

Wollte eine biologiebegeisterte Tochter nun partout nicht die elterliche Autowerkstatt besichtigen, sprangen NachbarInnen und FreundInnen ein. Beim Flugzeugbauer EADS Airbus brachten die MitarbeiterInnen 600 neugierige Mädchen mit, bei VW waren es 900, und auch bei der Lufthansa und der Deutschen Bahn, bei Siemens und Alcatel, Tchibo und C&A eroberten die Töchter Chefsessel, Computer und Cockpits, aber auch Polizeidienststellen und Politikerbüros.

Folgenreich: Die elfjährige Franziska ist entschlossen, nach der Kletterpartie auf einer alten Diesellok Lokführerin zu werden. Sie wäre die zweite bei der Hamburger Bahn. Ann-Paulin will nach dem Tag mit ihrem Vater auf der Lufthansa-Basis Fuhlsbüttel "später mal Pilotin werden" und im Cockpit sitzen. Auch der Berufswunsch von Anna Katharina hat sich konkretisiert, nachdem sie CDU-Fraktionschef Ole von Beust begleitet hat. Die Zwölfjährige möchte jetzt Bundeskanzlerin werden.

Da läuten in Berlin die Glocken... Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn: "Wir haben heute die bestausgebildete Frauengeneration, die wir je hatten. Aber immer noch ergreifen Mädchen überwiegend traditionelle Frauenberufe, die oft schlechte Zukunftsaussichten und Verdienstmöglichkeiten bieten. Das will ich ändern!" Erstmals, wenn auch etwas kurzfristig, rief auch die Ministerin den "Girls Day" aus.

In der Tat, in Deutschland wählt mehr als jedes zweite Mädchen aus 380 Ausbildungsberufen noch immer nur zehn aus: Spitzenreiterinnen sind Kauffrauen, Friseurinnen und Arzthelferinnen. In den zukunftsträchtigen so genannten IT-Berufen in der Computerbranche liegt der Prozentsatz der weiblichen Azubis unter zehn Prozent - und bei den Ingenieurwissenschaften an den Unis unter fünf. Unter den Top Ten der Jungen rangieren Fachinformatiker oder Fluggerätemechaniker - gut bezahlte Jobs mit Aufstiegsmöglichkeiten.

In Hamburg ergreift jede Dritte der 14.000 weiblichen Azubis einen traditionellen Frauenberuf. Deshalb war in der Hansestadt auch das Arbeitsamt beim Töchtertag mit von der Partie. Frauenbeauftragte Mechthild Pingler: "Der Weg vom Vater zum Sohn ist ja vorgezeichnet: Der Vater geht in die

Garage, und der Sohn geht mit. Dass die Väter mal was an die Töchter weitergeben, ist nicht vorgesehen." Deshalb sieht die Frauenbeauftragte zwischen einem Tag der offenen Tür, den viele Betriebe regelmäßig veranstalten, und dem TöchterTag auch "einen himmelweiter Unterschied".

In der Hansestadt riefen die grüne Gleichstellungssenatorin Krista Sager und die rote Schulsenatorin Ute Pape den Töchter- Tag für das ganze Bundesland aus. Berlin und Niedersachsen folgten dem guten Beispiel, wenn auch spät. Der Töchtertag 2002 am 25. April, da herrscht Konsens, soll rechtzeitig geplant werden. So wie in Hamburg. Seit Anfang des Jahres schrieben die Senatorinnen Schulen und Betrieben und erteilten den Töchtern für den großen Tag schulfrei. Bei vielen Unter- nehmen stießen die Senatorinnen auf ohnehin schon offene Ohren, so beim Flugzeugbauer Airbus in Hamburg-Finkenwerder. "Airbus Delivery Centre. Head of Maintenance. Management" steht auf dem Respekt einflößenden Türschild von
Susanne Feller. Direkt vor der breiten Fensterfront ihres Büros steht ein riesiges Flugzeug mit Gangway, weiter hinten liegen die Test-Landebahn, die Endmontagehalle und die Lackiererei. Und dahinter die Elbe. Die Wände des Büros sind bedeckt mit Fotos und Postern von Flugzeugen. "Was Mama genau macht, versteht kein Mensch", antwortet Swantje lässig auf die Frage, was die beeindruckenden neudeutschen Titel auf dem Türschild nun eigentlich zu sagen haben. "Sie kriegt, glaub' ich, irgendwie das Flugzeug, wenn es schon richtig fertig ist und nur noch gecheckt wird."

Das stimmt im Großen und Ganzen. Maschinenbau-Ingenieurin Feller ist Vorgesetzte von 55 Mechanikern, und als solche dafür zuständig, dass die Flieger wirklich fehlerfrei an den Kunden ausgeliefert werden. So oder so ist die 16-jährige Swantje mit den von hippen Klämmerchen geplätteten rot gefärbten Haaren jedenfalls superstolz auf ihre Mutter. "Also, erstmal find ich toll, dass sie so viele Männer unter sich hat. Und wie sie alles organisiert. Und dass sie mit so vielen Leuten aus aller Welt zu tun hat."

Was die Mama mit den raspelkurzen grauen Haaren mit den vielen untergebenen Männern macht, wird für Swantje im Laufe des Töchtertages etwas klarer. Zum Beispiel als einer dieser Männer mit einem Funkgerät auf der Landebahn auf ihre Mutter zu rennt. Ein Teil am Triebwerk eines Flugzeugs ist defekt und muss ausgewechselt werden, damit es morgen Abend pünktlich ausgeliefert werden kann. Susanne Feller gibt in ihrer Windjacke gelassen und kompetent Anweisungen. Sie muss jetzt ein Reparaturteam zusammenstellen, eventuell sogar eine Sonderschicht einberufen.

So was wie ihre Mutter zu machen, das kann Swantje sich gut vorstellen. Wenngleich sie auch Sportmanagement durchaus für "eine spannende Sache" hält und auch mit "irgendwas mit Musik" liebäugelt, weil die "tierisch Spaß macht". Aber eins ist klar: "Es gibt ungefähr drei Prozent Frauen in Führungspositionen. Und zu diesen drei Prozent möcht' ich auch gern gehören!" An ihrer Qualifikation zweifelt Swantje nicht. "Also: Wenn man eine Führungsposition haben will, muss man selbstbewusst sein und sich gegen Männer durchsetzen können. Und das kann ich ja jetzt schon."

Naheliegenderweise wollte Swantje kurzfristig auch mal Pilotin werden, "aber das hab ich nach zwei Wochen wieder abgeschrieben".

Im Gegensatz zu ihrer heutigen Büronachbarin Saskia Melzow. Die ist mit Vater Rolf seit heute Morgen in der Lehrwerkstatt und der Montagehalle unterwegs, aber: "Nö, die Flugzeuge, die da so rumstehen, interessieren mich nicht so". Das findet die EMMA-Reporterin natürlich schade. Wo doch der Vater... "Ja. Aber ich will Kampfpilotin werden."

Äh, Kampfpilotin? - "Ja, weil, ich interessier' mich schon fürs Fliegen, aber diese Passagierflugzeuge sind mir irgendwie nicht aufregend genug."  Das kann ja heiter werden. Auch Papa Rolf muss beim neuen Berufswunsch seiner Tochter schlucken, schwankt aber zwischen Irritation und Stolz, weil er "selber lange bei der Bundeswehr in der Fliegerei war" und die Faszination der Tochter verstehen kann. "‚Wir dürfen es bloß meiner Frau nicht sagen."

An diesem Morgen erleben Swantje und Saskia einen echten Triebwerks-Probedurchlauf und dürfen, bis das Flugzeug auf der Test-Landebahn abhebt, im Cockpit mitfahren und Fragen zu den vielen Knöpfen und Schaltern stellen. Und am Nachmittag besichtigen sie zusammen mit 380 weiteren Töchtern die riesige Endmontagehalle mit den vor der Lackierung noch hellgrünen Passagierflugzeugen, an denen gelb-orange Gerüste lehnen.

Airbus hat für die Führung an diesem Tag ausschließlich weibliche Mitarbeiter engagiert. Zum Beispiel Fluggeräteelektronikerin Helga Jirsat. Sie erklärt den Mädchen, die mit ihren Häkeltaschen und Augenbrauenpiercings Hand in Hand durch die Halle schlendern, wie das Seitenleitwerk angebaut wird, dass an diesem Modell der Radar noch fehlt und warum ein Flugzeug durch die Strömungsgeschwindigkeit überhaupt in der Luft bleibt. Oder Tanja Schiwon, eine von fünf Airbus-Fluggerätemechanikerinnen im ersten Lehrjahr, die es "superwichtig" findet, "dass man die Mädchen jetzt schon in ganz jungen Jahren an diese Berufe ranführt".

Sogar die Lufthansa, der noch in den 80ern ein Prozess wg. Nichtzulassung weiblicher Kandidaten für die Pilotenausbildung drohte - worüber EMMA 1986 empört berichtete! -, legt heute Wert auf weibliche Vorbilder. Verfahrensingenieurin, Fluggerätebauerin, Lackiererin, Elektronikerin, Umweltbeauftragte steht auf den Schildern, die vor den Frauen an den Tischen im "Gesprächsrundenraum" aufgebaut sind. Da können sich die 130 Gästinnen dazusetzen und, ohne Angst vor Publikum, die Fachfrauen mit Fragen löchern.

Carina hat eine leuchtend rote Schramme auf der Stirn, von einem Kickboard-Unfall, und ist daher bei Sicherheitsingenieurin Gabriele Kamradt am richtigen Tisch.

"Ich gehe gern in die Werkstätten und rede mit den Meistern und Vormännern", berichtet die Frau im Arbeits-Overall. "Und ich mag, dass man bei meinem Job was bewegt, was anfassen kann." Auch Vivianne, die heute Nachmittag mit ihrer Tante "die Tanks am Computer überprüfen" wird, findet den Töchtertag klasse, "weil es ist ja so: Die Männer haben die hohen Posten, und die Frauen werden Verkäuferin." Sie selbst interessiert sich für Biologie. Aber das wird dann später schon schwierig, sich gegen die Männer zu behaupten, befürchtet Vivianne.

"Nö, wieso?", fragt Carina gelassen. - "Weil die Männer denken, eine Frau kann so was nicht." Der Disput zwischen den beiden Elfjährigen ist eröffnet. "Ich kann nicht verstehen, dass sie Angst hat", sagt Carina cool. "Klar buttern die Männer einen unter. Aber dann muss man eben zeigen, dass man's kann!"

Ein paar Kilometer weiter hat Lucie heute zusammen mit sieben weiteren Mädels beim NDR ihren ersten Radiobeitrag fabriziert, und der ist sogar gesendet worden. Das Rechtsanwaltsbüro ihres Vaters hatte die 13-Jährige für "zu langweilig" befunden und den "Mann der Freundin meiner Mutter" konsultiert. "Der Thomas" ist nämlich Redakteur beim NDR und nahm sie prompt am TöchterTag mit ins Funkhaus.

Früher wollte Lucie Kinderärztin werden, bis sie in einem Fernsehbeitrag erfuhr, dass "man da Skelette oder so sezieren muss". Das war ihr entschieden zu eklig. Nach ihrem heutigen Streifzug durch die Redaktionen, der Begegnung mit Landesfunkhauschefin Dagmar Rein, dem Mittagessen mit Moderator Uli und vor allem ihrer eigenen Stimme im Äther steht der neue Berufswunsch jetzt fest, zumindest für heute: "Ich werd' Moderatorin."

Es waren aber nicht nur die Bosse und Behörden, die den Startschuss zum TöchterTag gaben. In etlichen Fällen war er auch einfach eine spontane Initiative, zum Beispiel im Polizeikommissariat Poppenbüttel. "Die Mädels wären bei uns goldrichtig", fand Kriminalhauptkommissar Hans Siebensohn nach der Lektüre des Briefs von Senatorin Sager, der Anfang des Jahres an alle Hamburger Behörden gegangen war.

Und so hatten die Poppenbütteler PolizistInnen am 26. April nicht nur die zwölfjährige Lisa, Tochter von Kriminalhauptkommissar Holger Bogert, zu Gast, sondern auch Alena, Krystyna, Johanna und Katharina. Letztere hatten sich selbst ans Telefon gehängt, nachdem sie in der Schule vom TöchterTag erfahren hatten, und im Kommissariat nachgefragt: "Unsere Eltern machen so was Langweiliges, wir wollen aber was mit Action kennen lernen!"

In einer richtigen Lederjacke durften die fünf Mädels über die Straße schlendern, die Einsatzzentrale und den Zellentrakt besichtigen - Kommentar Krystyna: "Hier müssten wir unsere Jungs mal reinstecken!" - und mit den BeamtInnen über deren Stress und ihre Ängste reden. Bald werden Johanna und Katharina auch mal eine Fahrt im Streifenwagen machen: Die beiden haben schon ein Praktikum für die nächsten Ferien klargemacht.

Deutsche Frauen haben bei der Polizei überhaupt erst seit 1979 Zugang. Doch schon 25 der 127 Poppenbütteler PolizeibeamtInnen sind heute weiblich. In Hamburg ist inzwischen jeder siebte Uniformierte eine Frau, und auch die nächsten freien Stellen sollen möglichst mit Frauen besetzt werden. "Und da hab ich mir gesagt", erklärt Kriminalhauptkommissar Siebensohn: "Wenn wir weiblichen Nachwuchs wollen, dann müssen wir uns gut verkaufen!"

Auch die Lufthansa sucht laut Pressesprecher Manfred Schmidt mittlerweile "händeringend" Nachwuchspiloten und will "auf die ungenutzten Potenziale zurückgreifen, die da rumschlummern", sprich: die Mädchen. Schmidt: "Mit so einem TöchterTag wollen wir diese ganzen Klischees über die angeblich so knallharten Männerberufe abbauen und den Mädchen zeigen: Das ist gar nicht so schlimm, wie ihr euch das vorstellt."

Fachkräftemangel führt in immer mehr Unternehmen zum heftigen Werben um weiblichen Nachwuchs. So hat Siemens eine Projektgruppe ins Leben gerufen, die den Frauenanteil in Führungspositionen in den nächsten drei Jahren verdoppeln und die Zahl der Ingenieurinnen und Informatikerinnen im Unternehmen - zur Zeit nur fünf Prozent - erhöhen soll. Und die Telekom, Anteil der Mädchen in den IT-Berufen zwölf Prozent, hat im April ein nagelneues Frauenprogramm verabschiedet: In allen Bereichen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, sollen sie ab sofort bevorzugt eingestellt werden.

Mädchen haben Zukunft.

Da ist es nicht überraschend, dass der Töchtertag nicht ganz ohne Protest der Söhne bzw. ihrer Fürsprecher blieb. So klagte die Hamburger Lehrerkammer, man wisse nicht, "wie man die Jungen an diesem Tag sinnvoll beschäftigen" könne. Und natürlich meckerte auch so mancher Junge über die "ungerechte Bevorzugung der Mädchen".

Manche LehrerInnen nutzten das Unterrichtsmaterial, das das Hamburger Institut für Lehrerfortbildung vorsorglich bereitgestellt hatte: wie die Jungen sich mit ihrer zukünftigen Rolle als Ehemänner, Freunde und Väter auseinander setzen können. Aber die Besichtigung von Chefetagen, Cockpits und Dampfloks ist natürlich etwas aufregender als die drögen Gender-Debatten im Klassenraum. Für Ministerin Bulmahns Berliner Koordinationsstelle für den nächsten TöchterTag ist klar, dass es am 25. April 2002 ein reizvolleres Angebot für das vernachlässigte Geschlecht geben muss.

Doch eines ist schon jetzt klar: der Töchtertag 2002 wird der Knaller! Einen "sehr sehr guten Aktionsstart und eine superpositive Resonanz von den Mädchen" meldet Sabine Mellies von der bundesweiten Koordinationsstelle in Bielefeld. Noch am Abend des 26. April landeten die ersten E-mails in ihrem Computer: "Danke! Der GirlsDay war echt klasse! Maren, Freya und Sandra" - "Ich war mit meinem Vater beim Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft. Sandra" - "Hat Spaß gemacht. Ich habe fast den ganzen Tag gearbeitet und will im nächsten Jahr wieder mitmachen. Anne, 13".

Ministerin Bulmahn ist entschlossen, die Kultusministerien der Länder vom Töchtertag 2002 zu überzeugen. Und der Kanzler? Schaun wir mal. Am 22. März hatte EMMA an Bundeskanzler Schröder geschrieben: "Für den 25. April 2002 hoffen wir auch in Deutschland auf einen landesweiten TöchterTag. Doch haben wir schon für dieses Jahr den Vorschlag, dass Sie, der Bundeskanzler, Ihre Tochter am 26. April mit an Ihren Arbeitsplatz nehmen."

Die Antwort steht noch aus. Wird es also was für den 25. April 2002, Herr Bundeskanzler?

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