"Ihr Kampf war nicht umsonst!"
In Indien wird jetzt viel von einem Weckruf für das Land gesprochen, einem Symbol der Hoffnung, einer Volksbewegung für den Wandel. Aber gleichzeitig werden überall Zweifel laut, ob das Schicksal der jungen Frau die Nation wirklich so aufgerüttelt hat, dass sie erkennt, dass auch Frauen ein Recht darauf haben, überhaupt geboren zu werden, dass sie gleichwertige Menschen sind und nicht ein Stück Müll, das angeblich nichts wert ist. Die 23-jänrige Studentin war ja schließlich nicht das erste Opfer bestialischer Gewalt. Erst am Wochenende wurde wieder einer Zwölfjährigen nach einer Massenvergewaltigung die Kehle durchschnitten.
Dass sich auffallend viele junge Männer zum ersten Mal unter den Plakaten "Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Frauen" an den Schweigemärschen beteiligten, die flackernde Kerze in der Hand, ist noch kein Indiz dafür, dass jetzt mit einer 5000 Jahre alten Tradition der Frauenverachtung Schluss ist. Denn typisch sind auch höhnische Bemerkungen wie: "Haben wir jetzt schon eine Diktatur der Feministinnen, weil solche blöden Demonstrationen erlaubt werden?" Und wie eh und je musste die Journalistin Rukmini Shrinivasan während der Berichterstattung über die Proteste die Erfahrung machen, dass sie betatscht wurde und dann auf Twitter lesen konnte: "Sag bloß, dass du das nicht schön fandest, so was ist doch richtig geil."
Auffallend ist auch, dass indische Politiker zwar pathetische Reden über das schreckliche Geschehen hielten, aber immer mit einem sexistischen Seitenhieb, weil das die Normalität ist. Doch der Forderung der jungen Leute "Sprecht mit uns!", mochte keiner nachkommen. Vielleicht deshalb, weil alle Parteien regelmäßig Mörder, Vergewaltiger und Entführer als Kandidaten bei den Wahlen aufstellen, nach dem Motto: Was ist denn schon dabei? Und weil gegenwärtig sieben Abgeordnete in den Parlamenten sitzen, gegen die ein Verfahren wegen Vergewaltigung läuft? Wobei angenommen werden muss, dass es, wie üblich, für sie niemals zu einer Verurteilung kommen wird.
Mit den sechs Männern, welche die Studentin in Delhi vergewaltigten, soll das nun ganz anders werden. Schon im Januar kommen sie vor Gericht, die Gesetze sollen verschärft und das Strafmaß bis auf 30 Jahre Gefängnis verlängert werden, sogar für die Kastration von Vergewaltigern oder das Öffentlichmachen von verurteilten Tätern im Internet gibt es Überlegungen. Gegenüber der bisherigen Haltung selbst der Gerichte, die Vergewaltigung eher als Bagatelle, das Zeugnis der Frau als zu bezweifeln und eine Verurteilung des Mannes als Zumutung ansahen, wäre dies ein Fortschritt, wenn dann auch noch die Polizei auf Vordermann gebracht würde, welche die Täter meist von vornherein laufen lässt.
Doch es geht um viel mehr: "Es geht darum, dass wir unser ganzes Denken verändern müssen, jahrtausendalte Gewohnheiten, die Männern alles erlauben und die von Frauen verlangen, alles als gottgegeben schweigend hinzunehmen", sagte das bekannte Bollywood-Idol Shabana Azmi auf einer der vielen Nachtwachen in Delhi am Wochenende. "Wir können jetzt nicht mehr zurück zu business as usual, wir können uns nicht eine zivilisierte Gesellschaft nennen, wenn alles so weitergeht, wie gehabt."
Sprich: eine Vergewaltigung jede Minute, 10 000 mutwillig angezündete Ehefrauen pro Monat, meist, weil sie nicht genügend Mitgift mitgebracht haben, eine Verdoppelung der Zahlen beim Menschenhandel mit Mädchen und Frauen innerhalb eines Jahres, ein Rückgang von zwei Millionen Frauen pro Jahr in der Bevölkerung, weil man sie nicht hat leben lassen. In vielen Großfamilien wird bereits eine Frau vom Ehemann und allen seinen Brüdern "benutzt".
Es ist nicht so, wie die Schriftstellerin Arundhati Roy vermutet, dass erst eine Angehörige der städtischen Mittelklasse sterben musste, um einen derartigen Aufruhr in der indischen Gesellschaft zu provozieren, während die tagtägliche Gewalt gegen die Unterschichten und Minderheiten jahrhundertelang als selbstverständlich hingenommen wurde. Es ist vielmehr so, dass das Fass übergelaufen ist, „enough is enough“, wie die jungen Menschen ihre Wut jetzt herausschrieen - und von der Politik deshalb eilig als Terroristen und Maoisten verteufelt wurden.
Es gibt die Hoffnung, dass in Indien jetzt junge Menschen in den Städten heranwachsen, die sich als Teil einer Welt begreifen, in der Menschenrechte für alle gelten, nicht nur für Männer. Städte waren immer schon ein Motor des Wandels.
Dass es über Nacht zu einer Veränderung der indischen Gesellschaft kommen wird, ist aber nicht anzunehmen. Schon deshalb nicht, weil Dreiviertel der Bevölkerung auf dem Landes leben, in zumeist archaisch-patriarchalischen Strukturen, die ehern zu sein scheinen. In diesen Strukturen glauben viele Frauen nur dann eine Chance zu haben, wenn sie ins gleiche Horn wie die Männer blasen – indem sie ihre neugeborenen Mädchen gehorsam umbringen, die Schwiegertochter verbrennen, der Tochter befehlen, den Mund zu halten, wenn man ihr Gewalt antut.
Viel wäre schon gewonnen, wenn Bollywood nachdenklicher würde, statt auf immer mehr Gewalt und Brutalität gegen Frauen zu setzen. Viel wäre auch gewonnen, wenn das Fernsehen sich auf seine erzieherische Rolle besänne, statt, nach Quoten schielend wie überall auf der Welt, sich immer am niedrigsten und unverfänglichsten Niveau zu orientieren.
In den beliebten Seifenopern, die sie alle – im fernsten Dorf wie im tiefsten Slum sehen – werden nach wie vor die traditionellen Großfamilien gezeigt, in der die Söhne glorifiziert und die Mädchen ausgegrenzt werden. Das alles könnte ganz anders sein, damit das Land seinem großspurigen Slogan von "Incredible India", vom überwältigenden Indien, irgendwann ein kleines Stück näher kommt.
Übrigens: UN-Generalssekretär Ban Ki Moon erinnerte in seiner Kondolenzbotschaft an die Familie der toten Studentin daran, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur ein in Indien praktiziertes Verbrechen ist.
Die Autorin war 20 Jahre lang Asien-Korrespondentin der "Zeit". Sie hat im September 2009 "LIFT e.V - Zukunft für indische Mädchen" mitgegründet, ein Verein, der „Anugraha", ein Mädchenheim im indischen Südstaat Karnatataka unterstützt. Dort werden etwa 40 Mädchen zwischen fünf und 16 Jahren ernährt, gekleidet, unterrichtet - und beschützt. Venzky besucht das Heim regelmäßig. Spenden sind mehr als willkommen: LIFT e.V., KTO 1009 300 003, Hamburger Sparkasse, BLZ 200 505 50.