Social Media Verbot für Kinder?
"Wir müssen die Reißleine ziehen, es geht nicht anders. Unsere Kinder haben ein Recht auf ihre Kindheit, die müssen wir ihnen zurückgeben.“ Das erklärte Australiens demokratischer Ministerpräsident Anthony Albanese. TikTok, Snapchat, Reddit, X und Instagram werden für Kinder und Jugendliche in Australien bald nicht mehr verfügbar sein. Das Jugendschutzgesetz soll gegen Ende des Jahres in Kraft treten. Eine klare Mehrheit dafür steht: im Parlament sowie unter Australiens BürgerInnen.
Denn Untersuchungen haben erschreckende Ergebnisse zu Tage gebracht. Zum Beispiel, dass schon fünfjährige Jungen süchtig nach Gewaltpornografie sind und siebenjährige Mädchen an Magersucht leiden, weil sie online wegen ihres Körpers schikaniert werden. Zu verheerend seien die Auswirkungen von dem, was Kindern auf Social Media zugänglich gemacht werde, so die australische Regierung.
Pädokriminelle Videos, Hardcore-Pornos, Frauenhass, rassistische und islamistische Verhetzungen, Propaganda, Fake News und: Influencer wie Andrew Tate. Tate ist ein britisch-amerikanischer Kickboxer und selbsternannter Frauenfeind, dem Menschenhandel und Vergewaltigung vorgeworfen werden. Er gilt als König toxischer Männlichkeit. Tate fantasiert über eine Vergewaltigungskultur, liefert archaische Männlichkeitsbotschaften: Stärke und Gewalt. Auf X hat der Influencer mehr als acht Millionen Follower. Australiens Premierminister Anthony Albanese dazu: „Mit dieser ungesunden Männlichkeit muss Schluss sein!“
SchülerInnen der Sekundarstufe werden in Australien ab sofort über Männer wie Tate aufgeklärt und darin unterrichtet, Frauenhass, Hassrede und Zwangskontrolle im Internet zu erkennen und sich gegen geschlechtsspezifisches Mobbing zu wehren.
Generell scheint Australien sensiblere Antennen für toxische Männlichkeit zu haben. Im Mai 2024 gingen dort tausende Frauen und auch Männer gegen die „Epidemie der Gewalt“ auf die Straße. Kurz zuvor hatte ein Mann in Sydney in einem Kaufhaus fünf Frauen erstochen. Premier Albanese rief daraufhin eine „Nationale Krise“ wegen „toxischer Männlichkeit“ aus. Ad hoc beschlossen wurde ein Verbot von Deepfake-Pornografie und das Vorgehen gegen sogenannte „Manfluencer“ wie Andrew Tate.
Während Deutschland noch immer an einem verheißungsvollen Digitalpakt feilt, rudern andere Länder in Sachen Digitalisierung und Social Media längst zurück. Schweden beispielsweise hatte in den vergangenen Jahren einen hyperdigitalisierten Ansatz verfolgt, mit Tablets in nahezu jedem Klassenzimmer. Prompt sank das Leistungsniveau rapide. Nun werden 60 Millionen investiert: in Schulbücher. Zurück zum Papier lautet die Devise im hohen Norden. Die Klassenstufen 1 bis 9 sollen ab diesem Jahr handyfrei sein.
Dänemarks Bildungsminister Mattias Tesfaye will Ähnliches, und er entschuldigte sich bei den Jugendlichen, sie zu „Versuchskaninchen eines digitalen Experiments“ gemacht zu haben. Auch Dänemark diskutiert über ein Smartphone-Verbot für Kinder.
In den Niederlanden gab es sogenannte „Steve-Jobs-Schulen“, die nach dem Konzept „Lernen für eine neue Zeit“ nahezu papierfrei operierten. Ein Fehler, wie nun erkannt wurde. Den Kindern geht es nicht gut damit. Die Digitalisierung wird zurückgefahren. Seit Anfang 2024 sind Mobiltelefone, Tablets und Smartwatches laut niederländischer Regierung in Klassenräumen nicht mehr erlaubt.
Auch Giorgia Meloni hat in Italien ein Handyverbot an Schulen eingeführt. Selbst LehrerInnen dürfen keine Handys und Tablets zu Unterrichtszwecken verwenden. Das soll ihre Autorität stärken. Außerdem sollen SchülerInnen wieder mehr mit der Hand schreiben.
Und in Frankreich hat Noch-Präsident Macron persönlich den langen Bildschirmzeiten von Kindern den Kampf angesagt. Eine von ihm eingesetzte Kommission warnt vor dem „toxischen Ökosystem der sozialen Netzwerke“. Seit Anfang dieses Jahres haben alle 7.000 höheren Schulen des Landes eine „digitale Pause“. SchülerInnen müssen das Handy am Schuleingang abgeben. „Wir wollen die Verlockung zu Ablenkung reduzieren und das Schulklima verbessern“, so Erziehungsministerin Nicole Belloubet.
Ähnlich macht es Griechenland. Rigoros. Wenn SchülerInnen auf dem Schulgelände das Handy zücken, werden sie vom Unterricht suspendiert. Kommt das öfter vor, fliegen sie ganz von der Schule. Griechenlands Bildungsminister Kyriakos Pierrakakis: „Es geht um viel mehr als um Ablenkung. Die Kinder stumpfen ab, sie müssen wieder anfangen, miteinander in Kontakt zu treten. Sie müssen von dieser Sucht loskommen. Ihre Psyche leidet immens!“
Ein Blick auf Europa also zeigt: Die Zeiten ungebremster Begeisterung für die Digitalisierung sind vorbei – selbst in Ländern, die einst Vorreiter waren.
Vom autokratisch regierten China – dem Erfinder von TikTok – ganz zu schweigen. Da ordnete Xi Jinping 2023 an: Schluss mit Social Media für Kinder und Jugendliche – und schon ist das in dem Land mit seinen 1,4 Milliarden EinwohnerInnen umgesetzt. Kinder und Jugendliche dürfen im Reich der Mitte nur ein bis zwei Stunden Social Media nutzen. Anstelle von TikTok gibt es die chinesische Version „Douyin“ mit kontrollierten Inhalten. X, WhatsApp, Facebook, Instagram und Angebote von Google sind nicht mehr ohne Weiteres nutzbar. Seit 2021 dürfen unter-18-Jährige pro Woche nicht mehr als drei Stunden online spielen.
„Wir haben den Wunsch, unsere Kinder zu schützen“, ließ die chinesische Regierung verlauten. Und welchen Wunsch haben deutsche PolitikerInnen?
Lange war der Glaube: je digitalisierter, desto besser. Das ist Fortschritt, das ist die Zukunft. Deutsche Schulen mit staubigen Kreidetafeln wurden belächelt. Während der Pandemie wurden Kindern flächendeckend Handys und Tablets in die Hand gedrückt, damit sie bloß nicht abgehängt werden. Genau das aber scheint dadurch passiert zu sein. LehrerInnen beobachten eine Dauer-Müdigkeit und apathische Leere bei den Kindern. Das Leistungsniveau ist im Sinkflug.
Zwei von drei Grundschulkindern in Deutschland haben ein eigenes Smartphone und nutzen tagtäglich Social Media. 95 Prozent von ihnen sogar bis zu zwei Stunden pro Tag. Sie begeben sich in eine Parallelwelt, die ihnen laut eigenen Aussagen eigentlich Angst macht. Und die ihnen die Zeit raubt für das echte Leben: echte Freundschaften, echte Erlebnisse, echte Teilhabe und Verantwortung. Je länger Kinder „daddeln“, desto schlechter schlafen sie, desto kürzer wird ihre Aufmerksamkeitsspanne – desto schlechter werden sie in der Schule, desto wahrscheinlicher sind Depression und Einsamkeit. Ganz abgesehen von der mangelnden Bewegung. „Brain Rot“ wird das genannt, ein gammeliges Gehirn, überfordert und ausgelaugt durch die ständige Jagd auf den nächsten Dopamin-Kick, eine noch ekligere Challenge, einen noch gewalttätigeren Porno.
Seit der Pandemie tauchen regelmäßig Studien auf, die belegen, wie sehr die seelische und körperliche Gesundheit von Jugendlichen unter Social Media leidet. Jedes fünfte deutsche Kind leidet nachgewiesen unter psychischen Störungen.
Mehr als die Hälfte der weiterführenden Schulen in Deutschland hat inzwischen selbst die Initiative ergriffen und Handys im Unterricht verboten. Was aber weiterhin fehlt, ist eine Haltung und sind Handlungen seitens der Politik. Wieder wird die heilige Kuh Datenschutz hervorgezogen. Man dürfe nicht in Eigentumsrechte und die persönliche Freiheit eingreifen, so die Grünen. Bloß keine „Verbotskultur“, so die Liberalen.
Immer mehr LehrerInnen, PsychologInnen, ÄrztInnen und Eltern wünschen sich allerdings genau das: am liebsten eine deutsche, europäische oder sogar weltweite Kampagne gegen Smartphones und Social Media. „Medienverwahrlosung“ lautet in den Klassenzimmern das Wort der Stunde. Eine aktuelle YouGov-Umfrage zeigt: Eine große Mehrheit der Deutschen unterstützt ein Digital-Verbot, wie Australien es nun vorgelegt hat.
Künftig herrscht dort auf den Portalen eine Altersprüfung. Kommen Konzerne dem nicht nach, drohen ihnen Strafen von bis zu 50 Millionen Dollar. Australischen KritikerInnen, die an der Umsetzung eines Verbots zweifeln, entgegnete ein ExpertInnenteam der Regierung: „Die Technologie für eine Altersregulierung existiert seit Jahren. Wir haben seit 20 Jahren eine Altersverifikation für Glücksspiele.“ Auch Alkohol könne niemand ohne Ausweis und Kreditkarte online kaufen. Kurz: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Natürlich wird es immer Schlupflöcher geben. Kinder schaffen es schließlich auch, Alkohol zu kaufen. Sollte man es deswegen erlauben? Australiens Ministerpräsident Anthony Albanese: „Wir alle müssen uns klar machen, was hier auf dem Spiel steht!“
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