Sonne, Mond und Sterne

VAMV-Vorstand Antje Beierling, Dorothy Thom und Pressesprecherin Ute Zimmermann freuen sich über den Erfolg des Projektes
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"Ich will arbeiten. Ich will meinen Töchtern zeigen, dass ich sie ernähren kann“, sagt Dorothy Thom. 2004 kamen sie und ihr Mann aus Kenia nach Deutschland, die Ehe ging nach der Geburt des zweiten Kindes auseinander. Seither ist die 35-Jährige für ihre Familie allein verantwortlich. Einen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester fand sie schnell. Was ihr jedoch fehlte, waren zwei Stunden. Zwei Stunden, in denen jemand auf ihre Kinder aufpasst. Morgens, wenn sie sich zur Frühschicht um 6 Uhr auf den Weg ins Krankenhaus macht, Schule und Kindergarten aber erst um 8 Uhr starten. Oder abends, wenn sie Spätschicht hat. Dorothy: „Ich habe oft versucht, die wenigen Stunden mit Freunden zu überbrücken. Das klappt aber nicht auf Dauer. Immer musste ich im Krankenhaus anrufen, versuchen, Dienste zu tauschen, mich krankmelden. Das macht kein Arbeitgeber auf Dauer mit.“

In der Tat. Schichtdienste, Wechseldienste und Arbeit am Wochenende sind besonders für Alleinerziehende der Jobkiller schlechthin. Für Mütter ist es schon schwer genug, reguläre Arbeitszeiten einzuhalten. Ein Job im Pflegesektor oder im Einzelhandel ist nahezu unmöglich. Auch Überstunden sind nicht praktikabel. Es gibt rund 1,6 Millionen Alleinerziehende in Deutschland, davon sind 1,4 Millionen Mütter (und 182.000 alleinerziehende Väter). Mehr als jede dritte alleinerziehende Mutter lebt von Hartz IV, weil viele Tätigkeiten für sie nicht machbar sind.

So war es auch bei Dorothy. Doch das ist jetzt anders. Dank des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) in Essen und sein Projekt „Sonne, Mond und Sterne“. Diese freundlichen Gestirne stehen früh morgens, spät abends, ja sogar in der Nacht zur Verfügung, immer dann, wenn Hilfe gebraucht wird, aber keine Kita normal geöffnet hat. Seit 2015 schließt das Projekt „ergänzende Kinderbetreuung“ für Alleinerziehende die so fatalen Betreuungslücken. Die Idee ist einfach: RentnerInnen oder StudentInnen kommen als „Kinderfee“ beziehungsweise „Kobolde“ für elf Euro die Stunde in die Familie, wenn die Mütter zur Arbeit müssen. Sie wecken die Kinder, machen Frühstück, bringen sie zur Schule oder Kita. Sie holen sie von der Schule ab oder lassen mit ihnen den Tag ausklingen. Oft sind es nur wenige Stunden, die überbrückt werden müssen.

Dass jemand zu ihr nach Hause kommt und die Kinder vor Ort betreut, ist für Dorothy ein Geschenk des Himmels: „So kann ich mit einem guten Gefühl arbeiten gehen. Ich möchte meine Kinder nicht spätabends weggeben oder sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen.“ „Wir bieten ganz bewusst die Betreuung im Haushalt der Alleinerziehenden an, damit die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können. Das macht es den Kindern und auch den Müttern leichter“, sagt Antje Beierling, hauptamtlicher Vorstand des VAMV-Landesver­bandes in Essen. Die für das Projekt engagierten „Kinderfeen“ und „Kobolde“ werden vom VAMV überprüft. Sie sind geübt in der Kinderbetreuung, durchlaufen einen längeren Kennenlernprozess und werden passgenau in die Familien vermittelt.

Ein Erfolg auf ganzer Linie. Um die 60 alleinerziehenden Mütter fanden seither ins Berufsleben zurück. Die Stadt Essen bietet das Pilotprojekt deshalb seit Juni 2018 für 20 Einelternfamilien an.

Der VAMV NRW hat die Lücken in der Kinderbetreuung für arbeitende Alleinerziehende schon lange als Kernproblem im Blick. „In Deutschland feiern wir jedes Jahr aufs Neue den Job-Boom, beklagen den Fachkräftemangel. Wir vergessen aber, dass eine halbe Million Frauen daran nicht teilhaben kann, obwohl sie wollen. Die Frauen werden sehenden Auges in die Armut gedrängt“, weiß Antje Beierling. Immer wieder das gleiche Problem: Junge, alleinerziehende Mütter finden einen Job beziehungsweise einen Ausbildungsplatz und haben auch einen Kitaplatz. Dann scheitert alles an zwei Stunden am Morgen oder Abend, in denen niemand die Kinder betreuen kann.

20 Plätze sind im „Sonne, Mond und Sterne-­Projekt“ verfügbar, auf einen Platz kommen mindestens 17 Anwärterinnen. Sie alle sind Härte­fälle. „Wir sitzen manchmal da und wissen gar nicht, wie wir eine Auswahl treffen sollen. Niemand, der nicht alleinerziehend ist, ahnt, wie hart die Rahmenbedingungen sind, um berufs­tätig zu sein“, berichtet Antje Beierling.

Beraterinnen des Verbands helfen mit Rat und Tat, prüfen, ob der Arbeitgeber Kompromisse machen kann. „In Zeiten des Fachkräftemangels ist vieles verhandelbar. Das gesamte gesellschaftliche Denken muss sich ändern. Wenn wir in diesem Land mehr Kinder wollen, dann müssen wir alle etwas dafür tun!“

Für Dorothy ist das Projekt die Rettung. Sie bekam die Kinderbetreuung und die erste berufliche Chance ihres Lebens. Seit zwei Jahren macht sie ihre Ausbildung zur examinierten Gesundheits- und Krankenpflegerin und hat beste Aussichten auf eine Festanstellung. Als Mutter ist sie ein Vorbild. „Meine Große ist gut in der Schule, sie will einmal Medizin studieren.“

Die Gesamtkosten für das Angebot belaufen sich in Essen im Jahr auf rund 150.000 Euro. Für 20 Familien mit 27 Kindern muss eine Kommune also rund 5.500 Euro pro Kind/Jahr investieren. Und: Jeder Euro, der in die Entlastung der Mutter gesteckt wird, geht sechsfach an die Gesellschaft zurück. Denn: Von einem durchschnittlichen Bruttogehalt von 2.500 Euro gehen 780,16 Euro Steuern und Sozialabgaben ab. Pro Jahr entsteht dadurch eine Wertschöpfung von 9.361,92 Euro. Arbeitet eine Frau (nur) 26 Jahre, erwirtschaftet sie 243.410 Euro in Form von Steuern und Sozialabgaben. Der Return on Investment beträgt knapp 1 : 6.

„Das Modell ist da, jetzt müssen weitere Kommunen nur anspringen“, strahlt Beierling. Der VAMV NRW hat daher im vergangenen Jahr einen Brandbrief an alle Kommunen in NRW geschrieben, um die Lösung anzubieten. Die Jugendämter sind gefragt, Geld in die Hand nehmen, um das Projekt anzuschieben, auch in Kooperation mit ArbeitgeberInnen. Mit dem Berufsverband der Pflegekräfte hat es bereits Gespräche gegeben, auch die großen Kliniken bekunden Interesse. Der Kampf um die Fachkräfte hat längst begonnen. Und 5.500 Euro für die ergänzende Betreuung eines Kindes sind Peanuts für einen großen Arbeitgeber, der eine Fachkraft an sich binden will. Die Stadt Essen hat gezeigt, wie aus Hartz-IV-Empfängerinnen Fachkräfte werden können.

Dorothy Thom blickt optimistisch in die Zukunft. Die nächsten Monate sind abgesichert, die Kinderfee kommt. Für ihre Töchter Linda und Taylor ist aus Kinderfee „Frau Busch“ schnell „Regina“ geworden. Regina Busch hat früher selbst als Krankenschwester gearbeitet, kennt die Bürde eines starren Schichtplans nur zu gut. Ihr ist es ein Anliegen, eine junge Kollegin zu unterstützen. Für Dorothy ist sie die Türöffnerin in ein ­besseres Leben.

Im Netz:
www.vamv.de;
Projekt „Sonne, Mond & Sterne": www.vamv-nrw.de

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