So klappt's mit Mädchen und Mathe!

Selbstverständlich kann sie Mathe!
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Die Diplompädagogin Susanne Wunderer bietet Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen an, sie ist also viel in Kindertagesstätten unterwegs und hat ­dadurch mehr Kleiderhaken und Bauecken gesehen als wir mit unseren drei Kindern und den paar Besichtigungen an Infotagen. Ich fahre zu ihr nach Köln, wie ich sonst zum Arzt gehe. Eigentlich will ich mich ­beruhigen lassen: Alles nicht so schlimm, Frau Schnerring, ein bisschen mehr Gelassenheit, und alles wird wieder gut. Das hätte ich gerne gehört von ­Susanne Wunderer.

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Hat sie aber nicht gesagt, im Gegenteil, sie spricht von einer „Backlash-Bewegung“: „Das Problem ist, dass es in den 1970er-Jahren weniger zementiert war als heute. Damals waren die Mädchen weniger einheitlich in Rosa, Glitzer und Plüsch gekleidet, und es gab nicht diese so typischen Mädchenspiele und Jungenspiele, diese Aufteilung, wie sie heute existiert.“ Deshalb unterstützt Susanne Wunderer ErzieherInnen darin, den Blick für stereotype Zuschreibungen zu schärfen. Bei ihr lernen sie, die kleine Hannah, die durch den Kindergarten rennt, weil sie ein sehr bewegungsfreudiges Kind ist, nicht so oft zu ermahnen: Setz dich an den Tisch und spiel was Ruhiges! Wohingegen der kleine Tim, der ebenso herumrennt, nach draußen geschickt wird: Lauf draußen! 

Susanne Wunderer weiß aus ihrer ­Zusammenarbeit mit ErzieherInnen: Es ist noch nicht selbstverständlich, allen Kindern unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht möglichst viele Erfahrungsräume zu eröffnen. Sie erzählt, dass es nach wie vor Jungen gibt, die in ihrer Kindergartenzeit kein einziges Bild malen und nach drei Jahren mit einer leeren DIN-A3-Mappe ver­abschiedet werden, weil die Erzieherin davon ausgeht, Malen sei eben eine weibliche ­Beschäftigung. „Die Jungs dürfen so wild sein, wie sie wollen, und die Mädchen dürfen so ruhig sein und so gerne malen, wie sie wollen. Aber es ist wichtig, den Blick auf die Jungs zu haben, die nicht so wild sind – dass sie keine Stigmatisierung erfahren und kein negatives Feedback bekommen, wenn sie lieber malen und sich ruhiger verhalten, als es von Jungs vermutet wird.“

Susanne Wunderer kennt die Sorge von Eltern, ihr Kind könnte sich anders entwickeln, als es die Umgebung erwartet: „Wenn die Jungs sich zu mädchenhaft verhalten, kommt bei Eltern sofort die Angst auf, dass sie schwul sein könnten. Und man merkt sehr schnell auch die Angst der ErzieherInnen: Darf ich das ­unterstützen, mach ich was falsch?“

Oft haben Jungen gar nicht die Möglichkeit, sich frei auszuprobieren, weil ­Eltern rollenuntypisches Verhalten sofort unterbinden, nicht nur bei Röcken, sondern bei jeder Form von vermeintlichem Mädchenspiel: »Eine Mutter war partout dagegen, dass ihr Junge bei mir mit dem Puppenhaus spielt, obwohl er es liebte und mit nichts anderem spielte. Auf meine Frage: ‚Was kann denn passieren, wenn er jetzt oft mit dem Puppenhaus spielt?‘ wollte sie nicht antworten. Natürlich wusste ich, was sie befürchtet, aber ich habe sie ­gezwungen, es auszusprechen, und irgendwann meinte die Mutter: ‚Er landet irgendwann am Bahnhof.‘ Sie sagte also nicht: ‚Ich habe Angst, dass er schwul wird‘, sondern sie ging gleich noch einen Schritt weiter: Er wird schwul, er wird Stricher, und dann landet er am Bahnhof.“

Im Kindergarten kann schon ein anderes Raumkonzept helfen, Zuordnungen vom Stil „Mädchen kochen für ihre Puppen“ und „Jungen toben auf dem Außengelände“ aufzulösen. Seit einiger Zeit gibt es Kitas, die die Grundlagen einer geschlechtergerechten Pädagogik schon bei der Planung ins Konzept integrieren. So entstehen Kindertagesstätten, in denen es keine Puppen- oder Bauecke mehr geben wird, sondern die Raumnutzung flexibel bleibt. Kinder suchen sich ihr Spielmaterial selbst zusammen, wie sie es brauchen, sie finden es nicht in fest installierten, mit Namen versehenen Bereichen. 

Die Erzieherinnen der Kindertagesstätte „Sonnenblume“ in Burscheid-Hilgen haben eine der Fortbildungen von Susanne Wunderer besucht und das Thema mit ins Team gebracht. Andrea Höfer beschreibt die Veränderungen so: „Früher war die typische Puppenecke eingerichtet mit viel Mädchenfarbe, mit Verkleidungskisten mit Prinzessinnenkleidern, Puppengeschirr und Puppen. Das fanden die Jungen nicht interessant. Deshalb mussten wir umdenken, und wir haben festgestellt: Seit wir sie anders eingerichtet haben und anders nennen, werden die Räumlichkeiten und die verschiedenen Ecken tatsächlich von Jungen und Mädchen gleichermaßen genutzt.“

Ihre Kollegin Hannelore Dietz-Gith fasst zusammen: „Uns geht es darum, Dinge weniger zu bewerten, sondern zuzulassen, dass Mädchen und Jungen sich frei entwickeln können und sich das nehmen können, was ihnen gefällt. Wir wollen sie nicht zu früh festlegen auf stereotype Rollen. Das hat nichts mit Gleichmacherei zu tun, sondern mit Angebot und Vielfalt.“

Ina Hunger und Renate Zimmer von der Universität Göttingen haben in Kindertagesstätten untersucht, welche geschlechtsbezogenen Vorstellungen Mädchen und Jungen zwischen vier und sechs Jahren im Hinblick auf Körper und Bewegung ­bereits entwickelt haben. In ihrer Studie bestätigten sie, was bereits in anderen Untersuchungen, beispielsweise von Barbara Rendtorff, beobachtet worden war: „Dass Mädchen von ErzieherInnen im Kindergarten und Hort insgesamt viel weniger zu aktivem, raumgreifendem Spiel angeregt werden.“ Es genügt also nicht, dass alle Kinder theoretisch alles dürfen, es geht nicht mehr um Verbote, wie sie in den 1960er-Jahren ausgesprochen wurden, als Mädchen nicht erlaubt war, auf Bäume zu klettern. Es geht vielmehr darum, Kinder beiderlei Geschlechts zu ermutigen, damit sie untypisches, unerwartetes Verhalten nicht als Grenzüberschreitung erfahren.

Je älter sie werden, umso deutlicher lernen Mädchen durch entsprechende Rückmeldungen, dass sie ihre Bewegungsbedürfnisse unterdrücken sollen, im Gegensatz zu Jungen, die positivere Rückmeldungen dazu bekommen. Hunger erklärt: „Mädchen wissen zwar, dass sie kämpfen und wild sein dürfen; sie wissen aber auch, dass diese Bewegungsmuster eigentlich für Jungen und nicht für Mädchen typisch sind.“ Die Sportpädagogin zitiert dazu ein Mädchen, das im Rahmen der Studie befragt wurde und die Schwierigkeit auf den Punkt bringt: „Mädchen können ja auch eigentlich alles, was Jungen machen. Aber sie wollen das nicht zeigen, weil sie Mädchen sind!“

Gendersensible Erziehungsarbeit bedeutet, dass sich Eltern, Erzieher und Betreuerinnen, Trainerinnen und Lehrer ihrer ­eigenen Prägungen bewusst und auf nicht hinterfragte Rollenklischees aufmerksam werden. Nur so bekommt jedes Kind die Möglichkeit zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, nur so kann es seine individuellen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse erkennen. Einschränkenden geschlechtstypischen Ansichten können wir Erwachsenen aktiv entgegenwirken, indem wir Jungen und Mädchen ermutigen, sich auch in anderen, eher ungewohnten Gebieten auszuprobieren. Nur dann können sie eigenständige Entscheidungen treffen: Ich möchte Fußball spielen, ich möchte ein Schmetterlingsbild malen, ich möchte ein Kleid tragen, ich möchte meine Jacke unter den Gorilla hängen. Deshalb lohnt es sich, unseren Kindern mehr zuzumuten, als wir aus der Routine heraus wagen. 

ErzieherInnen aus Kitas mit einem gendersensiblen Konzept haben gelernt, individuelle Eigenschaften bei Kindern zu betonen, sie haben gelernt, Kindern neue Handlungsmöglichkeiten unabhängig vom Geschlecht anzubieten. Sie organisieren Projekttage und Aktionen mit den Kindern, in denen Mädchen und Jungen traditionelles Rollenverhalten kindgerecht reflektieren und infrage stellen können. Ob es darum geht, Berufe kennenzulernen, etwas über Babys und deren Pflege zu erfahren, neue Spiele für den Turnraum zu erfinden, Märchen umzudichten oder eine Bauchtanzvorführung einzustudieren – jedes Thema ist geeignet, bei allen können sowohl Mädchen als auch Jungen einbezogen werden. 

Mädchen können alles, was Jungen machen. Aber sie wollen das nicht zeigen, weil sie Mädchen sind.

Geschlechterbewusste Pädagogik bedeutet eine dauernde Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir uns das Zusammenleben der Geschlechter in Zukunft vorstellen und was wir unseren Kindern dafür mitgeben wollen. Ihren Anfang nimmt diese Entwicklung im Kindergarten, denn die Weichen für ein geschlechtsstereotypisches Verhalten werden im Kindergartenalter gestellt. Doch „die Frage, was wir mit den Kindern machen oder warum wir das mit welchem Ziel machen, die wird viel seltener gestellt als ‚Was kostet der Stuhl?‘ und ‚Warum kostet der so viel?‘“, erzählt eine Leiterin.

Wir können uns viel einfallen lassen, um die Beeinträchtigung unserer Kinder durch Rollenklischees abzumildern, aber letztlich zählt unser erwachsenes Vor- und Zusammenleben. Den gendersensiblen Blick auf unsere Kinder können wir nur bekommen, wenn wir selbst darauf vertrauen und daran glauben, dass wir und unsere Kinder nicht festgelegt und determiniert sind – und dass jenseits der Rollenklischees die eigentliche Freiheit wartet.

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Der Text ist ein gekürzter Auszug aus Almut Schnerring/Sascha Verlan: Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees (Kunstmann, 16.95 €). Beide bloggen außerdem unter ich-mach-mir-die-welt.de

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Die Rosa-Hellblau-Falle

The Pink Project. The Blue Project. Von der koreanischen Fotografin JeonMee Yoon.
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Dafür haben die PsychologInnen von der Universität in London unter anderem Studienergebnisse aus 85 Jahren analysiert. Anstatt sich mit Geschlechterbildern aus den 1930er Jahren zu befassen, hätten sie vielleicht einfach mal Almut Schnerring fragen sollen. Hier ihre ganz persönliche Analyse.

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"Ist das ’n Mädchen oder ’n Junge?“ „Das ist Mika.“ „Aber die hat ja Jungenschuhe an!“

An ihrem ersten Kindergartentag wurde unsere Tochter von zwei erfahrenen Vorschulmädchen begrüßt. Mit nur wenigen Sätzen führten sie uns ein in die Welt der Geschlechtertrennung. Mikas Schuhe waren weiß mit blauen Streifen.

Ähnliche Kommentare von Kindern, aber mehr noch von Erwachsenen fielen in den darauf folgenden Monaten, vor allem dann, wenn Mika Blautöne bevorzugte, wenn sie wieder mit kurz geschnittenen Haaren kam, wenn sie bei jedem Matschwetter die Berge rauf- und runterpflügte. Und mehr noch, als unser Sohn sich eines Morgens entschied, im Kleid der großen Schwester in den Kindergarten zu gehen. Das war vor zehn Jahren.

Ist das ein Mädchen oder ein Junge?

Doch was damals bloß einzelne, irritierende Erfahrungen waren, ist inzwischen zu einem Dauerthema geworden: Jungsschuhe und Mädchenfarben, Monsterfighter und Schminkpuppen, Piratenpartys und Prinzessinnengeburtstage, Jungenspielzeug, Mädcheninteressen. Wir mussten lernen, dass ein Mädchen, das keine Barbie besitzt und blaue Turnschuhe trägt, genauso wie ein kleiner Junge, der gerne zum Tanzunterricht geht, schon mal zur Außenseiterin, zum Sonderling wird, es sei denn, beide ignorieren selbstbewusst die Kommentare, Blicke und Zwischentöne. Denn die bleiben nicht aus, wenn ein Kind sich nicht an die Regeln der rosa-hellblauen Welt hält.

Zuerst war es das Hello-Lilly-Kitty-Pony-Glitzer-Angebot, das die Spielwarenabteilungen in zwei Welten trennte, dann kamen die Überraschungseier mit dem rosa Köpfchen und der Elfentrank „extra für Mädchen“ dazu. Auch wenn es um Grillwürstchen geht, wird heutzutage unterschieden: die Variante mit Zwiebeln trägt das Etikett „Männerbratwürste“, in „Frauenbratwürste“ sind dagegen Brokkoli- und Karottenstückchen, daher sind sie prompt teurer. Dafür gibt es extra „Frauensenf“ dazu, der ist wahrscheinlich süßer, weil Frauen ja nicht so auf scharf stehen, behauptet die Marktforschung. Und wehe, eine greift zu den Chips mit Chili! Die sind für den „Männerabend“ gedacht und so was machen Frauen ja nicht, sie wollen lieber milde Chips für den „Mädelsabend“, süß, oder? Soviel zum Frauen- und Männerbild derer, die sich Werbestrategien für neue Produkte ausdenken.

Und damit Mädchen und Jungen auch früh genug in ihrer jeweiligen Schublade landen, gibt es inzwischen schwarze Schnuller mit der Aufschrift „Bad Boy“ und rosafarbene für die „Drama Queen“. Ein praktisches Accessoire, mit dessen Hilfe Eltern direkt am Schnuller die Ursache fürs Weinen ablesen können: Sie ist eben zickig und macht ein Drama um nichts, er dagegen ist zornig und will seinen Willen durchsetzen.

In den 1970er Jahren waren die bunten Plastiksteine von Lego noch für alle da, heute trennt die Legowelt in ‚City‘ (viele namenlose Männchen mit abenteuerlichen Technikberufen) und ‚Friends‘ (fünf Freundinnen mit Minirock und einem ausgeprägten Interesse fürr Tiere und Accessoires).

Richtete sich die Krimireihe ‚Die drei Fragezeichen‘ früher an alle Kinder, gibt es jetzt die speziell für Mädchen eingeführte Buchreihe: ‚Die drei Ausrufezeichen‘. Drei stupsnasige und langbeinige Freundinnen im Manga-Look, die Aerobic-Stunden nehmen, sich über Pferde und Schminke unterhalten und sich für ältere Jungs interessieren, lösen rätselhafte Fälle: ‚Betrug beim Casting‘, ‚Achtung Promihochzeit‘, ‚Gefahr im Fitness-Studio‘ oder ‚Duell der Topmodels‘. Die Titel sollen signalisieren, wofür moderne Mädchen von heute sich angeblich interessieren, sagt der Kosmos-Verlag.

Die kommerziellen Hintergedanken der verantwortlichen Unternehmen und Werbemenschen sind offensichtlich: Wenn es gelingt, die Konsumenten und Konsumentinnen als zwei strikt unterschiedliche Gruppen zu etablieren, dann lässt sich der Umsatz vielleicht nicht verdoppeln, aber doch beträchtlich erhöhen. Bei Ferrero und Capri-Sonne, bei Lego und Kosmos hat das wunderbar geklappt, so dass jetzt immer mehr Firmen nachziehen.

MarktforscherInnen und WerberInnen nennen ihre Strategie ‚Gendermarketing‘ und sorgen dafür, dass kleine Brüder nicht mehr die Kleidung ihrer großen Schwestern übernehmen können; dass Mädchen scheinbar anderes Spielzeug brauchen als Jungen; andere Freizeitbeschäftigungen, sogar eine andere Ernährung. Dass wir Erwachsenen diesen Weg häufig unterstützen, unbewusst oder aus Gemütlichkeit und Erschöpfung, weil wir den Konflikt leid sind mit unseren Kindern, mit anderen Elternpaaren, den Großeltern, liegt vor allem auch an unseren finanziellen Möglichkeiten. Wir können es uns zumeist leisten, der Tochter ganz andere Schuhe, Bücher, CDs und Computerspiele zu kaufen als dem Sohn, niemand muss mehr teilen oder sein Spielzeug weiterreichen. Unternehmen setzen deshalb mit aller Macht auf die Geschlechterdifferenz, denn angesichts sinkender Geburtenraten scheint das die letzte Möglichkeit, in diesem Bereich noch Umsätze zu steigern.

Die Kommentare unter Artikeln oder Blogeinträgen, die sich kritisch mit den neuesten Auswüchsen des Gendermarketing auseinandersetzen, argumentieren mit dem „freien Willen“: „Wir leben doch in einer freien Welt“, heißt es da, oder: „Wer den Trend nicht mitmachen möchte, kann es ja sein lassen, es wird ja niemand gezwungen.“ Zur Freude der Verantwortlichen in den Unternehmen und Werbeagenturen. Kein Unternehmen, das wir dazu befragt haben, hält sich angeblich selbst für einflussreich genug, um Stereotype festzuschreiben oder Klischees gar zu erschaffen. Im Gegenteil, die Befürworter und StrategInnen des Gendermarketing betonen, sie wollten nichts weiter, als Mädchen und Jungen „bei ihren Grundbedürfnissen abholen“.

Jungen seien nun mal statusorientiert und Mädchen beziehungsorientiert, lautet die Erklärung des Konsumforschers Axel Dammler, auf dessen Untersuchungen sich beispielsweise Ferrero und Capri-Sonne berufen. Dammler: „Jungs und Männer sind deswegen quasi naturgegeben egoistischer, egozentrischer und weniger altruistisch als das weibliche Geschlecht.“ Das Bild vom harten Mann wird munter reproduziert, und das ist unheimlich praktisch, denn mit den angeblich „natürlichen Grundbedürfnissen“ lässt sich jede Art von Verhalten rechtfertigen.

Dabei haben zum Beispiel Kristi Klein und Sara Hodges von der University of Oregon gezeigt: Wenn es eine Belohnung gibt für empathisches Verhalten, wenn Geld für Einfühlungsvermögen in Aussicht gestellt wird, dann schneiden Männer in Empathietests genauso gut ab wie Frauen. Und Frauen schneiden dann besonders gut ab, wenn vor einem Test betont wurde, wie empathisch Frauen ja im Allgemeinen seien. Trotzdem wird das Klischee vom Mann, der keinen Draht zu seinen Gefühlen hat, weiter verbreitet und gleichzeitig werden kleine Jungs seltener getröstet als Mädchen, wenn sie weinen. Ein Indianer kennt nun mal keinen Schmerz. Dieser Spruch hat auch heute noch nicht ausgedient, er wird nur noch getoppt von: „Jetzt hör doch auf zu heulen, du bist doch kein Mädchen“.

Eltern sind für das Stichwort „Grundbedürfnis“ besonders empfänglich, klingt es doch so überlebenswichtig wie Schlafen und Essen. Kein Vater, keine Mutter will den Kindern ihre „Grundbedürfnisse“ verwehren. Zumal wir uns heute letztlich doch alle einig sind, dass unsere Söhne und Töchter die gleichen Möglichkeiten und Rechte bekommen sollten, unabhängig von ihrem Geschlecht. Wenn dann aber die Tochter in Rosa versinkt, der Sohn dem Nachbarskind mal wieder die Sandschaufel in den Kragen schüttet, dann liegt der Schluss nahe, dass die Biologie doch stärker sein muss, dass wir gegen die Natur eben nicht ankommen. Oder?

Nicht wenige Väter und Mütter sind überzeugt davon, ihre Kinder „neutral“ zu erziehen. Aber das stimmt in den seltensten Fällen. Mädchen und Jungen wachsen anders auf, werden anders behandelt, stoßen auf unterschiedliche Erwartungen der Erwachsenenwelt. Dass wir anders reagieren, wenn uns ein Baby als Junge oder als Mädchen vorgestellt wird, dass wir anders mit ihm oder ihr umgehen, seine oder ihre Handlungen und Reaktionen unterschiedlich bewerten, haben zahlreiche Studien eindrucksvoll belegt.

Tatsächlich beginnt es schon vor der Geburt: Wenn im Ultraschall zum ersten Mal das Geschlecht des ungeborenen Kindes sichtbar wird, verändert sich unbewusst unsere Erwartungshaltung, unsere Reaktion, unsere Stimmlage, mit der wir zum Ungeborenen sprechen. Frauen und Männer, Jungen und Mädchen werden heute wieder zunehmend auf Klischees reduziert. Wir alle werden tagtäglich mit lustigen, ironischen Sprüchen und gephotoshopten Bildern darauf hingewiesen, wie ein Mann, eine Frau, wie ein „richtiger“ Junge und ein „echtes“ Mädchen zu sein haben: was sie zu tragen, essen und zu lieben haben. Und damit sind nicht nur Werbebilder gemeint.

Im Fernsehprogramm ebenso wie im Kino überwiegen traditionelle Rollenbilder, Frauen sind sowohl in den Geschichten als auch hinter der Kamera in der Minderzahl. Zwei von drei aller Hauptfiguren in Film und Fernsehen sind männlich, nur ein Drittel sind weiblich. Die Medienforscherin Maya Götz stellt außerdem fest: „Die Mädchenund Frauen figuren verharren in althergebrachten Klischees vom zuarbeitenden Weibchen, dem konsumverhafteten Luxusgeschöpf oder der schönen Prinzessin, die auf ihre Errettung wartet.“

Natürlich gibt es auch Filme mit weiblichen Hauptrollen, doch die stecken meist in rosa gelabelten DVD-Hüllen und wurden extra für Mädchen produziert. Die Mädchen darin mögen zwar stark und unabhängig sein, doch auch sie sind vor allem makellos schön, langhaarig und besonders schlank. Im Gegenzug sorgt die Verbreitung verzerrter, unrealistischer Männerbilder dafür, dass Jungen ein Rollenverständnis vermittelt wird, das überwiegend von Kriterien wie Stärke, Durchhaltevermögen oder Unabhängigkeit bestimmt ist.

Nicht anders in Computerspielen: Je älter die Zielgruppe, umso deutlicher wird die Geschlechterhierarchie; Kampfszenen nehmen zu, und der Status der Frau sinkt. Über 40 Prozent der GamerInnen in Deutschland sind weiblich, doch Spiele mit weiblicher Hauptrolle sind selten, die männliche Heldenrolle ist der Maßstab der Szene.

„Ist doch schön, dass es Unterschiede gibt, das macht die Welt bunt. Hört auf mit der Gleichmacherei“, lautet ein verbreiteter Vorwurf. Er richtet sich wahllos gegen alle, die sich für eine geschlechtergerechte Erziehung einsetzen. Gleichmacherei ist aber genau das Gegenteil, nämlich: Wenn wir von DEN Jungen und DEN Mädchen als vermeintlich homogener Gruppen sprechen und ihnen naturgegebene Interessen und Neigungen zuschreiben. Individuelle Entscheidungen werden dadurch erschwert, zumal es sich keinesfalls um ein gleichwertiges Nebeneinander handelt. Es gibt keine Trennung in Zwei, ohne dass Wettbewerb und Hierarchie entstehen.

Schon Henry Tajfel belegte mit seinen Studien zur „minimalen Gruppe“ in den 1970er Jahren, dass sogar die Aufteilung einer Gruppe per Losentscheid oder Münzwurf zur Diskriminierung der jeweils anderen führt, die Gruppenmitglieder müssen sich nicht einmal kennen. Zahlreiche internationale Experimente bestätigen: Die eigenen Gruppenmitglieder werden sympathischer, ihre Arbeit besser bewertet, die anderen abgewertet.

Dass auch zwei unterschiedliche Farben schon für eine Hierarchiebildung ausreichen, belegte eine psychologische Studie der University of Texas: Vorschulkinder wurden in eine rote und eine blaue Gruppe aufgeteilt. Drei Wochen lang trugen die einen ein rotes, die anderen ein blaues Shirt. Blaue und Rote wurden gleichmäßig auf zwei Räume verteilt, sodass in beiden Räumen Kinder in roten und in blauen Shirts waren. Im einen Raum wurden die Farben nicht weiter erwähnt, in dem anderen dagegen sprachen die ErzieherInnen die beiden Gruppen immer wieder an: „Guten Morgen Blaue, guten Morgen Rote“. Die Kinder sollten sich morgens in zwei Reihen nach Rot und Blau aufstellen und so weiter, ihre Zugehörigkeit wurde immer wieder betont. Im Anschluss zeigte sich, dass alle Kinder lieber mit Kindern derselben Farbgruppe spielen wollten und auch Spielsachen lieber mochten, die die Kinder der eigenen Gruppe bevorzugten. Diese Vorlieben waren jedoch bei den Kindern besonders stark ausgeprägt, die immer wieder auf ihre Gruppenzugehörigkeit hingewiesen wurden. Kein Wunder also, dass Mädchen sich für Rosa entscheiden, wenn die Umwelt ihnen von Geburt an vermittelt: Rosa passt zu Mädchen, Blau ist die Farbe der anderen.

Mädchen und Jungen spüren von Anfang an, dass in der rosa-hellblauen Unterscheidung der Erwachsenenwelt immer auch eine Wertung steckt. Ein kleiner Junge, der sich fürs Ballett interessiert oder sich einen Schminkkopf zu Weihnachten wünscht, erfährt andere Reaktionen als ein Mädchen, das im Fußballverein Erfolg hat oder sich einen Chemiekasten wünscht. Warum also sollte sich ein Junge hinab begeben in die weibliche Sphäre von Empathie, Fürsorge und Haushaltsarbeit, warum sollte er von sich aus auf die Wertschätzung verzichten, auf all die Privilegien, die wir ihm so bereitwillig zugestehen? All die Kämpfe, die wir in der Erwachsenenwelt austragen, die Diskussionen um Alltagssexismus, um Diskriminierung und Prostitution, Pay Gap und Frauenquote, Gender Care Gap, all diese Auseinandersetzungen verlieren ihre Bedeutung, wenn es uns nicht gelingt, die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte an unsere Kinder weiter zu geben.

Vor ein paar Wochen habe ich mit meiner Tochter auf dem Kleiderflohmarkt ein Paar Turnschuhe entdeckt, sie waren nagelneu und ein Schnäppchen. Ich war erleichtert, beim Schuhkauf mal günstiger weggekommen zu sein, und Mika freute sich schon, die Schuhe gleich am nächsten Tag in der Schule tragen zu können. Doch innerhalb eines einzigen Vormittags verloren die Schuhe an Chic, und daran war ein kleines, aber entscheidendes Detail schuld: Sie sind blau. Das wusste Mika zwar vorher schon, schließlich ist das ihre erklärte Lieblingsfarbe, und trotzdem lernte sie noch vor Beginn der ersten Stunde von ihren Freundinnen: „Das sind doch Jungsschuhe!“

Mit knapp drei Jahren ließ sich meine Tochter noch von mir überzeugen, dass ihre blauen Turnschuhe genau die richtigen für sie sind, und weder ich noch sie hielten uns länger mit der Farbfrage auf. Doch inzwischen ist Mika zwölf und macht sich zwar einerseits über die Kommentare der Freundinnen lustig, andererseits stehen die Schuhe seither im Regal. Angeblich reiben sie an der Ferse.

Almut Schnerring - Aktualisierte Fassung vom 8.12.2017

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