Als Richterin Maddalena Fouladfar ihr Urteil verkündete, drangen von draußen laute Buhrufe in den Gerichtssaal. In Sekundenschnelle war die Nachricht bis zu den rund hundert Menschen gedrungen, die nicht mehr in den zum Bersten vollen Saal gepasst und während der Verhandlung draußen weiter protestiert hatten. Immer wieder waren ihre Sprechchöre durch das Fenster zu hören gewesen: „Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!“ Dass diese Entscheidungsfreiheit in größter Gefahr ist – diese Lektion wurde heute nicht nur der Ärztin Kristina Hänel erteilt, sondern allen FrauenärztInnen – und allen deutschen Frauen.
Bisher waren Anklagen dieser Art immer fallengelassen worden
Im Gerichtssaal selbst herrschte bedrücktes Schweigen, nachdem die Richterin erklärt hatte, dass sie dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen werde: Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wird zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 150 Euro, also insgesamt 6.000 Euro, verurteilt. Denn: Sie habe sich „schuldig gemacht, Werbung für den Abbruch von Schwangerschaften betrieben zu haben“.
Hat die Fachärztin für Allgemeinmedizin Litfasssäulen plakatiert oder TV-Spots mit „Abtreibungs-Werbung“ geschaltet? Aber nein. Ihr „Vergehen“ besteht darin, dass, so die Richterin, „Sie auf Ihrer Website über die verschiedenen Formen des Schwangerschaftsabbruchs informiert haben und angegeben haben, dass Sie selbst diese durchführen“. Das ist in Deutschland strafbar? Ja. Und seit heute wissen ÄrztInnen, die Abtreibungen vornehmen, dass sie dafür auch verurteilt werden können.
Laut §219a macht sich strafbar, wer „seines Vermögensvorteils wegen (...) Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (...) anbietet, ankündigt oder anpreist“. Vermögensvorteil. Meint: nicht umsonst. Es ist nicht das erste Mal, dass fanatische Abtreibungsgegner ÄrztInnen wg. §219a angezeigt hatten. Bisher hatten die Staatsanwaltschaften die Verfahren allerdings stets eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Gießen ist die erste, die Anklage erhoben hat. Offenbar wollte sie an Kristina Hänel ein Exempel statuieren.
Das gesellschaftliche Klima scheint – und nicht erst seit dem Einzug der AfD in den Bundestag - reif dafür. „Es gibt immer mehr Krankenhäuser, die Frauen Abbrüche verweigern. Und immer weniger Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Wenn man das tut, gerät man in eine Schmuddelecke“, hatte Kristina Hänel im EMMA-Interview erklärt. Ihre Petition auf change.org für die Abschaffung des Knebel-Gesetzes hat inzwischen 118.000 UnterzeichnerInnen.
Und so wurde also heute in Deutschland seit dem deutsch-deutschen „Abtreibungskompromiss“ von 1995 die erste Ärztin dafür verurteilt, dass sie nichts Anderes getan hat als Frauen darüber zu informieren, worin sich ein medikamentöser Abbruch von einem chirurgischen unterscheidet – und wer dafür die Kosten übernimmt.
Sowohl Richterin Fouladfar als auch Staatsanwalt Schneider ließen keinen Zweifel daran, worum es im Kern der Sache geht. „Der Gesetzgeber hat klar und unmissverständlich deutlich gemacht, dass er nicht will, dass über Schwangerschaftsabbrüche diskutiert wird, als wäre das eine ganz normale Sache“, erklärte die Richterin. Sie befürwortete, dass Frauen sich nicht eigenständig für eine Ärztin ihrer Wahl entscheiden dürfe. Die Weitergabe der Adressen von ÄrztInnen, die den Abbruch vornehmen, solle vielmehr über die staatlichen Beratungsstellen erfolgen.
Dabei offenbarte die Richterin in ihrer Urteilbegründung eine beklemmende Unkenntnis der bestehenden Rechtslage, die tief blicken lässt. So erklärte sie: Die Absicht des Gesetzgebers beim „Werbeverbot“ sei, dass „die Frau eben nicht sagen könne: Ich gehe jetzt zu der und der Ärztin und lasse das machen.“ Dass das gar nicht möglich ist, weil der Gesetzgeber vor diesen Gang eine Pflichtberatung gestellt hat, ist Richterin Fouladfar offenbar entgangen. „Wenn die Beratungsstellen meinen, dass im konkreten Fall der Schwangerschaftsabbruch durchzuführen ist, dann geben sie der Frau die Adressen“, fuhr die Juristin fort. Sie hat offenbar gar nicht begriffen – oder nicht begreifen wollen -, dass Beratungsstellen beraten sollen. Mehr nicht. Die Entscheidung über den Abbruch dürfen sogar im restriktiven Deutschland noch immer die ungewollt schwangeren Frauen treffen. Die Beratungsstellen sind sogar verpflichtet, „ergebnisoffen“ zu beraten.
Immer mehr Krankenhäuser verweigern die Abbrüche
Dass die Richterin ihr Urteil auf Basis solcher Fehlannahmen gefällt hat, ist skandalös. Genauso skandalös wie das Plädoyer des jungen Staatsanwalts Schneider, wenn auch nicht rechtswidrig. „Schwangerschaftsabbrüche sind laut Gesetz verboten“, erklärte er. „Erst im zweiten Absatz folgen die Ausnahmen von diesem Verbot.“ Stimmt. Auf der Basis des absurden und entmündigenden „Kompromisses“ von 1995 basiert die Anklage: Schwangerschaftsabbrüche sind seither „rechtswidrig“, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei. Wäre das anders, „könnten Abtreibungen ja jederzeit durchgeführt werden“. Gott bewahre!
Die Tatsache, dass Kristina Hänel in ganz Gießen die einzige(!) Ärztin ist, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt, wertete der Staatsanwalt keineswegs als Ausdruck des zunehmend restriktiven gesellschaftlichen Klimas. Vielmehr entstehe der Ärztin, wenn ihr die „offensive Werbung“ auch noch gestattet sei, ein „nicht unerheblicher Wettbewerbsvorteil“. Über einen solchen Zynismus konnten die rund 80 ZuschauerInnen im Gerichtssaal nur laut aufstöhnen.
Unter solchen Bedingungen hatte die Forderung von Verteidigerin Prof. Monika Frommel keine Chance: Die emeritierte Rechtsprofessorin hatte entweder einen Freispruch verlangt – oder, dass das Gericht den §219a dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Frommel geht davon aus, dass das Gesetz verfassungswidrig ist. „Die Frau hat seit 1995 die Entscheidungsfreiheit“, erklärte sie. „Und Entscheidungsfreiheit bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte rechtmäßig handeln, wenn sie Abbrüche vornehmen.“ Folglich verstoße der §219a, der im übrigen von den Nationalsozialisten eingeführt worden sei, gegen die Informationsfreiheit der Frauen und gegen die Berufsfreiheit der ÄrztInnen. „Durch fehlende Informationen“, sagte Frommel, „ist noch kein einziges Leben geschützt worden“.
Durch fehlende Informationen ist noch kein Leben geschützt worden.
Entsprechend harsch fiel ihr Urteil über das skandalöse Urteil aus. „Ein solches Denken erwarte ich in der Türkei, im Iran oder in Saudi-Arabien“, erklärte sie dem ReporterInnen-Pulk, der vor dem Gerichtssaal die Mikrofone auf die Anwältin richtete. Ein „Abgrund rechtlicher Unkenntnis“ habe sich hier offenbart. Selbstverständlich werde man in Revision gehen.
Schon vor dem Prozess hatte Kristina Hänel erklärt, dass sie zur Not durch alle Instanzen klagen werde. Und die Gießener Ärztin, Mutter von zwei Kindern und Großmutter von fünf Enkelkindern, ist nicht mehr die einzige, die sich wehrt. 70 Kolleginnen und Kollegen hatten sich schon vor dem Prozess via Appell mit Kristina Hänel solidarisiert. Mindestens zwei von ihnen werden demnächst ebenfalls vor einem deutschen Gericht stehen: Die Kasseler Gynäkologin Nora Szász und ihre Kollegin Natscha Nicklaus gehören ebenfalls zu den ÄrztInnen, die von dem fanatischen Abtreibungsgegner Günter Annen und seiner Initiative „Nie wieder!“ angezeigt wurden. Auch sie haben sich, wie Kristina Hänel, geweigert, die Information, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, von ihrer Website zu löschen. Auch ihnen steht ein Prozess bevor.
Aber die Frauenärztin Szász will sich vom Gießener Urteil nicht entmutigen lassen. Sie will kämpfen. „Es geht nicht, dass es für Frauen immer schwieriger wird, sich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren“ sagt die Ärztin. „Das führt nicht dazu, dass es weniger Abtreibungen gibt, sondern dazu, dass ungewollt schwangere Frauen immer später zu uns kommen.“
Vielleicht kommt die Politik der Justiz ja zuvor: Aufgerüttelt durch den Fall Hänel hat Die Linke gerade einen Gesetzentwurf vorgelegt, den § 219a zu streichen. Womöglich könnten die Parteien im Bundestag das momentane Machtvakuum nutzen und das entmündigende Gesetz kurzerhand abschaffen. Eine Mehrheit dafür gäbe es, denn bis auf Union und AfD sind alle dafür.
Was aus dem §219a wird, wird sich also nicht in Gießen, sondern in Berlin oder Karlsruhe entscheiden. Eins ist aber nicht erst seit dem heutigen Urteil klar: In Deutschland ist das Recht auf Abtreibung keineswegs gesichert. Der Backlash ist in vollem Gange.
Chantal Louis