Frankreich gegen Freier
Nüchtern, fast spartanisch wirkt das weißgetünchte Büro von CAP, der internationalen Nichtregierungsorganisation „Coalition Abolition Prostitution“, die im vierten Stock eines frisch renovierten Altbaus mitten in Paris residiert. Direkt neben der Rue Saint Denis. Dort standen bis zur Jahrtausendwende in jedem Hauseingang leicht bekleidete Frauen, die Rue Saint Denis war das traditionsreiche Strichviertel. Davon allerdings hat CAP-Chefin Héma Sibi nichts mitbekommen – sie ist erst 25 Jahre alt. Die Eltern der zierlichen Aktivistin sind aus Indien zugewandert. Héma zählt zur jungen Garde von Frankreichs Abolitionisten-Bewegung: Sie kämpft für die Abschaffung des ‚prostitutionellen Systems‘, so der gängige Begriff. „Mit Erfolg,“ so die junge Frau selbstbewusst.
Am 13. April 2016 verabschiedete das Pariser Parlament ein Gesetz zur „Verstärkung der Mittel für den Kampf gegen Zuhälterei und Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung“. Getreu dem Vorbild Schwedens führte Frankreich dabei Strafen für Freier ein. Wer erstmals ertappt wird, muss 1.500 Euro zahlen, 3.750 Euro im Wiederholungsfall. Hat der Freier sich einer minderjährigen oder „verletzlichen“ (vulnerable) Person bedient, drohen bis zu sieben Jahre Haft. Nicht mehr geahndet wird der „Verkauf eines sexuellen Akts“ oder auch das Ansprechen von Kunden. „Seither wurde keine Frau mehr verhaftet,“ beteuert Héma. „Im Jahr davor, 2015, hatte es noch 2.500 Festnahmen gegeben.“ Zudem bietet das Gesetz Opfern des „Prostitutionssystems“ Ausstiegshilfe.
„Bisher wurden etwas mehr als 5.000 Freier verurteilt, ausschließlich Männer,“ berichtet die CAP-Sprecherin. Nachhaltiger als das Bußgeld sei eine weitere Maßnahme: Der Richter kann die Teilnahme an einem eintägigen Sensibilisierungskurs anordnen. Da treffen verurteilte Freier unter anderem auf Aussteigerinnen aus dem Rotlicht-Milieu. Frauen wie Rosen Hicher. Mit rauer Stimme schildert die heute 62-Jährige unermüdlich ihren früheren Alltag. 22 Jahre lang ging sie anschaffen, der Ausstieg gelang ihr 2009, fünf Jahre später unternahm sie zu Fuß eine Tour de France – um für die Verabschiedung eines Abolitions-Gesetzes zu werben. Hichers ungeschminkte Schilderung verfehle kaum je ihre Wirkung, so Aktivistin Sibi: „Alle Teilnehmer erklären bei Kursende, die Aussagen der Aussteigerinnen hätten bei ihnen etwas bewirkt, ihren Blick auf das Prostitutionssystem verändert.“ Und die meisten scheinen es ernst zu meinen.
Die Zahl der Personen in der Prostitution wird landesweit auf 36.000 geschätzt. 95 Prozent gelten heute als Opfer von Zwangsprostitution. Dazu zählen auch die 50 teils sehr jungen Nigerianerinnen, die täglich in der Hauptstraße im Bois de Vincennes stehen. Um ihr Essen zu verdienen, sind manche gezwungen, sich für zehn Euro zu verkaufen.
Auf dem Straßenstrich stand früher auch die junge Afrikanerin, die nun in einem Videoclip für den Ausstiegs-Parcours wirbt: eine Kampagnen-Initiative der vier einheimischen Abolitionisten-Vereine: Amicale du Nid, Fondation Scelles, Mouvement du Nid, CAP. Mit ernstem Blick vermittelt die Frau ihre Botschaft: „Unsere Körper sind zu müde geworden, dieses Leben weiter auszuhalten. Wir sind bereit, Nein zu sagen zur Prostitution – wenn ihr uns helft, da herauszukommen.“
Hope hat Hilfe gefunden. In einem Video des Mouvement du Nid erzählt sie begeistert vom neuen Leben, das der Ausstieg ihr und der kleinen Tochter ermöglicht hat: „Ich bin nun in einer Welt, die menschlich ist.“ Hope ist die erste, die vom 2016 per Gesetz lancierten Ausstiegsparcours profitierte. Die Mittzwanzigerin war von Menschenhändlern nach Frankreich verschleppt worden. Sie verdankt der Maßnahme Aufenthaltspapiere, ein Dach über dem Kopf, psychologische Betreuung und eine zweijährige Ausbildung. „Die habe ich erfolgreich absolviert und einen Job als Altenpflegerin gefunden,“ erzählt Hope.
Das Abolitions-Gesetz schreibt vor, in der Präfektur jedes Départements eine Kommission zur Betreuung von Ausstiegswilligen einzurichten. Da entscheiden Vertreter von Justiz, Polizei, Ministerien, von der Ärztekammer und Hilfsvereinen gemeinsam über Anträge für einen Ausstiegs- Parcours, suchen Abhilfe, falls eine Programmteilnehmerin spezielle Probleme hat. Finanziert wird dieses Hilfsprogramm landesweit jährlich mit 5 Millionen Euro.
„Bis heute haben insgesamt 600 Personen den Parcours angetreten,“ zitiert Héma Sibi jüngste Zahlen. „Das ist einerseits wenig, andererseits viel – denn diese 600 sind nun in einem völlig anderen Leben.“ Der Weg dahin ist steinig: Die monatliche Unterstützung beschränkt sich auf 330 Euro. Das ist einer der Gründe für die geringe Nachfrage. Ein anderer: Bei der landesweiten Umsetzung des Gesetzes mangelt es noch vehement an „Homogenität“, sprich: In einigen Départements fehlen der „politische Wille und das Engagement der Obrigkeiten“, so heißt es der ersten Bilanz des Gesetzes, die im Sommer 2020 erschien.
Im April des Vorjahres, drei Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes, hatte der Premierminister mehrere Generalinspektionen, zuständig für die Bereiche Soziales, Verwaltung und Justiz, mit dieser Mission betraut. Für ihre Ermittlungen reiste die Arbeitsgruppe quer durch das ganze Land, von Paris bis Marseille, Toulouse und Nizza im tiefen Süden über Lille im Norden bis hin ins Elsass, nach Straßburg im Osten. Insgesamt wurden 200 ExpertInnen angehört.
Der 238-Seiten-Bericht liefert eine aktuelle Lagebeschreibung zur Prostitution in Frankreich. Der ‚sichtbare‘ Teil, also der Straßenstrich, mache 30 Prozent aus: „Ausländische Personen bilden die Mehrheit. Bei den Personen in der Prostitution handelt es sich zu 85 Prozent um Frauen, zehn Prozent sind Männer, fünf Prozent Transsexuelle.“ Doch mehr und mehr verlagere sich die Tätigkeit in Hotels, Wohnungen, Massagesalons. Und: „Prostitution wird immer mobiler und unbeständiger“ ausgeübt.
Die Arbeitsgruppe zieht detailliert Bilanz. Die wirkt überaus durchwachsen. Die gesetzlichen Maßnahmen zur Betreuung der Opfer von Prostitution und Zuhälterei seien nach und nach umgesetzt worden, jedoch landesweit sehr unterschiedlich. „Der Aufbau der Kommissionen zum Kampf gegen die Prostitution ist noch nicht abgeschlossen“, resümieren die AutorInnen, jedes vierte Département verfüge noch nicht über eine solche Einrichtung.
„Verbesserungsbedarf“ bestünde für Personen im Ausstiegsparcours beim Zugang zu einer Unterkunft oder auch betreffs der finanziellen Unterstützung. Kritisiert wird von der Arbeitsgruppe ebenso, dass 2018, so die in der Berichterstellung jüngsten Zahlen, lediglich 1.938 Bußgeldbescheide an ertappte Freier ausgestellt wurden. Auf Paris entfällt die Hälfte aller im Land ausgestellten Strafgeldbescheide. Das Engagement der dortigen Behörden bezeichnet das Bündnis der Abolitionisten-Vereine als federführend. In Paris spürt eine spezielle Polizeieinheit sogar Freier auf, die via Internet über soziale Medien an prostituierte Personen herantreten.
Seitenlang macht der staatliche Bericht Vorschläge, wie die gesetzlichen Bestimmungen zum Kampf gegen die Prostitution besser umgesetzt werden können. Empfohlen wird unter anderem: die mit dem Thema befasste interministerielle Kommission mindestens einmal jährlich zur Tagung einzuberufen; die Hilfsvereine, erste Anlaufstelle für Ausstiegswillige, finanziell besser zu unterstützen; mehr öffentliche Aufklärungskampagnen zum Inhalt des Gesetzes sowie auch Personal in Oberschulen per Fortbildung zu befähigen, rechtzeitig Heranwachsende aufzuspüren, die in die Prostitution abzugleiten drohen.
Forderungen, hinter denen auch die Pariser Staatssekretärin für Gleichstellung steht. Schon rund um den fünften Jahrestag des ‚Abolitions‘-Gesetzes, im April 2021, hatte Elisabeth Moreno Lehren aus dem Bilanzbericht gezogen und „mehr politischen Willen“ versprochen. Bei einer Presseveranstaltung Mitte Januar 2022 dann wurde sie auf Nachfrage von EMMA konkret. In Kürze werde der Innenminister ein Rundschreiben an alle PräfektInnen herausgeben: „Wir wollen, dass sich endlich alle hundert Départements mit einer Kommission zur Verwaltung von Ausstiegsparcours ausstatten und zudem sollen die Bestimmungen zur Aufnahme von Ausstiegswilligen in den Parcours landesweit vereinheitlicht werden.“
Moreno konstruktiv: „Wir legen 4,6 Millionen Euro auf den Tisch, um beim Ausstieg zu helfen – zusätzlich zu den schon im Budget verankerten Mitteln.“ Also zu den 5 Millionen.
Eine Fünf-Jahres-Bilanz hat auch ‚Fact-S‘ gezogen. Zu diesem Bündnis gehören die Vereine, die seit langem Ausstiegshilfen anbieten, sowie AussteigerInnen aus der Prostitution. „Sobald das Gesetz wirklich angewandt wird,“ schreiben sie im Vorwort ihrer 152-Seiten-Broschüre, „erbringt es sehr gute Resultate und hilft Menschen, ihr Leben zu verändern.“ Dokumentiert wird das akribisch, mit Zahlen, Grafiken und Zitaten von AussteigerInnen. Aus ihrer täglichen Terrain-Arbeit sind den Vereinen Amicale du Nid, CAP, Fondation Scelles und Mouvement du Nid die Mängel bei der Umsetzung des Gesetzes bestens vertraut. Bei einer Kampagne im letzten Frühjahr gab ‚Fact-S‘ ein neues Ziel vor: Das Bündnis fordert ein Zehn-Jahres-Programm, dotiert mit 2,4 Milliarden Euro.
Flagge zeigt die Macron-Regierung betreffs eines neueren Phänomens: Minderjährige auf dem Strich. Sie werden heute auf 7.000 bis 10.000 geschätzt – 70 Prozent mehr als vor fünf Jahren. Hauptsächlich Mädchen, Einstiegsalter: ab elf Jahren! Vom „Kontinuum der Gewalt“, spricht eine neue Studie der im Pariser Vorort Saint-Denis angesiedelten „Beobachtungsstelle zur Gewalt an Frauen“. Sie resümiert: „Vor dem Einstieg in die Prostitution hatten neun von zehn Minderjährigen Gewalt von Seiten der Eltern oder Stiefeltern erlebt.“ Mitte November präsentierte Paris einen mit 14 Millionen Euro dotierten Plan gegen die Prostitution Minderjähriger: Darin ist die Rede von Aufklärungsarbeit, dem Aufspüren und Betreuen gefährdeter Teenager sowie von Justiz-Aktionen gegen Freier und Zuhälter.
Auch dieser Plan geht auf die Lobbyarbeit der Abolitionisten-Vereine zurück. Die hat zum gesellschaftlichen Umdenken beigetragen. Bei einer Umfrage von 2019 erklärten 78 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen ihre Zustimmung zum Abolitions-Gesetz. 85 Prozent hielten es für wichtig, gegen das Prostitutionssystem vorzugehen. Und 85 Prozent der Französinnen erklärten, Prostitution bedeute Gewalt gegenüber Frauen. Vor allem junge Frauen engagieren sich zunehmend für ein Aus des ‚Prostitutionssystems‘ – ein Novum. Das läge im Zeitgeist, so CAP-Chefin Sibi, und nennt ein Stichwort: Intersektionalität. Schnittstelle aller Formen weiblicher Diskriminierung, ob es nun um indigene Frauen, Migrantinnen, Obdachlose oder Vertreterinnen ethnischer oder sozialer Minderheiten gehe, sei nun mal – die Prostitution.
SUZANNE KRAUSE
Im Netz:
amicaledunid.org
cap-international.org
fondationscelles.org
mouvementdunid.org