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Quo vadis Syrien? Eine Chronik

Ahmed Al-Scharaa, der Führer des HTS - Foto: Abacapress/IMAGO
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27. November 2024  Unter Führung der islamistischen Organisation Haiat Tahrir al Schams (HTS, „Organisation zur Befreiung der Levante“) erobern jihadistische Gruppen in einer Blitz-Offensive Aleppo, Homs und Damaskus. Der Anführer der HTS ist Abu Muhammad Al-Jolani (inzwischen unter dem Namen Ahmed Al-Scharaa bekannt). Der Medizinstudent und Sohn eines Erdölingenieurs war 2003 mit 21 Jahren in den Untergrund gegangen, um gegen „die Ungläubigen“ zu kämpfen, die im Irak Saddam Hussein zu Fall gebracht hatten. 2006 geriet Al-Jolani in amerikanische Gefangenschaft und kam 2011 „mit 50.000 Dollar“ nach Syrien zurück. Das Geld hatte er nach eigenen Worten von Abu Bakr Al-Baghdadi, dem späteren Anführer des „Islamischen Staates“. Damit begann Al Jolani in Syrien die „Al Nusra Front“ aufzubauen, einen Ableger des IS, drei Jahre später wechselte er zu Al-Qaida. 

2015 – 2024  Ab der Unterstützung des Assad-Regimes durch Russland zieht Al-Jolani sich in die Region Idlib zurück. Er wird schnell der heimliche Herrscher der 3,5-Millionen-Einwohner-Region (von denen ein Drittel Flüchtlinge in Lagern waren), in der ab 2017 die „Syrische Heilsregierung“ herrscht, die formell unabhängig ist, faktisch jedoch unter der strikten Kontrolle der HTS und ihres Chef Al-Jolani steht. Was das Auswärtige Amt nach eigener Aussage nicht daran hindert, aus seinem eigenen und dem Budget des Entwicklungshilfeministeriums 37,5 Millionen Euro in Idlib zu investieren und zwei Jahre später nochmal 100 Millionen als „Soforthilfe“. Die HTS investierte, wie alle islamistischen Regierungen, ins Soziale: eine stabile Energieversorgung, Internet, Einkaufszentren, Schulen – die allerdings streng getrennt nach Geschlechtern. Eine Recherche vor Ort der FAZ-Korrespondentin Friederike Böge 2014 ergab unter anderem, dass die Frauen in der Region Kopftuch oder Schleier trugen (was im nebenan liegenden Aleppo nicht der Fall war). Für Mädchen über zwölf Jahren war ein Gesetz zur „sittsamen Kleidung“ (Verschleierung) ergangen, und zum Beispiel im Chocolate-Corner-Café in Idlib wurden Frauen durch mobile Stellwände von den Blicken der Männer abgeschirmt. Auf Massenproteste im Juli 2024 folgte in Idlib eine Säuberungswelle, der auch rund 300 HTS-Kader zum Opfer fielen.

8. Dezember 2024  HTS: „Der Tyrann Baschar Al-Assad ist geflohen.“ Sie fordern die „vertriebenen Syrer weltweit“ auf, zurückzukehren: „Ein freies Syrien erwartet euch.“ Al-Jolani, jetzt Ahmad Al-Sharaa, spricht in der Umayyaden-Moschee in Damaskus.  Es wird bekannt, dass die Milizen Al-Jolanis von Katar und der Türkei unterstützt worden waren. Und die Ukraine lieferte den Djihadisten Waffen: Rund 150 FPV-Drohnen, betreut von 20 ukrainischen Drohnenoperateuren.

11. Dezember 2024  Der neu ernannte Justizminister Shadi Al-Wasiri kündigt an, dass alle Richterinnen ihre Prozesse an Richter zu übergeben hätten, heißt es im Internet. Frauen sollen im Post-Assad-Regime kein Recht mehr sprechen dürfen. Die HTS dementiert, der syrische Anwalt Hassan Ali Abdullah spricht auf tagesschau.de von einem „Gerücht“. 

17. Dezember 2024  Der HTS-Sprecher Obaida Anaout erläutert in einem Interview mit dem libanesischen TV-Sender Al-Jadeed, Frauen könnten aufgrund ihrer „psycho­logischen und biologischen Einschränkungen“ bestimmte Rollen nicht übernehmen. Für syrische Richterinnen sei es „zu früh, auf ihre Posten zurückzukehren“. (Darüber informiert Rim Turkmani, die Direktorin des Syrien-Konfliktforschungsprogramms an der London School of Economics.) 

19. Dezember 2024  Daraufhin protestieren Hunderte in Damaskus auf der Straße (Foto). Sie fordern Rechte für Frauen und einen säkularen Staat. Slogan: „Keine Freie Gesellschaft
ohne freie Frauen.“

21. Dezember 2024  Das US-Außenministerium gibt bekannt, dass die USA das seit 2017 ausgesetzte Kopfgeld in Höhe von 10 Millionen Dollar auf den HTS-Führer Al-Sharaa aufgehoben haben.

31. Dezember 2024  Die westlichen Medien berichten, die neue Regierung habe zwei Frauen auf Regierungsposten gesetzt: Maysaa Sabrine, die schon zuvor stellvertretende Leiterin der syrischen Zentralbank war, soll „die Geschäfte weiterführen“. Und Aisha Al-Diabas (Foto) wird zur Leiterin des „Büros für Frauenangelegenheiten“ ernannt. Im arabisch-türkischen TV Sender TRT erklärt sie: „Frauen sollten sich nicht ihrer von Gott gegebenen Natur widersetzen, insbesondere ihrer erzieherischen Rolle in der Familie“. Und weiter: „Ich werde niemandem den Weg ebnen, der nicht mit mir übereinstimmt. Wir haben in der Vergangenheit unter Institutionen gelitten, die sich gegen unsere Kinder und Frauen richteten – damit meine ich feministische Institutionen mit westlichem Denken, die Frauen auf­hetzen gegen Männer und Homosexualität unterstützen.“ Bereits am 24. Dezember hatte das „Middle East Media Research Institute“ (MEMRI) darauf aufmerksam gemacht, dass Aisha Al-Diabas auf Facebook am 7.10.2023 die Hamas gelobt und die Gräueltaten am 7. Oktober gegen Israelis begrüßt habe. 

1. Januar 2025  Das neue Bildungsministerium verkündet Änderungen in Schulbüchern. Dabei wurde ein Koranvers hinzugefügt, nach dem Juden und Christen „vom Weg abgekommen“ seien. Die Evolutionstheorie wird aus den Schulbüchern gestrichen.

3. Januar 2025  Die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, die bei Amtsantritt eine „feministische Außenpolitik“ angekündigt hatte, reist nach Damaskus. Wie in den Medien breit berichtet und gezeigt wurde, gab Al-Jolani zwar Baerbocks französischem Kollegen die Hand, nicht aber der deutschen Frau, was normal ist bei einem Islamisten, die deutschen Medien aber dennoch überraschend finden. Baerbock ließ sich in ihrer Mission jedoch nicht beirren. Sie forderte Al-Jolani auf, dafür zu sorgen, dass Russland seine Militärbasen in Syrien verlassen solle. Es blieb den Nachdenkseiten vorbehalten, zu fragen, wieso die deutsche Außenministerin zwar die Schließung der „vertraglich und völkerrechtlich legitimierten“ russischen Militärbasen fordere, nicht aber die Schließung der „ohne jede völkerrechtliche Grundlage“ errichteten amerikanischen Militärbasen mit 2.000 US-Soldaten.

4. Januar 2025  Der der HTS nahestehende Telegram-Kanal Almharar, der sich als der „offizielle Kanal des Nachrichtenwerkes freie Syrien“ bezeichnet, zeigt vier Fotos von der Begegnung zwischen der deutschen Außenministerin und dem syrischen Staatsführer. Auf allen vier Fotos ist Annalena Baerbock bis zur Unkenntlichkeit verpixelt. Logisch. Bei Hardcore-Islamisten dürfen Gesicht und Körper von Frauen nicht gezeigt werden.

4. Januar 2025  In den sozialen Medien tauchen zwei Videos auf. Sie zeigen den neuen syrischen Justizminister Shadi Al-Waisi, wie er 2015 die Exekutionen zweier Frauen „im Namen Allahs“ auf offener Straße in Idlib überwacht. Ihr Vergehen: „Ehebruch und Prostitution“.

31. Januar 2025  De-facto-Herrscher Al-Scharaa (ehemals Al-Jolani) wird offiziell zum Übergangspräsidenten von Syrien ernannt, beziehungsweise er ernennt sich dazu. Freie Wahlen könne es frühestens in vier Jahren geben, verkündet der Übergangspräsident. Zunächst müsse eine neue Verfassung erarbeitet werden. Kommentar Spiegel: „Die Welt fürchtet sich vor einer islamistischen Diktatur, doch der neue starke Mann Syriens sendet beruhigende Signale.“ Na dann.   

Dokumentation Angelika Mallmann

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