Iris & Peter: Verliebte Feinde
Am 6. Dezember 1955 wurde in Zürich kurz nach zwei Uhr nachts auf offener Straße eine Frau verhaftet, die behauptete, aus Basel zu kommen und Anwältin zu sein. Da sie keinen Ausweis bei sich trug und sich weigerte, das Ziel ihres nächtlichen Ausflugs zu nennen, nahmen die Ordnungshüter sie mit aufs Revier. Dort wurde sie verhört, man durchsuchte ihre Handtasche und ließ sie erst wieder frei, nachdem ein Anruf bei der Stadtpolizei Basel ihre Angaben bestätigt hatte.
Im polizeilichen Rechtfertigungsbericht sollte es später heißen, die Frau habe sich durch Benehmen und Aufmachung verdächtig gemacht und man habe vermutet, sie könnte aus einer Heilanstalt entwichen sein. Die Frau, die sich da zu ungewohnter Stunde in grüner Cordhose, einem Ozelotmantel und ohne Hut durch Zürichs Straßen bewegt hatte, war die Frauenrechtlerin Iris von Roten, und der Vorfall ging als so genannte „Panthermantel-Affäre“ in die Annalen des schweizerischen Feminismus ein.
Für Iris von Roten selbst war er ein Schlüsselerlebnis. Sie war in jener Nacht unterwegs zu ihrer Analytikerin gewesen, die sie unter anderem wegen ihrer notorischen Schlaflosigkeit behandelte. In der willkürlichen Verhaftung sah sie nicht nur einen krassen Verstoß gegen die individuellen Freiheitsrechte, sondern auch eine eklatante Diskriminierung der Frau, der nicht erlaubt sein sollte, was jedem Mann problemlos zugestanden wurde.
Iris von Roten machte die Geschichte publik, weil sie hoffte, damit die längst fällige Debatte über die Rechte der Frauen in der Schweiz anzustoßen. Die Debatte blieb aus. Zwar wurde schweizweit über die „Panthermantel-Affäre“ berichtet, teils mit Sympathie, teils mit unverhohlenem Spott. Doch zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die Gleichstellung der Geschlechter war die Öffentlichkeit nicht bereit: die Männer nicht, weil sie um ihre Rechte fürchteten, und die Frauen nicht, weil sie die Provokation scheuten. Wie viele Feministinnen saß auch Iris von Roten zwischen den Stühlen, gefürchtet von den einen, angefeindet von den andern und im Stich gelassen von den vielen, deren Solidarität sie so dringend gebraucht hätte.
Das sollte sich auch drei Jahre später nicht ändern, als ihr feministisches Grundlagenwerk „Frauen im Laufgitter“ erschien. Auch diesmal war der Proteststurm enorm, die Kritik voller Hohn und persönlicher Beleidigung. Doch die von der Autorin angestrebte Bewusstseinsveränderung blieb einmal mehr aus. 1959 wurde die Einführung des Frauenstimmrechts vom männlichen Stimmvolk der Schweiz mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt. Noch fast 20 Jahre sollte es dauern, bis die Schweizer Frauen 1971 endlich in den Vollbesitz ihrer bürgerlichen Rechte gelangten. Und noch länger, bis die wahre Brisanz der „Frauen im Laufgitter“ erkannt wurde.
1991 erschien in einem kleinen Verlag eine kommentierte Neuauflage des Buches. In der Weltwoche startete die Journalistin Yvonne-Denise Köchli ihre später in Buchform publizierte Serie über die Autorin. Eine neue Generation von Feministinnen hatte das Heft in die Hand genommen, und es war an der Zeit, sich auf die Vorkämpferinnen zu besinnen: zum Beispiel auf Iris von Roten, die, zusammen mit ihrem Mann Peter, versucht hatte, ihre feministischen Ideen in die Realität eines partnerschaftlichen Lebensentwurfs umzusetzen.
Der Historiker Wilfried Meichtry hat dem oft mit Sartre und Beauvoir verglichenen Paar unter dem Titel „Verliebte Feinde“ nunmehr eine Doppelbiografie gewidmet, die erstaunliche Einblicke in die Geschichte einer spannungsgeladenen Beziehung gewährt. Dem Autor standen für seine Arbeit neben Tagebüchern, Zeitungsartikeln und anderen historischen Materialien vor allem jene rund 1.500 Briefe zur Verfügung, die sich die beiden jungen Leute in der fast zehn Jahre dauernden Zeit zwischen erster Begegnung und Eheschließung geschrieben hatten. Dadurch war es dem Autor möglich, nicht nur den Werdegang der Feministin Iris von Roten zu schildern, sondern auch aufzuzeigen, wie sich der Mann an ihrer Seite vom hartgesottenen Konservativen zum überzeugten Feministen mauserte.
Als die Zürcherin Iris Meyer und der Walliser Peter von Roten sich an der Universität Bern zum ersten Mal über den Weg liefen, deutete nichts darauf hin, dass sie für einander bestimmt sein könnten. Sie studierten zwar beide Jura, doch sonst waren sie so verschieden, wie man nur verschieden sein kann: sie eine moderne, auf Freiheit und Selbstbestimmung bedachte Frau aus bürgerlich-säkularem Haus; er der Spross einer erzkatholischen Walliser Patrizierfamilie; sie kühn und idealistisch, gescheit, eloquent und bisweilen hochfahrend; er lässig, charmant und ohne erkennbaren Ehrgeiz, aber offenbar doch mit jenem Schuss Abenteuerlust im Blut, der ihn das Risiko einer Beziehung über alle sozialen und religiösen Schranken hinweg eingehen ließ.
In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wogen solche Unterschiede schwerer als heute und am schwersten dort, wo, wie in Peters Familie, politische Traditionen und soziale Privilegien das Leben bestimmten. Entsprechend groß waren die Hindernisse, die einer Verbindung zwischen Iris Meyer und Peter von Roten im Wege standen.
Sicher, am Anfang war da der berühmte Blitz aus heiterem Himmel, die Liebe auf den ersten Blick. Doch schon beim ersten Annäherungsversuch handelte Peter sich eine Ohrfeige ein. Es kam zur Trennung, dann zu einer von Iris herbeigeführten Wiederbegegnung. Man schrieb sich oft, stritt sich viel und sah sich selten – und wusste doch nach jedem Streit und jeder Versöhnung besser, dass man vielleicht nicht miteinander, aber sicher auch nicht ohne einander leben konnte.
Schaut man sich Fotos aus jener Zeit an, so denkt man: Die beiden gaben ein so schönes Paar ab, dass sie nur schon aus ästhetischen Gründen zusammenbleiben mussten. Der „Schauder der Schönheit“, wie Peter sich einmal ausdrückte, spielte bei der Entstehung dieses „amour fou“ zweifellos keine geringe Rolle. Aber natürlich war da mehr: tiefe Gefühle, eine starke körperliche Anziehung – und eine Art Seelenverwandtschaft, die sich allen äußeren Widerständen gegenüber zu behaupten vermochte.
Als Iris und Peter schließlich 1946 – heimlich und weit weg von zuhause – vor den Traualtar traten, hatten sie eine Reihe von Konventionen verletzt und Kompromisse gemacht, die beiden schwer fielen. Iris war nicht zum Katholizismus übergetreten, und Peter hatte nicht auf den Wohnsitz im Wallis verzichtet. Er hatte sich gegen Mutter und Geistlichkeit durchgesetzt. Sie hatte etwas von ihrer Ungebundenheit aufgegeben. Gleichzeitig aber machte sie klar, wie sie sich eine moderne Ehe vorstellte. Sie verlangte Befreiung von jeglicher Hausarbeit und allfälliger Kinderbetreuung. Sie pochte auf berufliche Entfaltung und ökonomische Unabhängigkeit. Und sie beanspruchte sexuelle Freizügigkeit – für sich und selbstverständlich auch für ihren Mann.
Dass dieses Projekt scheitern konnte, wusste sie, dass sie es versuchen musste, ebenfalls.
Schon in der ersten Zeit im Wallis fing Iris von Roten an, sich neben ihrer juristischen Tätigkeit intensiv mit feministischer Literatur zu beschäftigen. In England und den USA setzte sie ihre Studien fort und versuchte gleichzeitig, ihre Theorie von der offenen Beziehung in die Praxis umzusetzen. Erstaunlich ist, dass es ihr weit weniger gut gelang als ihm. Während sie sich in Übersee krampfhaft nach einem geeigneten Objekt der Begierde umschaute, befreite er sich elegant aus dem Korsett seiner katholischen Erziehung und genoss die Wirkung, die seine nonchalante Erscheinung auf Frauen ausübte.
Die Schwierigkeit, konkret zu leben, was in der Theorie logisch und notwendig erschien, wurde für Iris von Roten zum zentralen Thema ihres Lebens. Es verließ sie nicht, nachdem sie das Wallis verlassen hatte und mit ihrem Mann ins liberalere Basel gezogen war. Und es sorgte schließlich für den Furor, der sie befähigte, ein Buch wie „Frauen im Laufgitter“ zu schreiben.
Dieses fast 600 Seiten umfassende und ohne jegliche Unterstützung von außen entstandene Werk war eine einzige Kampfansage an die Verhältnisse, mit denen Frauen wie Iris von Roten damals wie heute zu kämpfen haben. Es war ein politisches Manifest, das den Männern die Definitionsmacht über gelebte Weiblichkeit absprach, die berufliche, ökonomische und sexuelle Eigenständigkeit der Frau einforderte und die Ehe als das denunzierte, was sie für die meisten Frauen war und für viele bis heute ist: ein Verlustgeschäft und eine Falle, in die Frau tappt, wenn sie ihre Bedürfnisse nach Liebe und Sicherheit zu stillen versucht.
Ob Iris von Roten damals schon ahnte, wie weit entfernt die Frauen von der Erfüllung dieser Postulate noch waren? Sicher ist, dass sie mit den Jahren resignierte und sich zunehmend auf sich selbst zurückzog. Die Enttäuschung darüber, dass das Leben nicht hielt, was die Ideen versprachen, ist ihren späten Porträts anzusehen. Ihren Drang nach Selbstbehauptung jedoch hat sie sich bis zuletzt bewahrt. Als Iris von Roten unter zunehmenden Altersbeschwerden zu leiden begann, setzte sie, radikal, wie sie nun einmal war, ihrem Leben ein Ende. Peter von Roten starb ein Jahr danach an den Spätfolgen eines Autounfalls. Die letzten Briefe, die von ihm erhalten sind, sind Zeugnisse einer zarten Liebe, die ihn mit einer Freundin aus besseren Tagen verband.
Iris und Peter von Roten lebten in verschiedenen Welten, als sie sich kennen lernten. Ihre Ehe glich einem Kulturkampf, wie ihn die bürgerlichen Gesellschaften im 19. Jahrhundert ausfochten. Mit den Jahren aber wuchsen sie immer mehr zusammen – nicht nur durch die Liebe, die sie verband, sondern auch durch die gesellschaftspolitischen Ziele, die sie gemeinsam verfolgten, allem voran die Einführung des Frauenstimmrechts.
Wer dabei was vom andern lernte, ist von außen nur mehr schwer auszumachen. Iris war sicher der konsequentere Charakter von beiden. Er aber hatte einen weiteren Weg zurücklegen müssen, um mit ihr leben zu können. Im Wallis gibt es bis heute Leute, die der Frau die Schuld an seinen politischen Extravaganzen geben. So ganz Unrecht haben sie damit nicht. Sie übersehen allerdings, dass er ein Widerspruchsgeist war von allem Anfang an. Seine Abneigung gegen die Armee und sein lebenslanger Kampf für die Wiedereinführung der lateinischen Messe hatten nichts mir Iris zu tun.
Sein Einsatz für die Rechte der Frau verdankte sich nicht nur der Solidarität mit seiner Frau, sondern auch seinem eigenen Rechtsempfinden. Und die Methoden, mit denen er focht, waren so subversiv, wie die ihren gradlinig waren. Peter und Iris von Roten waren nicht nur verschieden nach Charakter und Herkunft. Sie waren auch in sich widersprüchliche Persönlichkeiten. Vielleicht war es das, was sie einander nahe brachte.
Clara Obermüller für EMMA September/Oktober 2007. Die Autorin ist Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz.
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Wilfried Meichtry: Verliebte Feinde. Iris und Peter von Roten. Biographie eines Paares (Ammann).
Bücher von Iris von Roten: Frauen im Laufgitter (1958), Vom Bosporus zum Euphrat (1965).
In EMMA zum Thema
4/1992