Alice Schwarzer schreibt

Sofi Oksanen: Flammend

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Wie ein dunkel glitzerndes Reptil – das scheinbar unbewegt nur darauf wartet, vorzuschnellen – sitzt sie da auf der Bühne, auf dem Kopf kupferrote Dreadlocks und um den Hals eine Kette mit babyfaustgroßen Perlen. Die Finnin Sofi Oksanen, deren Roman „Fegefeuer“ schon wenige Monate nach Erscheinen in 25 Sprachen übersetzt worden ist.

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Wie erklärt sich dieser internationale Erfolg?, will die Interviewerin an diesem Abend in der voll besetzten Kölner „Kulturkirche“ wissen. „Ganz einfach, weil die Erfahrung sexueller Gewalt eine universelle ist“, antwortet Oksanen mit einer überraschend tiefen Stimme und diesem unbeweglichen Gesicht, gegen dessen Hübschheit sie vergeblich mit strengem Gesichtsausdruck und einer randlosen Intelello-Brille ankämpft.

In der Tat: Selten ist über sexuelle Gewalt und ihre lebenslangen Folgen für die Opfer und ihre Kinder und Kindeskinder so schmerzlich genau und gleichzeitig so gar nicht voyeuristisch geschrieben worden. Hinzu kommt in diesem Fall die politische Gewalt, beide bedingen sich gegenseitig.

Der Roman beginnt mit einer alten Frau in Estland im Jahr 1992. Die sitzt in der Küche ihrer Bauernkate und starrt auf eine Fliege. Die Fliege starrt zurück. Wir müssen bis zur Mitte des Romans und bis ins Jahr 1947 zurückgehen, um zu erfahren, was es mit dieser Fliege auf sich hat. Die Fliege ist die Verkörperung dessen, was in den entscheidenden Stunden mit Aliide Truu im Sitz der örtlichen Sowjetfunktionäre passiert. Es sind Genossen und Freunde ihres späteren Ehemannes, die ihr da die Seele aus dem Körper stoßen. Dies ist wohl eine der eindringlichsten Schilderungen der Literaturgeschichte über Vergewaltigung. Über die Flucht des Opfers aus dem eigenen Körper, das lebenslange Verstummen und den Selbsthass.

Die zweite Protagonistin des Romans ist Zara, von der sich viele, viele Seiten später herausstellen wird, dass sie die Großnichte der alten Frau ist. Aliide hat schwere Schuld auf sich geladen in Bezug auf deren Großmutter, ihre Schwester. Doch diese Schuld hat eben auch mit Aliides seelischer Erstarrung und ihrer Sprachlosigkeit zu tun.

Zara ist auf der Flucht. Auf der Flucht vor Frauenhändlern, die sie aus ihrem trüben Plattenbau in Russland nach Berlin gelockt hatten. Und da ist sie nun gefangen, gleich nebenan, wir alle könnten sie sehen. Wir alle könnten ihr helfen. Aber niemand hilft. Zara – und das ist der Fortschritt zwischen diesen beiden Frauengenerationen – befreit sich letztendlich selber. Und sie rächt sich. Aber sie bleibt in höchster Gefahr.

Diese eternelle Geschichte der Frauen ist auf virtuose Weise verschränkt mit der Geschichte Estlands. Sofi Oksanen ist 1977 geboren und in der finnischen Provinz aufgewachsen („Das war kein Picknick.“). Aber sie hat in den Ferien häufig ihre estnische Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, in der Kolchose besucht. Sie hat also hautnah den Umbruch zwischen sowjetischer Kolonialisierung und estnischer Unabhängigkeit ab 1991 erlebt.

In diesem Roman werden permanent die Fronten gewechselt. Nicht nur die von Estland, das mal von Dänen, Deutschen, Schweden oder Russen besetzt ist und nur von 1920 bis 1940 unabhängig war; dann kam erst die Rote Armee, es folgte die deutsche Soldateska, dann wieder die Sowjets. Auch die Menschen wechseln permanent die Fronten, sind erst Aufständische und werden dann Kollaborateure, sind scheinbar dafür, aber in Wahrheit dagegen, oder auch umgekehrt. Das einzig Konstante sind die sexuelle und die politische Gewalt.

Oksanen sagt, sie habe sich anregen lassen von einer wahren Geschichte, nach der eine estländische Mutter und Tochter einen verwundeten deutschen Soldaten bei sich versteckt hatten. Sie wurden denunziert, die Tochter wurde auf die Kommandantur geschleppt – und verstummte nach dieser Nacht für den Rest ihres Lebens. Und sie sagt, Autorinnen wie Slavenka Draculić mit ihrem Roman über die Vergewaltigungslager in Bosnien oder Marguerite Duras mit ihren Romanen über die Kolonialisierung hätten sie inspiriert.

Aushaltbar ist das Grauen dieses Buches, weil diese Schriftstellerin es gleichzeitig überwindet. Mit der Radikalität ihrer Wahrhaftigkeit und der Poesie ihrer Sprache schaffte sie ein literarisches Meisterwerk, das sich liest wie ein Krimi. Zu Recht hat dieser von Angela Plöger exzellent übersetzte Roman, Oksanens dritter, einen so durchschlagenden Erfolg. Die größte estnische Tageszeitung, Psotimees, kürte Sofi Oksanen 2009 zur „Person des Jahres“, und in Finnland verkauft sich das Buch so gut wie Harry Potter, Oksanen erhielt gerade den „Literaturpreis des Nordischen Rates“.

An diesem Abend in Köln saß neben der Schriftstellerin die Schauspielerin Anna Thalbach, die mit angemessener Eindringlichkeit auch das Hörbuch zum Roman spricht. Über das Leben von Sofi Oksanen ist wenig bekannt, nur, dass die bekennende Feministin offen bisexuell ist. In ihrem Heimatland ist die so eigenwillige junge Schriftstellerin inzwischen so populär, dass sie auf der Straße angesprochen wird. Sie ist ja auch kaum zu übersehen.

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Sofi Oksanen: „Fegefeuer“ bei Kiepenheuer & Witsch (19.95 €), als Audiobook bei Hörbuch Hamburg (24.95 €).

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