Studentinnen sind nicht geschützt!
13.000 Frauen an 16 deutschen Hochschulen wurden von 2009 bis 2011 befragt. Jede zweite gab an, sexuelle Belästigung in ihrer Studienzeit erlebt zu haben. Jede zehnte wurde gestalkt. Jede 30. war im Studium Opfer einer Vergewaltigung geworden – so lauten schon die offiziellen Zahlen. Plus Dunkelziffer. Die größte Tätergruppe: die Kommilitonen der Studentinnen. Studentinnen in den ersten beiden Semestern sind besonders betroffen.
Die größte Täter-
gruppe: die Kommilitonen der Studentinnen
Das ergab der „Länderbericht Deutschland“ innerhalb der europaweiten Studie „Gender-Based Violence, Stalking and Fear of Crime“ der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Die Studie wurde zum Wendepunkt: „Bis dahin galt an Hochschulen die Haltung: Unter uns gebildeten Menschen gibt es sexuelle Belästigung und Sexualgewalt nicht!“, sagt Sozialwissenschaftlerin Dr. Katrin List, die die Studie koordiniert hat.
Auch für das Hochschulumfeld gilt also: Sexuelle Belästigung, Stalking und Sexualgewalt finden im „Nahbereich“ statt, also durch Freunde oder Ex-Freunde an derselben Uni oder durch Bekannte aus Seminaren und Vorlesungen. Und auch, aber seltener, durch Dozenten oder Professoren.
„Die Betroffenen sind meistens enorm verunsichert!“, klagt List. Auch das ergab die Befragung der Ruhr-Uni: Studentinnen haben Angst, dass ihnen im Fall eines Übergriffs niemand glaubt. List: „Die meisten waren überzeugt, dass die Universität den Täter decken würde, um ihren Ruf zu schützen.“
Diese Sorge haben die Frauen nicht unbegründet. „So ein Fall kann natürlich schädlich für die gesamte Hochschule sein“, sagt Solveig Simowitsch, Sprecherin der Kommission gegen „Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt“ bei der „Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen“. Vor allem im steigenden Konkurrenzkampf um Fördermittel und Gelder für Forschungsaufträge. Das Interesse der Hochschulen ist groß, so wenig wie möglich mit dem Thema in Verbindung gebracht zu werden. Und wenn eine Hochschulleitung handeln will, sind ihr oft die Hände gebunden: „Es gibt eine große Rechtsunsicherheit, wie überhaupt sanktioniert werden kann“, sagt Simowitsch.
Für MitarbeiterInnen der Universität gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Für Studierende nicht. Sie unterliegen nur der so genannten „Fürsorgepflicht“. Die allerdings ist eine vage Angelegenheit. „Natürlich kann eine Universität einen Platzverweis für einen Täter erlassen. Aber für welche Orte gilt der? Für die Mensa? Oder auch für die Bibliothek und den Hörsaal?“ klagt auch Soziologin List.
Noch komplizierter wird es, wenn der Täter nicht Kommilitone, sondern Professor ist. „Für den gilt natürlich das AGG – aber er ist auch Beamter und es würde bei sexueller Belästigung lange dauern, bis er sanktioniert wird“, sagt Simowitsch. Hinzu kommt, dass z.B. eine Doktorandin, wenn sie erfolgreich promoviert werden möchte, besonders abhängig ist von ihrem Doktorvater. Etwa, weil er der einzige ist, der ihr Thema an der Hochschule betreuen kann. Und: Wissenschaftliche Communities sind klein. Da reicht schon „Die XY ist ein bisschen kompliziert“, um über eine Anstellung zu entscheiden. Die Täter wissen das. Und die Opfer schweigen.
Studentinnen
haben Angst, dass ihnen niemand glaubt
Was schwerwiegende Konsequenzen für den gesamten Hochschulbetrieb hat. Nicht nur für die Opfer, sondern auch für die Universitäten. „Durch sexuelle Belästigung, Stalking und Mobbing entstehen sehr hohe betriebswirtschaftliche Folgekosten“, argumentiert die Universität Oldenburg in einer eigenen Studie zum Thema. Denn die psychischen und physischen Auswirkungen bei den Opfern führen zur „Beeinträchtigung der Studier- und Arbeitsfähigkeit“.
In Niedersachsen und Baden-Württemberg zum Beispiel hat man sich so beholfen: Hier wurde in den Landeshochschulgesetzen festgelegt, dass das AGG für alle Angehörigen der Hochschule gilt, auch für die Studierenden. Kommissionssprecherin Simowitsch fordert: „Alle Landeshochschulgesetze müssten diesen Passus aufnehmen.“
Etliche Hochschulen haben zumindest Richtlinien gegen sexuelle Belästigung und Gewalt formuliert. „Wichtig ist, dass die Hochschulen die Verfahrenswege kommunizieren“, sagt Simowitsch. Zum Beispiel: Wer sind die ersten vertraulichen AnsprechpartnerInnen? Wie werden die Fälle dokumentiert? Wie werden Betroffene geschützt. Erst dann trauen Opfer sich, ihr Schweigen zu brechen.
Die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten hat erwirkt, dass Maßnahmen gegen „moralische Belästigung, sexualisierte Diskriminierung und Gewalt“ in den Kriterienkatalog für das Prädikat „Total E-Quality“ aufgenommen werden. Das vergibt der gleichnamige Verein mit Unterstützung des Frauenministeriums an Hochschulen, die sich für Chancengleichheit einsetzen.