Münchner „Wohnfrauen“: Nicht einsam!

Links die Initiatorinnen Christa Lippmann und Angela Lang mit einigen "Wohnfrauen" beim Kaffeeklatsch. - Foto: Astrid Schmidhuber
Artikel teilen

Als Renate S. in Rente ging, verlor sie ihre Wohnung. Die Kündigung war rechtmäßig und kam nicht überraschend. Das Apartment hatte ihr eine große Klinik in München, für die sie in der Verwaltung gearbeitet hatte, zur Verfügung gestellt. Für die Dauer der Beschäftigung, so stand es im Mietvertrag. Früher sei das anders gewesen, erzählt sie, da gab es einen gewissen Schutz. „Nun müssen auch altgediente OP-Schwestern aus ihren Wohnungen raus.“ In der ohnehin schwierigen Übergangszeit vor der Rente starben ihre Tochter und ihre Mutter. „Ich war in einem Zustand, in dem ich nicht mehr handlungsfähig war. Ich wäre wirklich unter der Brücke gelandet. Die Räumungsklage stand schon im Raum.“ Sie wusste, dass sie auf dem katastrophalen freien Wohnungsmarkt in München keine Chance hatte.

Vier Jahre sind seither vergangen. Renate S. sitzt an der Stirnseite des langen Holztischs im Gemeinschaftsraum ihrer Wohngruppe, umgeben von Frauen, die mehr sind als Zufallsnachbarinnen. Es gibt Kaffee und Kuchen, selbstgebacken versteht sich. Eine Schreinerin hat die Möbel gebaut, alles wirkt hell und warm, Lärmpaneele an den Wänden dämpfen die Stimmen und mitunter lautes Lachen.

Im April 2019 sind die Frauen zwischen Mitte 60 und Anfang 70 in das Gebäude der städtischen Wohnungsgesellschaft Gewofag einzogen: ein Neubau, weiße Fassaden, kubische Formen, dazu ein Innenhof mit hölzernen Klettergerüsten und weitläufiger Wiese, trotz der vielbefahrenen Arnulfstraße vor dem Wohnblock auffallend ruhig. Und das in Innenstadtnähe, die Trambahn vor der Tür, der Hauptbahnhof nur ein paar S-Bahn-Stationen entfernt. Ärzte, Biergärten, Geschäfte, alles in Reichweite. In dem U-förmig angelegten Haus leben mehr als 140 Mieterinnen und Mieter, darunter die acht „Wohnfrauen“, wie sie sich nennen, jede in ihrer eigenen Wohnung, manche im selben Stockwerk.

Drei von ihnen sind heute gekommen, um über ihr neues Leben zu sprechen. Und ein wenig auch über das alte, das nun hinter ihnen liegt. Leben, die so unterschiedlich sind wie die Frauen selbst. Veronika M. war nach 50 Jahren Ehe in finanzielle Not geraten, weil ihr Mann ohne ihr Wissen enorme Schulden angehäuft hatte. Als er krank wurde und in ein Pflegeheim kam, entdeckte sie durch einen Zeitungsartikel das Frauenwohnprojekt. Elke K., die mehr als 30 Jahre in einer Bank in Frankfurt am Main gearbeitet hatte, bevor sie nach München zog, pflegte noch vor wenigen Jahren ihre schwer erkrankte Freundin, mit der sie sich eine Vier-Zimmer-Wohnung geteilt hatte. Nach dem plötzlichen Tod der Freundin konnte sie die Wohnung nicht mehr bezahlen, aber sie hatte sich schon nach alternativen Wohnprojekten umgesehen und war dabei auf Christa Lippmann gestoßen.

Ohne die heute 77-jährige promovierte Wirtschaftspsychologin gäbe es das Frauen-Wohnprojekt nicht. Vor 31 Jahren hat sie aus einer evangelischen Frauengruppe heraus den Förderverein „Nachbarschaftlich leben für Frauen im Alter“ gegründet. Er bildet das organisatorische Dach für mittlerweile sechs Wohngruppen, in denen jeweils acht Frauen leben.

Das Konstrukt ist einfach, die Arbeit dahinter immens. Der Verein fragt bei Wohnungsbaugesellschaften und privaten Bauträgern nach öffentlich geförderten Wohnungen. Ein bis zwei Zimmer, der Quadratmeterpreis etwa 12 Euro warm. „Wir haben keine großen Ansprüche an ein Gebäude, wir brauchen keine bestimmte Architektur. Wir nehmen die Wohnungen und füllen sie mit unserem Gemeinschaftsgedanken, das reicht“, sagt die Psychologin Dr. Angela Lang. Sie bereitet die Frauen ein halbes Jahr vor dem Einzug während regelmäßiger Treffen auf das Zusammenleben vor.

Sind die Wohnungen gefunden, stellt der Vorstand des Fördervereins bei einer Neugründung die Frauengruppe zusammen, fast immer wählt er aus dem Pool von inzwischen fast hundert Frauen, die dem Verein angehören. Eintrittsgeld 300 Euro. Jahresbeitrag 40 Euro. Wird eine Wohnung in einer schon bestehenden Gruppe frei, entscheiden alle Bewohnerinnen mit, wer einzieht. Immer begleitet von Angela Lang und Christa Lippmann. Der Prozess der „Teambildung“, so Lang, soll die Wohngruppe vor destruktiven Konflikten bewahren.

Christa Lippmann war viele Jahre Geschäftsführerin des Betriebsrats in einem großen Konzern. Gut in der Kommunalpolitik vernetzt, leitet sie den Verein wie eine Managerin, nur ehrenamtlich. Daneben sorgt sie für die Sichtbarkeit des Wohnprojekts in den Medien. Weder sie noch Angela Lang wohnen selbst in einer der Gruppen. „Das gehört zum Konzept“, sagt Christa Lippmann, „und ich hätte vermutlich schnell eine Hausmeisterinnen-Funktion.“

Ein bis zwei Frauen sind es jeden Tag, die sich für das Wohnprojekt interessieren. Sie rufen an, weil sie eine Wohnung brauchen. Nicht unbedingt sofort, aber doch in absehbarer Zeit. Es sind alleinlebende Frauen an der Schwelle zur Rente, fast immer waren sie berufstätig, aber die Rente reicht nicht für eine Wohnung auf dem freien Markt. Für eine Sozialwohnung sind die Frauen jedoch nicht bedürftig genug, so fallen sie durchs Raster. Für diese Menschen, ausschließlich mit Wohnsitz in München, entwickelte die bayerische Landeshauptstadt das „München Modell“ und fördert damit bezahlbaren Wohnraum für mittlere und niedrige Einkommen.

Allerdings darf die Miete nicht mehr als 40 Prozent des Gesamtbudgets ausmachen. Die Vermögensfreigrenzen sind höher als bei Sozialwohnungen, doch Eigenkapital hat kaum eine der Frauen in diesem Projekt. Natürlich geht es hier auch um Geld. Doch wer beim ersten Anruf nur nach den Kosten fragt, hat schlechte Chancen. Wer fordernd auftritt, auch. Christa Lippmann sagt: „Viele Frauen halten uns für eine Behörde, die Wohnungen verteilt. Diese Konsumentinnen-Haltung müssen sie ablegen.“

Manchmal ruft eine längst erwachsene Tochter für die Mutter an. „Dann sagen wir ihr, die Mutter darf sich gerne selbst bei uns melden.“ Immer wieder gibt es auch das: Angehörige, die glauben, sie könnten ihre hilfsbedürftige Mutter in einer der Wohngruppen unterbringen. Doch Pflegebedürftigkeit, Demenz und psychische Erkrankungen können von der Wohngruppe nicht aufgefangen werden. Lippmann aber ist überzeugt, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben die Frauen auch vor den negativen Auswirkungen des Alterns schützen kann.

Erfüllt eine Frau die Kriterien für das „München Modell“ und ist in den Verein eingetreten, kommt sie für eine der Wohngruppen in Frage. Einen Anspruch darauf, schnell in eine Wohnung vermittelt zu werden, hat sie nicht. Wer passt und wer nicht, entscheidet sich nach vielen Begegnungen mit Frauen aus der Gruppe in jeweils unterschiedlicher Konstellation. „Endloses Reden, nicht zuhören können. Besserwisserei. Immer auf den eigenen Vorteil bedacht sein, das geht alles nicht“, sagt Lippmann. „Egoistisches Verhalten eben“ konstatiert Elke K. lapidar. Erlebt hat sie seit ihrem Einzug im August 2021 Hilfsbereitschaft und Empathie. Die Kisten waren noch nicht ausgepackt, da rutschte sie auf einem Brett am Balkon aus und brach sich den Mittelfußknochen. Acht Wochen war die sonst so agile Frau lahmgelegt. „Ich wurde bekocht und umsorgt. Eine Frau half mir, meine Pullover in die Regale zu sortieren, eine andere kaufte für mich ein.“ Die Grundidee der „sorgenden Hausgemeinschaft“, wie Lippmann sagt, hier scheint sie Realität zu sein.

Doch die Frauen sind keine Notgemeinschaft, keine hält das Alter für einen beklagenswerten Zustand. „Wir jammern einander nichts vor“, sagt Elke K. Lieber machen sie gemeinsam Ausflüge oder gehen ins Theater; die Initiative „Münchner für Münchner“ sorgt immer wieder für kostenlose Karten., Ja, das ist wichtig. Denn selbst Elke K. braucht als Rentnerin noch einen 520-Euro-Job, zwei Tage in der Woche arbeitet sie im Verkauf eines Einrichtungsgeschäfts. „Es macht mir Spaß“, sagt sie.

Wie bei anderen Frauen in den Wohngruppen auch, gibt es in ihrem Leben einen Mann. Der würde gern mit ihr zusammenwohnen, sie aber schätzt ihre Unabhängigkeit. „Die hatte ich immer.“ Veronika M. hat noch eine Ausbildung zur ehrenamtlichen Betreuerin gemacht. Nun unterstützt sie hilfsbedürftige Menschen, die ihre Belange nicht mehr allein regeln können. „Ich bin hier viel selbständiger geworden“, sagt sie.

Abstand und Nähe müssen überall austariert werden, auch unter den Frauen. Unmut entsteht jedoch meist beim Thema Gemeinschaftsraum. Das leidige Müllproblem, das ist hier nicht anders als in der Küche einer Studierenden-WG. 500 Euro Miete kostet der Gemeinschaftsraum im Monat, bezahlt wird die vom Verein, der wiederum Zuschüsse von der Stadt München dafür bekommt. Die Frauen der Wohngruppe in der Arnulfstraße begreifen den Raum auch als Chance, etwas für die anderen Mieterinnen und Mieter im Haus zu tun. Auf dem Stundenplan vor der Tür und online bieten sie „Hilfe bei Brief und Formular“ an, manchmal sitzen sie ganze Nachmittage über den Papieren.

Renate S. hat damals Hilfe bekommen, weil ein paar Frauen ihre Notlage erkannten. Christa Lippmann, die gut Vernetzte, gehörte dazu. In ihrem sonorem Bayerisch sagt Renate heute: „Ich fühl mich schon sehr geborgen in der Gruppe.“

Ausgabe bestellen
Anzeige
'

Anzeige

 
Zur Startseite