Fall Mauser: Ende des Schweigens

Missbrauchtäter und Ex-Präsident der Münchner Musikhochschule Siegfried Mauser. Foto: Sina Schuldt/dpa.
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Sie sind sich nur einmal kurz in einem Gerichtssaal begegnet, sie siezen sich, aber sie teilen eine sehr persönliche Erfahrung: Die Cembalistin Christine Schornsheim, 62, Vize-Präsidentin der Münchner Musikhochschule, und die Mezzosopranistin Maria Collien, 65, sind die beiden Frauen, die als erste in Deutschland zwei rechtskräftige Urteile gegen einen prominenten Missbrauchstäter erwirkt haben. Schornsheim und Collien haben 2015 und 2016 den langjährigen Präsidenten der Musikhochschule München, Siegfried Mauser, angezeigt. Der Vorwurf: Sexuelle Nötigung in insgesamt vier Fällen aus den Jahren 2007, 2009 und 2013. In zwei aufsehenerregenden Prozessen wurde Mauser zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten verurteilt. Seit 2018 und 2019 sind die Urteile rechtskräftig. Mitte Mai trafen sich Schornsheim und Collien zum ersten Mal zu einem persönlichen Gespräch.

Frau Collien, Frau Schornsheim, mit etwas zeitlichem Abstand betrachtet: Was haben Ihre Anzeigen, die Prozesse, die Urteile und die Diskussion darüber verändert?
Schornsheim Ich persönlich bin froh, dass ich es gemacht habe. Bei aller Kraft, die es mich gekostet hat, bereue ich nichts. Ob es in der Gesellschaft etwas verändert hat? Ich glaube ja! Ich habe das Gefühl, es ist heute insgesamt eine größere Sensibilität da, genauer hinzuschauen, schneller einzugreifen, wenn ein Übergriff passiert. Darf ich Ihnen dazu eine Geschichte erzählen?

Gerne.
Schornsheim Eine ehemalige Studentin, eine Cellistin, erzählte mir kürzlich, sie habe einen Mann kennengelernt, den sie ganz nett fand, aber auch nicht mehr. Sie sind ins Gespräch gekommen und irgendwann fing er an, sie zu begrapschen. Sie hat daraufhin klar gemacht, dass sie das nicht will. Das ging so zwei-, dreimal hin und her, bis er schließlich zu ihr sagte: „Okay, ich habe verstanden. Ich will ja nicht so enden wie Sigi Mauser“. Die Studentin sagte mir, ohne unsere Anzeigen und die daraus resultierenden Urteile hätte sie es an diesem Abend sehr viel schwerer gehabt. Das gibt mir Hoffnung.

Maria Collien. Foto: Robert Brembeck.
Maria Collien. Foto: Robert Brembeck.

Collien Wir haben etwas durchgestoßen, das jetzt auf fruchtbaren Boden fällt. Ich habe mich nie als Feministin oder als Vorkämpferin für andere Frauen gesehen, bis mich vor einigen Jahren der griechische Dirigent Spiros Argiris auf meine Herkunft ansprach. Argiris war ein besonderer, einfühlsamer Mann, ganz anders als die meisten, die ich während meiner Karriere in Italien, Frankreich oder den USA kennengelernt habe. Er meinte: Du bist Deutsche, du kannst dich nicht einfach aus der Politik heraushalten, du hast eine Verpflichtung. Das war für mich ein Augenöffner.

Trotzdem haben Sie erst den Schornsheim-Prozess abgewartet.
Collien Vor MeToo schien mir ein Prozess wegen sexuellen Missbrauchs im Alleingang gegen einen Prominenten wie Mauser vollkommen aussichtslos. Noch 2013, nach dem dritten Übergriff Mausers auf mich, hätte mir eine Aufsichtsbeschwerde wegen verweigerter Dienstpflicht bezüglich mehrerer Berufungsverfahren gereicht. Aber als ich vom Schornsheim-Prozess erfuhr, war ich wie vom Donner gerührt. Ich wusste: Da muss ich jetzt hingehen und aussagen. Wenn jemand so mutig ist, das anzuzeigen, dann habe ich keine Berechtigung mehr zu schweigen.

Welche Gefühlslage überwiegt bei Ihnen heute: Genugtuung?
Schornsheim Viele denken ja, der Prozess ist vorbei und alles ist gut. Ich habe unterschätzt, wie sehr das in einem nacharbeitet, was man vorher jahrelang versteckt hat (Mausers Übergriff auf Schornsheim passierte im April 2009, die Anzeige erfolgte im Mai 2015; d. Red.). Ich würde ja gerne einfach nur als Person oder Musikerin Christine Schornsheim durch die Welt gehen. Aber selbst in Japan wurde ich auf den Prozess angesprochen. Offene Feindseligkeit ist mir selten begegnet, aber sehr häufig etwas Argwöhnisches. Bei vielen ist das Thema angstbesetzt, nach dem Motto: Habe ich jetzt vielleicht etwas Falsches gesagt, die hat doch schon mal jemanden angezeigt.

Die Anzeige überschattet Ihre Musikkarriere?
Schornsheim Ja, so erlebe ich das.

Eine Anzeige ist für eine Frau immer noch ein grosses Risiko. - Maria Collien

Frau Collien, Sie haben im Prozess davon berichtet, dass Sie schon vor Siegfried Mauser etliche sexuelle Übergriffe erlebt haben, von Dirigenten, Intendanten, Sängerkollegen, auch Journalisten. Wie sehr ist die Klassikwelt heute noch eine Bastion des „alten weißen Mannes“, der glaubt, er könne sich alles erlauben?
Collien Bei mir begannen die Übergriffe mit meinem Debüt. „Carmen“, meine erste große Partie, 1989 in Gummersbach. Am Tag vor der Generalprobe packte mich der Dirigent, zerrte mich ins Gebüsch und drückte mir einen Zungenkuss auf. Ich stieß ihn heftig zurück, so dass er hinfiel. Am nächsten Tag hat mich der Dirigent mit der vorgeschobenen Begründung rausgeschmissen, ich würde die Partie nicht beherrschen. Ich habe mir einen Rechtsanwalt genommen, sonst hätte er mir nicht einmal meine Auslagen für die sechs Wochen Probe erstattet, ein Honorar habe ich auch so nie bekommen. Ich wurde damals gewarnt: Wenn du jetzt Wirbel machst, setzt du nie wieder einen Fuß auf eine deutsche Bühne – und genau so kam es. In unserer kleinen Klassikwelt hat sich, so fürchte ich, nicht so viel geändert.

Sie haben kürzlich in einem Offenen Brief („Schweigen gilt nicht, Reden ist Gold“) beklagt, dass es genau dann auffallend still wird, wenn Fakten geschaffen, Tatumstände benannt, Anzeigen erstattet werden sollen.
Collien Eine Anzeige ist für eine Frau heute immer noch ein großes Risiko in unserer Gesellschaft. Bei der jungen Generation spüre ich zwar eine Veränderung, aber die Allermeisten, die sich heute trauen, den Mund aufzumachen, tun das immer noch anonym. Ich allein kenne drei Frauen, die ähnliches erlebt haben wie ich und die niemals Anzeige erstattet haben. Zwei Frauen in München und eine Professorin am Mozarteum in Salzburg. Doch solange wir schweigen, wird sich nichts ändern.

An der Münchner Musikhochschule ist auf den ersten Blick viel passiert: Es gibt interne wie externe Melde- und Ombudsstellen, eine Arbeitsgruppe, Aktionstage, Workshops …
Schornsheim Was man an Präventionsmaßnahmen machen kann, haben wir gemacht. Das war eine Entwicklung von Saulus zu Paulus. Wenn Frauenbeauftragte früher gesagt haben, es gäbe keinen Bedarf, dann sieht das heute anders aus. Es melden sich Betroffene, das weiß ich. Solange es aber insgesamt in der Musikszene diese Hierarchien gibt, Sprüche alltäglich sind wie „Das muss man schon aushalten können“ oder „Sei nicht so zickig“, solange wird sich auch bei den Studierenden nichts Bahnbrechendes ändern. Sie vertrauen ihren ProfessorInnen, dass diese ihnen behilflich sind am Beginn ihrer Karriere. Diesen Weg verbaue ich mir doch nicht selbst durch meine Beschwerden.

Christine Schornsheim. Foto: Robert Brembeck.
Christine Schornsheim. Foto: Robert Brembeck.

An den Musikhochschulen in Düsseldorf und Hamburg und an der Leipziger Kunsthochschule wurde Professoren fristlos gekündigt. Ein Erfolg der Aufklärung?
Schornsheim Bezeichnend für die aktuelle Situation finde ich den Fall an der Oper Zürich. Es wurde so kommuniziert, als hätte der Operndirektor (Michael Fichtenholz, d. Red.) selbst gekündigt. Es fehlte der Mut, zu sagen: Es liegt ein Fehlverhalten vor und deshalb musste er gehen. Stattdessen wird offiziell von großem Bedauern fabuliert, man wünsche ihm von Herzen alles Gute. Dieses Totschweigen ist der Anfang der Lüge.

Collien Das Problem ist, wir SängerInnen und MusikerInnen hängen von Menschen wie Mauser oder Fichtenholz ab, die in allen Gremien sitzen, Karrieren steuern, fördern oder beenden. Aber bis sich an den Schaltstellen der Theater am Frauenanteil etwas ändert und halbwegs eine uneingeschränkte Gleichstellung herrscht, können wir nochmal 50 Jahre warten.

Mauser-Freund Hans Magnus Enzensberger hat Sie öffentlich als „tückische Tellerminen“ diffamiert, Ex-Hanser-Verleger Michael Krüger sprach von einem „Justizkomplott“. Zu seinem 65. Geburtstag widmete ein Netzwerk aus Musikern, Literaten, Intellektuellen dem rechtskräftig verurteilten Straftäter Mauser eine 400 Seiten starke Festschrift. Wie ist das denkbar?
Schornsheim Meine erste Reaktion war: Sollen die doch machen, geht mich nichts an. Dann aber merkte ich, dass die Festschrift bei mir wie ein langsames Gift wirkte. Wenn Herr Mauser seinen 65. Geburtstag hat, finde ich es wunderbar, wenn ihm viele Freunde gratulieren. Mit der Festschrift postuliert man aber ein öffentliches Statement. Das kann man tun, aber dann bezieht man Stellung. Einem der Autoren, den ich näher kenne, habe ich später persönlich geschrieben, ihm dargelegt, was das mit mir macht und warum ich das nicht verstehen kann. Ich bekam eine lange, sehr mitfühlende Antwort, in der er sich von diesem unsäglichen Vorwort distanzierte. Öffentlich hat er das natürlich nicht getan.

In dem Vorwort war die Rede von Mausers „bisweilen die Grenzen der ‚bienséance‘ überschreitenden weltumarmender Eros“. Wie empfanden Sie das?
Schornsheim Die Wunde kann nicht abheilen. Es löst bei mir eine Art von Resignation aus, eben weil es keine No-Names waren. Da waren auch viele dabei, die nicht zur Generation Mauser zählen, die noch am Anfang oder in der Mitte ihrer Karriere stecken. Viele dieser Namen werden unsere Gesellschaft und Kulturszene weiter über Jahre und Jahrzehnte prägen, das ist bitter und verletzt mich persönlich.

Der Korpsgeist eines rigide geführten Männernetzwerks, dem man sich nicht zu widersetzen traut, weil man sonst Karrierenachteile in Kauf nehmen müsste?
Schornsheim Wohl eher was Unreflektiertes. In dem Sinne, ich werde gefragt, ich habe Mauser soviel zu verdanken, er ist doch schon bestraft genug, also schreib ich was…

Collien Frau Schornsheim, so leicht können wir sie doch nicht davonkommen lassen! Denn genau das ist es, worauf sie spekulieren. Sie sind in den Institutionen der Hochschule drin, Sie hatten den Mut und sind aufgestanden, Sie hatten eine Menge zu verlieren. Ich habe eine riesige Hochachtung vor Ihnen, Ihre Gutmütigkeit überrascht mich, dafür war der Preis doch viel zu hoch, finden Sie nicht?

Schornsheim Wenn ich nachsichtig erscheine, dann deshalb, weil ich meine Kräfte bündeln muss. Es bringt nichts, mich täglich über Dinge aufzuregen, die ich selbst nicht ändern kann.

Man gibt mir zu verstehen: Jetzt ist es aber auch mal gut. - Christine Schornsheim

Wie wird die aufgewühlte Debatte um Geschlechtergerechtigkeit innerhalb Ihrer Hochschule geführt? Auch in München gibt es inzwischen junge Professorinnen wie die Geigerin Julia Fischer, die einen neuen Zeitgeist verkörpern.
Schornsheim Ich kann ein solches Interesse daran bei uns nicht erkennen. Mit mir hat jedenfalls keine und keiner das Gespräch gesucht. In der Gesellschaft haben die jungen Leute in Sachen Frauenrechte oder Ökologie einen besonderen Drive entwickelt, an der Musikhochschule sehe ich davon wenig. Im Gegenteil: Es ist eine große Müdigkeit da, was das Thema angeht. Direkt sagt mir das natürlich keiner, aber man gibt mir zu verstehen: Gut, dass wir darüber gesprochen haben, aber jetzt ist es auch genug. Wir sind gerade dabei, einen Code of Conduct zu formulieren, das sehen einige als überflüssig an. Wir sind noch ganz am Anfang. Jetzt schon müde zu sein, wäre fatal. Dann fallen wir schnell wieder zurück auf den Stand zu Mausers Zeiten.

Es heißt, Sie wollen Ihr Amt als Vize-Präsidentin aufgeben?
Schornsheim Ja, im Sommer ist Schluss, aber nicht, weil ich genervt wäre. Ich habe mich für das Amt der Vizepräsidentin zur Verfügung gestellt, auch um zu mehr Gerechtigkeit und Transparenz beizutragen, und vieles ist auch vorangekommen. Aber ich habe sechs Jahre einen Doppelt- und Dreifachjob gemacht, das war enorm kräftezehrend. Ich möchte musikalisch wieder mehr für meine Studierenden und mich tun.

Wird Ihre Stelle mit einer Frau nachbesetzt?
Schornsheim Ich rechne stark damit, weil sonst der Präsident sofort die Frage beantworten müsste, warum das Leitungsgremium der Hochschule wieder nur aus Männern besteht.

Wie fühlen sich die Opfer, wenn der Täter fast zwei Jahre nach einem rechtskräftigen Urteil immer noch frei herumläuft? Siegfried Mauser hat sich nach Österreich abgesetzt, einen konkreten Haftantrittstermin gibt es bis heute nicht. Es heißt, er sei wegen seiner angeschlagenen Gesundheit haftunfähig.
Schornsheim (beginnt zu lachen) Ich wundere mich und ich verstehe es nicht. Dass eine Gefängnisstrafe auch abgesessen werden muss, daran hatte ich bisher immer geglaubt. Diejenigen, die dafür sorgen, dass er nicht hinter Gitter muss, müssen das mit ihrem Gewissen vereinbaren. Auch er selbst – wenn er ein Gewissen hat. Das Entscheidende für mich ist: Er ist verurteilt worden und man hat uns Frauen in jedem einzelnen Fall geglaubt.

Wie wird man eine solche traumatische Erfahrung wieder los?
Collien Das wird man nicht mehr los. Ich meine das aber gar nicht negativ. Die Anzeige war meine Pflicht, aber ich habe mich aus freien Stücken für diesen Kampf entschieden. Dieser Kampf verschafft mir Erleichterung. Es wäre schön, wenn Frauen in Zukunft nicht das Gleiche durchmachen müssen wie wir.Schornsheim Ich habe auf meinem Schreibtisch in der Hochschule einen ganz einfachen Zettel liegen, den mir eine Kollegin im Vorbeigehen in die Hand gedrückt hat. Da steht nur ein Wort drauf: „Danke!“

Das Gespräch führte Thilo Komma-Pöllath.

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