Die netten Jungs von nebenan

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Es dauerte Stunden. Die Bilder, die im Netz zirkulieren, zeigen ein bewusstloses Mädchen, das wie Schlachtvieh zwischen zwei lachenden jungen Männern hängt: Trent Mays und Ma´lik Richmond. Beide sind nun dafür verurteilt worden, dass sie das bewusstlose Mädchen von einer Party zur nächsten karrten und sie mehrfach vergewaltigten. Und all das auch noch filmten und ins Netz stellten. Ein Video zeigt einen ihrer Freunde, der sich besoffen darüber freut, "wie tot“ das Mädchen aussehe, das da herumgereicht wird. "Die ist toter als OJs Frau!", kichert er, während seine Kumpel ihn filmen. (Der Ex-Footballstar und Schauspieler O. J. Simpson hat vermutlich seine Frau Nicole Brown und deren Freund ermordet. Im Strafprozess war er frei gesprochen, im Zivilprozess zu 33,5 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt worden. Anm. der Red.)

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Es waren sadistische junge Männer wie diese, mit denen die Massenmedien kurz nach der Verurteilung sympathisierten. Dabei stand von Anfang an außer Frage, dass Mays und Richmonds schuldig sind. Es gab ja genügend Videos, Fotos und Kurznachrichten, die ihre Tat bewiesen. Stattdessen argumentierte die Verteidigung, dass die Jungen – allesamt beliebte Sportler aus einer Stadt, in der Football das Wichtigste überhaupt ist – ja nichts Falsches taten, als sie ihr hilfloses Opfer angriffen. Sie seien tragische Helden, die einfach nur ein wenig Spaß hatten, so, wie junge Männer eben sind. Das bewiesen doch die Bilder! Sehen doch alle ganz glücklich aus.

Solche Vergewaltigungsfälle, die im Rampenlicht verhandelt werden, gab es in amerikanischen Football-Hochburgen schon viele. Erinnern Sie sich zum Beispiel noch an die Cheerleaderin, die dazu gezwungen wurde, ihrem Vergewaltiger weiter zuzujubeln?

Beim Fall Steubenville geht es allerdings um mehr. Und es sind die Bilder, die den Unterschied ausmachen. Die Filmchen rufen das Grauen der Folterbilder aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis in Erinnerung, die vor fast einem Jahrzehnt veröffentlicht wurden. Bilder, auf denen amerikanische Soldaten grinsend neben den misshandelten Körpern der Gefängnisinsassen posieren.

Steubenville ist das Abu Ghraib der Rape Culture.

Der Moment, in dem Amerika und die ganze Welt gegen den eigenen Willen dazu gezwungen werden, sich mit dem realen menschlichen Schrecken der Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen auseinanderzusetzen. Wie sie jeden Tag tausendfach in unserer Gesellschaft stattfinden.

Diese Bilder von Steubenville zeigen nicht nur ein Mädchen, das gerade vergewaltigt wird. Sie zeigen, wie eine Vergewaltigung geduldet, gefördert und gefeiert wird. Welche Art von Kultur ist überhaupt dazu in der Lage, solche Bilder zu produzieren? Nur eine, in der die Autonomie von Frauen und ihr Recht auf Sicherheit so wenig zählen, dass die Vergewaltiger (und auch die, die die Kamera halten) sich selbst vollkommen im Recht fühlen. Eine Kultur, in der Vergewaltigung und sexuelle Erniedrigung so normal ist, dass die Täter ihre Tat gar nicht als ein Verbrechen begreifen. In der Opfer machtlos sind und zum Schweigen gebracht werden. Deshalb löst der Fall ein solches Unbehagen aus. Und deshalb ist er so wichtig.

Die Abu-Ghraib-Folterbilder sind Trophäen. Die Steubenville-Vergewaltigungsfotos sind ebenfalls Trophäen. Andenken an einen Moment, in dem alle Spaß hatten: an eine Nacht, die leicht aus dem Ruder gelaufen ist; an die man sich erinnern möchte; die man später mit anderen, die nicht dabei waren, teilen will. Die Steubenville-Vergewaltiger hatten Spaß, und diesen Spaß haben sie in die ganze Welt getragen. Sie waren sich so sicher, dass niemand ihnen etwas anhaben könnte, so verblüfft über die drohende Strafe, dass sie vor Gericht heulten wie die Kinder.

Das Mädchen aus Ohio, das die Vergewaltigung angezeigt hat, erhält jetzt Morddrohungen. Sie ist nicht die einzige junge Frau, deren Vergewaltigung gefilmt wurde. In den vergangenen fünf Jahren haben sich Fälle von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, an denen nicht nur mehrere Täter, sondern auch Zuschauer beteiligt waren, die alles mit ihren Smartphones filmten, vervielfacht. Was gibt diesen Männern die Sicherheit, dass sie eine Frau einfach festhalten und ihre Finger oder Schwänze in sie reinstecken und die Fotos davon auch noch verbreiten können? Die kulturelle Akzeptanz von Vergewaltigung!

Die Vergewaltiger aus Steubenville behaupten, sie seien sich keiner Schuld bewusst gewesen. Das klingt plausibel. Solange man davon ausgeht, dass Frauen keine menschlichen Wesen, sondern williges Fleisch sind, das jeder nach Belieben benutzen kann.

Es gibt ein Wort für das, was passiert, wenn eine Gruppe Menschen bestimmte Personen als weniger wert erachtet und auf dem Recht besteht, diesen Personen zum Spaß Schmerz zuzufügen. Ein ganz alltägliches Wort: Das Wort lautet "böse". Und wir reden hier von einer Form von Bösartigkeit, bei der man selbstverständlich davon ausgeht, dass Männer arbeiten, Sport machen und Einfluss auf die Welt haben, während Frauen dazu da sind, gefickt zu werden. Amerika ist in diesem Glauben erzogen worden.

Dieses Böse fault schon so lange in den gebrochenen Herzen der westlichen Kultur vor sich hin, dass es gar nicht mehr als abnormal wahrgenommen wird. Und sollte sich doch jemand trauen, es zu hinterfragen, kocht die Wut hoch: Wie kann es jemand wagen, auch nur daran zu zweifeln, dass die glänzende Zukunft junger Männer mehr zählt als das Recht einer Frau auf Unversehrtheit?

Es ist möglich, ein krankes Mitleid für diese jungen Männer zu empfinden, über deren Tränen im Gerichtssaal die Hauptnachrichten in melodramatischer Länge berichteten. Es ist möglich, Mitleid mit Gewalttätern zu haben, die andere Menschen verletzen und besudeln, einfach nur weil sie wissen, dass niemand sie aufhalten kann. Junge Menschen können in Kriegszeiten abdriften, ich schließe den Geschlechterkrieg hier mit ein. Vor allem, wenn sie im Gewinnerteam sind - und diese Jungs waren es gewohnt zu gewinnen. Junge Menschen driften ab. Aber nicht immer. Und dieses „nicht immer“ sorgt dafür, dass einem Mitleid wie bittere Galle im Hals stecken bleibt.

Wenn Gräueltaten zur Norm wurden, hat es dennoch immer auch solche gegeben, die nicht mitgelaufen sind. In jedem Todes-Lager, Gulag oder an Apartheids-Schauplätzen. Der Soldat, der den Befehl zu töten ignoriert. Der Gefängnisaufseher, der weggeht. Familien, die ihre Sicherheit riskieren, um Flüchtlinge  zu schützen. Männer und Jungen, die Zeugen einer Vergewaltigung werden und den Mut haben, Stopp zu sagen.

Wir hegen nur deshalb Sympathie für diejenigen, denen es an diesem Mut fehlt, weil wir uns sorgen (und das gilt auch für die Aufrechtesten unter uns), dass es Umstände geben könnte, unter denen wir selbst über das Böse hinwegsehen.

Mit dieser Frage sind in Amerika gerade jeder Mann und auch so einige Frauen konfrontiert. Jetzt wo uns das ungeheure Ausmaß der Vergewaltigungskultur zu dämmern beginnt. Das, was gerade stattfindet, ist so monströs, dass es uns viel abverlangt, um die eigentliche Größenordnung zu begreifen. Die Frage ist, ob wir den Mut haben, uns diesmal damit auseinanderzusetzen.

Diejenigen, die das Opfer von Steubenville attackiert und ihre Vergewaltiger verteidigt haben, sind Feiglinge. Sie sind Feiglinge, die Angst vor den Konsequenzen haben, die eintreten, wenn diese systematische Ungerechtigkeit erkannt wird.

Diese Form der Feigheit wird gerade als Waffe gegen Frauen gerichtet. Um uns zu beschämen und zum Schweigen zu bringen, damit wir uns nicht organisieren und über die Vergewaltigungskultur sprechen, womit wir ja gerade erst begonnen haben. Viele von uns fragen sich, ob sie mutig genug wären, im Angesicht des Bösen aufzustehen: Ob wir weiter schweigen oder ob wir uns in Rage zusammenschließen. Jetzt ist der Moment gekommen!

Jede und jeder kann über Steubenville sprechen. Die Frage ist: Wer mischt sich ein, wenn die nächste attackiert wird? Ohne dafür Dank oder Beifall zu erwarten? Mit dem Risiko, verspottet oder ausgegrenzt zu werden? Wer wird seine Stimme zu all den anderen Steubenvilles erheben, die immer noch stattfinden? Und wer wird nicht aufgeben, bis genug Menschen "Stopp" sagen?

Die Autorin ist Kolumnistin beim New Statesman. Der Text ist ein Auszug aus „Steubenville: this is rape culture's Abu Ghraib moment“.
 

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