Alice Schwarzer schreibt

Tage in Burma

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In den vergangenen zwölf Jahren war ich viermal wochenlang in dem Land, das einst Burma hieß und sich heute Myanmar nennt – weil in seinen Grenzen nicht nur Burmesen leben, sondern viele Ethnien. Das nächste Mal wollten wir eigentlich in das Delta des Irrawaddy fahren, das nur via Boot bereist werden kann, von Sümpfen durchzogen und touristisch kaum erschlossen ist. Doch das wird wohl auf absehbare Zeit nicht möglich sein, denn das Flussdelta ist von dem Taifun zerstört.

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Ein Freund, ein besonders kritischer und politischer Mensch, der meine Liebe zu Burma kennt, sagte kürzlich zu mir: "Na, jetzt fährst du sicherlich nicht mehr nach Burma!" Wie bitte? Warum sollte ich nicht! Ganz im Gegenteil: Ich denke, dass dieses so versunkenschöne Land mit seinen so liebenswerten Menschen mehr denn je Freunde braucht in aller Welt. Wahre Freunde.

Freunde wie den Münchner Arzt Heinz Schoeneich, dem ich vielfach in Burma begegnet bin, weil er dort seit zehn Jahren mit seinem Team von Interplast arbeitet, ehrenamtlich  - und unbehelligt vom Militärregime. Seither hat Schoeneich rund 6.000 Menschen behandelt und 2.600 operiert; meist Kinder mit genetischen Missbildungen wie Hasenscharten oder Menschen nach Unfällen und mit Turmoerkrankungen. Auch am Tag der Katastrophe war der deutsche Arzt in Rangun und wurde gewarnt, privat wie offiziell, wie alle in der Hauptstadt. Schoeneich blieb also im Hotel – und ihm passierte nichts, wie den meisten Menschen in den festen Häusern der Hauptstadt.

Ganz anders die Lage der zwei Millionen Menschen im Flussdelta in den traditionellen Fischerhütten und Bambushäuschen der Reisbauern. Rund 90 Prozent leben weit verstreut, ohne Straßen, ohne Telefon, ohne Radio und Fernsehen. Wie hätten sie gewarnt werden sollen vor dem Taifun? Wohin hätten sie fliehen können? Wir alle erinnern uns doch auch an die Bilder vom Tsunami oder die von New Orleans. Selbst mitten im reichen, bestens vernetzten, hochtechnisierten Amerika griff eine wirklich effektive humanitäre Hilfe erst Tage nach der Katastrophe.

Ein grausamer Zufall wollte, dass zwei fast zeitgleiche Naturkatastrophen passierten: im kleinen rückständigen Burma und im daneben liegenden mächtigen China. Beide Länder haben zehntausende, wenn nicht hunderttausend Tote zu beklagen. Beide Länder ließen zunächst ausschließlich asiatische Nachbarn ins Land und lehnten in den ersten chaotischen Tagen und Wochen westliche Hilfsangebote ab. Doch wie unterschiedlich die Berichterstattung.

„Selbst die Generäle beantworten Fragen“, titelte die FAZ über das auch medial professionell agierende China und wusste zu vermelden, der Ministerpräsident habe geweint. Zu Myanmar hieß es in derselben Ausgabe vorwurfsvoll: „Hunderttausende Burmesen weiter ohne Hilfe“ – schuld daran sei die „in ihrem Zynismus kaum zu übertreffende Militärclique“. Und der Berliner Tagesspiegel stellt in einem eigentlich sogar gut gemeinten Kommentar vom 25. Mai – der zu „Fingerspitzengefühl“ im Umgang mit den burmesischen Generälen riet – die ungeheuerliche Unterstellung auf: „Das Regime in Birma begeht gerade Massenmord. Das steht wohl außer Frage. Denn es kann auch drei Wochen nach dem verheerenden Wirbelsturm keineswegs die Überlebenden im Irrawaddy-Delta versorgen.“ Dabei weiß jeder, der die Lage in dem Sumpfdelta kennt, dass kein Regime auf der Welt das könnte. Und schon gar nicht unter den vom angeblich so einfühlsamen Ausland verschärften Bedingungen.

Denn Präsident Bush ließ prompt nach der Katastrophe wissen, Amerika verlängere die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Burma um ein weiteres Jahr – worunter seit Jahren vor allem die Bevölkerung schwer leidet. Da fragt sich nicht nur die gern gescholtene „Militärclique“, da fragt sich auch der deutsche Arzt Schoeneich: Was eigentlich wollen die beiden amerikanischen Kriegsschiffe, die vor dem verwüsteten Irrawaddy-Delta im Pazifik liegen? Der verzweifelten Bevölkerung helfen?

Myanmar, dieses Land zwischen Indien und China, im Norden Thailands, hat viele Probleme. Es ist über Jahrhunderte Opfer kolonialer Übergriffe, Unterwerfung und Ausbeutung gewesen. Zuletzt waren es die Engländer, die das an Rohstoffen so reiche Land geplündert haben: die Tropenwälder kahl geschlagen, die Edelsteinminen geplündert und die Menschen schlimmer behandelt als die Tiere. Man lese nur George Orwells Roman „Tage in Burma“ (erschienen 1934). Orwell, der später mit „1984“ weltberühmt wurde, war einst britischer Polizeioffizier in Sitwe, also ein Agent der Kolonialmacht – was ihm jedoch die Mitleidensfähigkeit nicht rauben konnte.

Nicht zuletzt inspiriert von Gandhis Indien schaffte das Irrawaddy-Land es in einem blutig beantworteten Aufstand, der das Land weitgehend verwüstete, den Kolonialherren aus dem Land zu jagen. Burma wurde 1948 ein autonomer Staat, also vor 60 Jahren.

Als ich begann, das Land zu bereisen, trafen mich, die Europäerin, so manchesmal noch diese dunklen, verletzten Blicke; meist sind es Blicke alter Frauen, die all das haben erdulden müssen, was Orwell so eindringlich erzählt. Sie werden weniger. Doch bis heute haben die Engländer in Myanmar Grunstücke und Häuser, die sie in einem für den Westen offenen Land flugs wieder einnehmen würden. Der Ex-Kolonialherr liegt schon lange auf der Lauer. Und es gibt wenige Stimmen auf dieser Welt, die ich in Sachen „Birma“ (so der englische Name) für befangener halte als den britischen Premierminister Brown und seine „Burma Campaign“, die einen totalen ökonomischen Boykott und die Intervention des Westens in Burma fordern.

Ich habe das Land in all den Jahren kreuz und quer bereist. Ich war in den mittelalterlichen Märkten der Hauptstadt ebenso wie in ihren Townships und habe mit Einheimischen vor dem ersten Fernseher im Dorf gehockt und auf der Swedagon Pagode die Sonne untergehen lassen. Ich habe in Mandalay die Rummenigge-Poster in den Klosterzellen bewundert und die Kraft der Wasserbüffel am Flussufer bestaunt. Ich bin von Bahmo aus tagelang auf einem Dampfer den Irrawaddy runtergeschippert, zusammen mit einheimischen Familien, Mönchen, Militärs und Hühnern, plus zwei alten amerikanischen Globetrottern – vorbei an Flussnomaden und geradewegs zu auf alle Sandbänke. Denn diese Dampfer können sich kein Echolot leisten.

Ich habe auf dem Inle-See in von Ex-Aufständischen geführten Pfahlbau-Hotels gewohnt, mich in Urzeitbarken von einbeinig rudernden Fischern übersetzen lassen und den verbotenen Süden des Sees mit seinen archaischen Märkten und verfallenen Pagoden besucht. Ich war im rauen Norden, in Rakhine, wo die Menschen nicht so goldhäutig und heiter sind wie im Süden, sondern dunkel und misstrauisch; und wo die Frauen in biblischen Palmendörfern die Hirse in Steinmörsern stampfen und nachts die Koyoten heulen. Ich war natürlich auch im mythischen Pagan und in Orwells Sitwee mit seinen Palmenwäldern am Strand von Ngnapali und seinen Korallenriffen wie aus dem Kitschprospekt.

Immer war es eine Reise in eine andere Zeit, spürbar und zunehmend bedroht von unserer Gegenwart. Doch ich habe nie Hunger oder wirkliches Elend gesehen – wenn auch Armut und einen ganz anderen Lebensstandard, als wir es gewöhnt sind. Erst in den letzten Jahren tauchten erste bettelnde Kinder auf – angefixt von den Kyats und Kugelschreibern der Touristen. Und nicht einmal habe ich Angst oder Einschüchterung gespürt, so, wie ich es aus früheren Diktaturen wie Francos Spanien, Salazars Portugal oder dem Griechenland der Junta kenne.

Und immer habe ich versucht, morgens das „Light of Myanmar“ zu ergattern, die staatliche Tageszeitung. Weniger, um mich zu informieren und mehr, um mich zu amüsieren. Denn das offizielle Organ der postmaoistischen Militärregierung zeigt am liebsten den Secretary One oder Secretary Two oder Secretary Three auf der Titelseite beim Gutestun, manchmal auch stellvertretend die Gattinnen. Und auf der letzten Seite stehen die immerselben zehn sozialistischen Weisheiten, ganz im Stil der einst von vielen 68ern so geliebten Maobibel.

Und ich habe mit vielen, vielen Menschen gesprochen: mit den jungen Mädchen, die in den boomenden Touristenhotels bedienen; mit Händlern, Bauern, Taxifahrern; und auch mit Intellektuellen in Rangun oder in Mandalay, mit den Oppositionellen.

Kein Vertun, wäre ich Burmesin, ich würde zur Opposition gehören und hoffen, dass diese alten Knochen sobald als möglich verschwinden! Dass das Land endlich aus seiner Erstarrung erwachen darf. Aber ebenso sicher wäre ich, ganz wie alle, mit denen ich gesprochen habe, strikt gegen jegliche westliche Intervention! Auch ich wäre für die Bestärkung der innerburmesischen fortschrittlichen Kräfte, für Erneuerung.

Versteht sich, dass das kleine Myanmar schon längst vom mächtigen Westen im Namen von „Menschenrechten“ und Demokratie „befreit“ worden wäre – ganz wie Afghanistan oder Irak – würde das mächtige China nicht die Faust darüber halten (und so by the way die eigenen Interessen sichern). Außerdem gehört Burma zum Einflussbereich der acht Tiger- und Pantherstaaten, die aus der westlichen Interventionspolitik gelernt und sich zu einer asiatischen Gegenmacht zusammengeschlossen haben. In diesem Kreis ist Burma zweifellos der rückständigste Staat.

Nach allem, was ich in all den Jahren in Burma gesehen, gehört und gelernt habe, hat es mich nicht überrascht, in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Mai 2008 zu lesen, dass die private amerikanische Organisation NED, der allein im Jahr 2006 vom US-Kongress 23 Millionen Dollar zugeschustert wurden, ihr Handbuch „From Dictatorship to Democracy“ nicht nur auf Weißrussisch (Ukraine) und Tibetisch (!) verlegt, sondern auch auf – Burmesisch. NED war 1983 van Reagan initiiert worden und der erste Chef der Organisation, der uns als Hardliner bestens bekannte Allen Weinstein, erklärte jüngst unumwunden: „Vieles von dem, was wir (vom NED) heute tun, erledigte vor 25 Jahren noch insgeheim die CIA.“

Es kann in diesen postkolonialistischen Zeiten keinem Menschen, der nicht weggucken will, entgehen, dass einst ehrenwerte Begriffe wie „Menschenrecht“ oder „Demokratie“ leider längst ihre Unschuld verloren haben. Denn in ihrem Namen betreiben die angeblichen Retter immer öfter nichts anderes als Interventions- und Interessenpolitik. Wenn also Myanmar nach der Naturkatastrophe jetzt nicht auch noch Opfer einer politischen Katastrophe werden soll, misstrauen nicht nur die Generäle zu recht „der Großmut und dem Pflichtgefühl der internationalen Gemeinschaft“, wie sie ironisch erklärten. Sie müssen, da haben sie gar keine Wahl, auf ihre asiatischen Nachbarn bauen (auch wenn die wiederum ihre eigenen Begehrlichkeiten haben).

Ich jedenfalls freue mich auf meine nächste Burmareise. Und ich wünsche dem Land nichts sehnlicher als Fortschritt aus eigener Kraft - und die Unterstützung durch Freunde, echte Freunde.

Alice Schwarzer, Mai 2008 - Dieses Editorial von Alice Schwarzer erschien in der der Juli/August-Ausgabe 2008 der EMMA. Sie hat es in diesem Fall, wie so manches Mal, vorher an ein anderes Medium zum Vorabdruck gegeben, um den Wirkungskreis für den Text zu erweitern. Der Burma-Text erschien am 31. Mai in der FAZ – und löste eine Lawine von Reaktionen aus. Die meisten waren zunächst kritisch, um nicht zu sagen hämisch. Doch langsam setzen sich auch die differenzierten Stimmen von ExpertInnen und Korrespondenten durch. Ausgewählte Reaktionen Lesen

LeserInnen-Brief von Alice Schwarzer an die FAZ
vom 11. Juni 2008

In der Ausgabe vom 7.6.2008 stellt der Asien-Korrespondent der FAZ fest, wie fatal Interventionen à la Kouchner für Burma wären, und wie sehr unter dem Wirtschaftsboykott die Bevölkerung leidet. Buchsteiner kommt zu dem Schluss, dass eine „politische Erneuerung von innen kommen“ müsse und die „Reformkräfte in Burma Unterstützung verdienen.“ Schreibt der Korrespondent das zum ersten Mal? Wie auch immer, es ist auf jeden Fall das politische Credo meines Textes, nichts anderes hatte ich geschrieben.

Umso erstaunlicher finde ich, dass Buchsteiner es gleichzeitig für angemessen hält, mir „kitschige Verklärung“, „altlinke Sozialromantik“ und „postkoloniale Betroffenheit“ zu unterstellen (merke: Postkolonial ist unstreitbar, Betroffenheit aber wohl immer falsch). Schon gar nicht kann ich nachvollziehen, warum es „unglücklich“ sein soll, dass ich mich auf „Urlaubsreisen“ berufe. Ich bin in der Tat keine Asienkorrespondentin, sonst hätte ich nicht erst jetzt in diesem Tenor berichtet. Ich bin jedoch seit 40 Jahren politische Journalistin und habe eine Lektion nie vergessen: Die Basis jeden objektivierbaren, weil nachvollziehbaren, Journalismus ist das Transparentmachen der eigenen Haltung und das Benennen der Fakten und Erfahrungen, aus denen man seine Schlüsse zieht.

Wie polemisch oder selbstgerecht die Debatte über Burma nun auch weitergehen mag: Es freut mich, sie angestoßen zu haben!

Alice Schwarzer, Juni 2008

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