Abtreibung: Kristina Hänel erringt Teilsieg!
„Mit seinen Holocaust-Vergleichen diffamiert Herr Annen nicht nur uns medizinische Fachkräfte, sondern auch jede ungewollt Schwangere. Sie bekommt vermittelt, dass das, was sie tut, schlimmer sei als die Verbrechen der Nationalsozialisten“, sagt Kristina Hänel. Das findet die Gießener Ärztin, die in ihrer Hausarzt-Praxis auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, „fürchterlich und verletzend“. Auch für die Überlebenden und Toten des Holocaust und deren Angehörige sei das „unzumutbar“.
Das sieht auch das Hamburger Landgericht so. Die Klägerin müsse es "nicht hinnehmen, mit Wachmannschaften und Ärzten in den Konzentrationslagern der Nazis verglichen und mit dem Ausdruck ‚entartet’ belegt zu werden", erklärte Richterin Simone Käfer. Sie verurteilte Klaus Günter Annen zu einer Entschädigungszahlung von 6.000 Euro und Unterlassung.
Abtreibungen sind für Annen die Steigerung der Verbrechen des Holocaust
Der 69-jährige Industriekaufmann aus Weinheim betreibt seit vielen Jahren die Website "Babycaust". Auf deren Startseite sind zwei Fotos zu sehen: Das Foto links zeigt den Eingang des KZ Dachau mit der berühmten Inschrift „Arbeit macht frei“. Das Foto rechts zeigt eine Frau auf dem OP-Tisch, an der offenbar eine Abtreibung vorgenommen wird. Darüber steht in blutroter Schrift: „Der Holocaust der Nazis ist der Inbegriff des Grauens im Dritten Reich. Gibt es eine Steigerungsform der grausamen Verbrechen? Ja, es gibt sie!“ Und weiter: „Seit vielen Jahrzehnten erleben wir in Deutschland den Massenmord an unseren ungeborenen Kindern. Früher KZs, heute OPs." Dazu stellt er Bilder zerstückelter Embryonen.
Unter dem Link „Abtreiber“ listet der fanatische Abtreibungsgegner 1.200 ÄrztInnen auf, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Auf dieser Liste steht auch Kristina Hänel. Noch bis vor kurzem wurde die Gießener Ärztin hier als „Kindermörderin“ und „entartet“ beschimpft und mit einer KZ-Aufseherin verglichen. Schon bevor das Landgericht Hamburg heute sein Urteil verkündete, hat Annen diese Passagen von seiner Homepage genommen. Denn bereits bei der Verhandlung am 21. August hatte Richterin Käfer angekündigt, der Klage von Kristina Hänel weitgehend stattgeben zu wollen.
Seit rund 20 Jahren ist Klaus Günter Annen auf Kreuzzug gegen die Abtreibung, der offenkundige christliche Fundamentalist belagerte mit seiner Initiative „Nie Wieder!“ die Praxen von ÄrztInnen, die Abtreibungen durchführen. Außerdem zeigt er reihenweise ÄrztInnen wegen des Verstoßes gegen den §219a an.
Sogenannte "Lebensschützer" schicken Kristina Hänel Morddrohungen
Auch Kristina Hänel war nach der Anzeige eines "Lebensschützers" am 24. November 2017 vom Gießener Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt worden. Ihr „Vergehen“: Sie hatte auf ihrer Website angegeben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Per E-mail konnte man sachliche Informationen über den Ablauf eines Abbruchs, seine gesetzlichen Voraussetzungen und seine Risiken anfordern. Das verstößt gegen den §219a, der nicht nur die „Werbung“ für Abtreibungen verbietet, sondern schon die reine Information.
Hänel machte gegen das Urteil mobil und sammelte mit einer Petition 150.000 Unterschriften für eine Reform des entmündigenden Gesetzes. Doch die Parteien konnten sich nur auf einen faulen Kompromiss einigen. Zwar dürfen ÄrztInnen jetzt darüber informieren, dass sie Abtreibungen durchführen. Alle weiteren Informationen zu Methoden etc. sind allerdings nach wie vor verboten. Auch nach dem reformierten §219 wurden Ärztinnen erneut verurteilt. Ärztin Hänel ist darüber empört: „Das Verbot sachlicher Informationen durch Fachleute ist ein Anachronismus und gehört auf keinen Fall in ein deutsches Strafrecht!“ Deshalb kämpft sie auch hier weiter: Sie will bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.
Macht Klaus Günter Annen auch nach dem Urteil einfach weiter wie bisher?
Vor dem Hamburger Landgericht hat Hänel jetzt erst einmal gewonnen. Klaus Günter Annen wurde zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 6.000 Euro und Unterlassung verurteilt. Allerdings: Noch immer darf Annen über die Ärztin behaupten, es "klebe Blut an ihren Händen". Das sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Noch immer steht die Ärztin, wie rund 1.200 weitere Medizinerinnen, auf der „Abtreiber“-Liste auf Annens Website „Babycaust“. Noch immer wird sie von fanatischen „Lebensschützern“ bedroht, die diese Liste als Fundgrube für ihre Attacken auf ÄrztInnen benutzen. Auch vor Hänels Gießener Praxis demonstrieren die „Lebensschützer“ und schicken der zweifachen Mutter und fünffachen Großmutter Morddrohungen. Die sind ernstzunehmen. In den USA haben fanatische "Lebensschützer" schon acht Ärzte und Krankenschwestern erschossen, die in Abtreibungskliniken arbeiteten (EMMA-Artikel: "Tödliche Lebensschützer"). Seit dem Mord an Politiker Walter Lübcke durch einen Rechtsradikalen überlegt auch Kristina Hänel, wenn sie aus dem Haus geht, "welcher Weg der sicherste ist".
Und: Es steht zu befürchten, dass Klaus Günter Annen einfach weitermacht. Er wurde nämlich keineswegs zum ersten Mal verurteilt. Schon mehrere deutsche Gerichte hatten dem Fanatiker den Holocaust-Vergleich untersagt, zuletzt hatte sogar der Europäische Gerichtshof die Urteile bestätigt. Doch der Kreuzzügler hat sich bisher weder von Geld- noch Haftstrafen abhalten lassen. Denn die Unterlassung gilt immer nur für den Holocaust-Vergleich im Hinblick auf die konkrete Person. Annen strich die beanstandeten Passagen, die die klagenden ÄrztInnen betrafen, doch seine Website blieb bestehen. Dort vergleicht er die deutschen Gesetzgeber nach wie vor mit den „Blutrichtern“ des Dritten Reiches und Abtreibung mit dem Holocaust.
Währenddessen kämpft Kristina Hänel darum, dass sie ihr Infoblatt über Methoden, Ablauf und Risiken eines Schwangerschaftsabbruchs in ihrer Praxis nicht von ihrer Website löschen muss. Wie kann das sein?