Syrien: Lasst die Kurden nicht im Stich!

Als Stimme der Jesidinnen gegen die Kriegsverbrechen des IS erhielt Nadia Murad 2018 den Friedensnobelpreis. Foto: imago.
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„Sie haben den Nobelpreis erhalten? Wofür hat man Ihnen den denn gegeben?“, fragte Donald Trump vor drei Monaten Nadia Murad in seiner bemerkenswerten Ignoranz. Murad rang für einen kurzen Moment um Fassung im Oval Office und schilderte dann mit brüchiger Stimme das Schicksal ihres Volkes, ihrer Familie, sprach von Mutter, Geschwistern. „Und wo sind die jetzt?“, fragte Trump. „Tot, ermordet, in Massengräbern“, antwortete Murad.

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Nadia Murad war eine der Gefangenen des selbsternannten „Islamischen Staates“. Sie wurde, wie tausende, gefoltert und vergewaltigt – und überlebte nur wie durch ein Wunder. Zuflucht fand sie in Deutschland in einem Projekt des Landes Baden-Württemberg, das dutzenden Jesidinnen eine neue Heimat bot. (EMMA berichtete)

Im Schutz dieser neuen Heimat ist es entsetzlich für Murad, zu sehen, wie es den Zurückgebliebenen ergeht.

Nach den Jesidinnen jetzt also die Kurdinnen. Sie werden von Erdogans Soldaten und von den von ihm angeheuerten „Freien Männern des Ostens“ gejagt. Das sind fanatisierte islamistische Söldner, die nur eines wollen: alle Ungläubigen massakrieren.

Die Kurden im Stich zu lassen ist beschämend und gefährlich

Amerika zieht seine Truppen zurück – der Weg ist frei für den türkischen Präsidenten, endlich das zu tun, was er seit Jahren plant: in Syrien auf Raubzug zu gehen, um sich ein Stück des Landes einzuverleiben. Das scheint allerdings nicht ganz so zu klappen, wie Erdogan sich das vorgestellt hat. Nicht nur Kanzlerin Merkel und der ganze Westen verurteilen den Überfall auf Syrien, auch die arabischen Länder tun dies. Aus Erdogan, dem einstigen „Held der muslimischen Welt“, wird jetzt der Bösewicht der muslimischen Welt.

Auch Nadia Murad, die Friedensnobelpreisträgerin von 2018, möchte dazu beitragen, Erdogan zu stoppen. Sie appelliert:

„Ich verurteile die gegenwärtige türkische Invasion im Nordosten Syriens. Dieser Akt der Aggression wird ein Wiederaufleben des IS und anderen radikalen Gruppen und eine weitere Destabilisierung der Region zur Folge haben. Religiöse Minderheiten in Syrien und im Irak werden, wieder einmal, von radikalen Gruppen bedroht. Tausende Kurden haben ihr Leben im Kampf gegen den IS verloren. Die Kurden im Stich zu lassen, ist beschämend und gefährlich. Es starben bereits Zivilisten und, sobald die Kämpfe eskalieren, werden es die Frauen und Kinder sein, die am meisten leiden. Dies wird zu mehr Vertreibung und Leid von unschuldigen Menschen führen.

Wenn die Front gegen den IS zerstört ist, werden die Kämpfer, die Frauen und Kinder versklavt haben und den Genozid wollen, davonkommen, ohne vor Gericht zu stehen. Die internationale Gemeinschaft hat eine moralische Verantwortung, die Region zu stabilisieren. Trumps Entscheidung, die Türkei taktisch zu unterstützen, wird schwerwiegende Konsequenzen haben für die Leben von Zivilisten und die Region.

Es ist noch nicht zu spät für eine friedliche, politische Lösung, um die Sicherheit all jener in der Region zu bewahren. Wir fordern jeden auf, die Menschen zu unterstützen, die bereits aus ihrer Heimat in Nordost Syrien geflohen sind.“

In Deutschland appellierte Ali Ertan Toprak, der Repräsentant der Kurdischen Gemeinschaft, an Europa und die USA, Erdogan zu stoppen. „Erdogan bezeichnet die Kurden als Unmenschen, er will sie auslöschen“, klagte er in Interviews. Auch äußerte er sich zum so genannten „Pakt“ mit Assad: „Es ist kein paktieren! Der Westen hat die Kurden ausgeliefert. Sie haben keine andere Wahl. Sie stehen vor einem Genozid.“

Die USA und Europa hätten genug Möglichkeiten, Erdogan zu stoppen, aber sie müssten die Sprache sprechen, die Erdogan versteht: die von Macht und Geld. „Es müssen wirtschaftliche Sanktionen folgen“, sagt Toprak, „alles andere wäre eine Tragödie für die freie Welt!“  

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Nadia Murad hat es gewagt

Nadia Murad war "die erste IS-Überlebende, die den Mut hatte, ihr Schweigen über die Gräueltaten zu brechen". - © Cia Pak/UN Photo
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3.991 Kilometer sind es von Mossul nach Heilbronn. Diese Strecke hat Nadia Murad zurückgelegt, nachdem sie sich aus der IS-Gefangenschaft befreit hatte und in Baden-Württemberg gemeinsam mit weiteren 1.100 jesidischen Frauen und Kindern Zuflucht gefunden hatte. Der Schritt aber, den die junge Frau im Herbst 2014 innerlich machte, ist in seiner Größe gar nicht zu beziffern: Nadia entschloss sich, öffentlich über das zu reden, was ihr und Tausenden anderen jesidischen Frauen angetan worden war.

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Am 3. August 2014 wurde ihr Dorf Kocho im irakischen Sindschar-Gebirge vom IS überfallen. Nadia wurde, zusammen mit den anderen Mädchen und Frauen, in eine Schule getrieben. Die Männer wurden massakriert, darunter sechs ihrer Brüder und zwölf weitere Familienmitglieder. Später erfuhr Nadia, dass man auch ihre Mutter ermordet hatte.

Bevor die Katastrophe über sie hereinbrach, hatte die 21-Jährige Lehrerin werden wollen. Stattdessen wurde sie drei Monate lang gefangen gehalten, geschlagen und vergewaltigt. Als ihr Peiniger das Haus verließ, konnte sie entkommen. Nadia Murad schaffte es in ein Flüchtlingslager im kurdischen Grenzgebiet. Und dort entschied sie sich, Zeugnis abzulegen.

Nachdem ihr die Flucht gelang, entschied Nadia Murad, Zeugnis abzulegen

Dass sie auch gehört wurde, ist einer anderen mutigen Jesidin zu verdanken. Zu diesem Zeitpunkt war die deutsch-jesidische Journalistin Düzen Tekkal (EMMA 1/18) im Flüchtlingslager unterwegs, um die Massaker an den Jesiden und Jesidinnen an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch in der jesidischen Community ist eine vergewaltigte Frau eine Schande für ihre Familie. Dennoch war Nadia Murad „die erste IS-Überlebende, die den Mut hatte, ihr Schweigen über die Gräuel­taten zu brechen“, erinnert sich Tekkal. Eine „zarte, zerbrechliche Person“ sei sie gewesen. „Aber ich habe diese Stärke in ihren Augen gesehen.“

Seither spricht Nadia Murad über sexuelle Gewalt gegen Frauen als Kriegswaffe. Zunächst in Tekkals Dokumentation „Hawar – Meine Reise in den Genozid“. Und schließlich in der ganzen Welt. Am 14. Dezember 2015 sitzt eine blasse Frau vor einem Mikrofon in einem Saal in London und berichtet mit fester Stimme den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates von dem Grauen. „In dem Gebäude waren Tausende jesidische Frauen und Kinder, die als ‚Geschenke‘ ausgetauscht wurden.“ Schließlich bittet sie die Anwesenden: „Ich flehe Sie an“, sagt sie, „all die Verbrechen gegen Frauen und Kinder in Syrien, im Irak, in Somalia oder Nigeria müssen ein Ende finden. Überall auf der Welt – so schnell es geht!“

Nachdem Nadia Murad in das baden-württembergische Flüchtlingsprogramm von Ministerpräsident Kretschmann aufgenommen wird, lebt sie zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft in Heilbronn. Von hier aus kämpft sie weiter unermüdlich gegen das Schweigen. Sie spricht mit Kanz­lerin Merkel und redet auf dem Parteitag der Grünen. Sie hält eine bewegende Rede vor der UN-Vollversammlung in New York. Sie wird zur ersten UN-Botschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel.

Sie will über
den erlittenen Missbrauch nicht schweigen

Aber die Jesidin will mehr: Sie will, dass die Täter, die ihr und Tausenden jesidischen Mädchen und Frauen diese entsetzliche Gewalt angetan haben, vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Dafür findet sie eine starke Mitstreiterin: die Menschenrechts-Anwältin Amal Clooney.

„Nadia Murad hat ungewöhnlichen Mut gezeigt“, erklärte Berit Reiss-Andersen vom Nobelpreis-­Komitee. „Sie weigerte sich, die soziale Regel zu akzeptieren, dass Frauen über den erlittenen Missbrauch schweigen und sich dafür schämen sollten.“

Nadia Murad lebt heute halb bei Stuttgart und halb in Washington. Denn dort ist ihr Lebens­gefährte, der Übersetzer Abid Shamdeen. Eigentlich wollten die beiden in diesem Herbst heiraten. Doch es kam etwas dazwischen: der Anruf aus Oslo. Die Hochzeit soll baldmöglichst nachgeholt werden.

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