„Stoppt die Tierversuche!“

Foto: Walter Schels
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Frau Gericke, Sie setzen sich seit 40 Jahren für die Abschaffung von Tierversuchen ein. Warum?
Corina Gericke: Weil sie schlimmste Qualen für Tiere bedeuten und nachweislich nichts taugen. Der Erkenntnisgewinn für den Menschen läuft gegen Null. Die medizinische Forschung ist durch die Fokussierung auf Tierversuche in eine Sackgasse geraten. Aber: Alle elf Sekunden stirbt in Deutschland ein Tier im Labor. Dazu kommt eine Dunkelziffer von ‚Überschusstieren‘, die bei Nichtgebrauch getötet und weggeworfen werden. Insgesamt gehen wir von fünf Millionen Tieren, die der Wissenschaft geopfert werden, pro Jahr aus. Die größte Gruppe bilden Mäuse, Ratten und Fische. Es sind auch um die 3.000 Hunde, 3.000 Affen und 600 bis 800 Katzen dabei. Tierversuchshochburgen sind München, Berlin, Hannover, Göttingen und Tübingen.

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2013 wurde der Verkauf von Kosmetika, deren Inhaltsstoffe an Tieren getestet wurden, in der EU verboten. Wofür werden denn noch Tierversuche gemacht?
Es gibt drei Hauptbereiche: toxikologische Tests, Grundlagenforschung und Forschung für Medikamente. Toxikologische Untersuchungen, also Giftigkeitstests, machen etwa 17 Prozent der Tierversuche aus und werden etwa für Chemikalien und Pestizide durchgeführt. Studien belegen, dass heutige Softwareprogramme die Toxizität besser einschätzen, als Tierversuche es je könnten. Gerade in diesem Bereich werden zunehmend auch tierversuchsfreie Methoden eingesetzt und die Tierzahlen sind seit Jahren rückläufig. Die Grundlagenforschung, die keinen bestimmten Zweck verfolgt, schlägt mit fast 60 Prozent zu Buche. Angewandte Forschung, also Medikamententests, machen etwa 14 Prozent aus. Dabei werden Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Wirkstoffen geprüft, bevor sie in die klinische Phase gehen und an Menschen getestet werden.

Da werden viele Menschen denken, dass Tierversuche dort durchaus einen Sinn haben.
Ja, weil die Lobby für Tierversuche überall verbreitet, ohne Tierversuche würde es keine neuen Medikamente geben. Dabei fallen bis zu 95 Prozent der Substanzen, die im Tierversuch wirken, in Humanstudien durch. Krankheiten des Menschen werden auf Symptome reduziert und bei Tieren künstlich hervorgerufen. So gibt es 500 Schlaganfall- und 300 Alzheimer-Medikamente, die bei der Maus funktionieren und allesamt beim Menschen versagt haben.

95 Prozent der Tierversuche sind also gar nicht zu gebrauchen. Wie laufen denn solche Tierversuche ab?
Der gängige Versuch bei Medikamenten gegen Schlaganfälle zum Beispiel sieht so aus, dass bei Ratten oder Mäusen eine Hirnarterie mit einem Faden verstopft wird, damit der Bereich dahinter nicht mehr durchblutet wird. Die Maus hat dann tatsächlich einen Schlaganfall. Aber das ist noch nicht das gleiche wie beim Menschen, bei dem ursächliche Faktoren wie Bewegungsmangel, Stress, Übergewicht oder Nikotin eine wesentliche Rolle spielen. Das ist auch bekannt. Trotzdem wird weiter versucht, an diesen künstlich krankgemachten Tieren ein Heilmittel zu entwickeln.

Dr. Corina Gericke von "Ärzte gegen Tierversuche" kämpft für den Ausstieg. Foto: privat
Dr. Corina Gericke von "Ärzte gegen Tierversuche" kämpft für den Ausstieg. Foto: privat

Das läuft in den USA seit Anfang des Jahres anders.
Ja, die USA haben ein Gesetz erlassen, den „FDA Modernization Act 2.0“. Es erlaubt der amerikanischen Arzneibehörde FDA, Wirkstoffe auch ohne vorherige Tierversuche für klinische Studien mit Menschen zuzulassen – sofern sie mit anderen Methoden ausreichend auf Sicherheit und Wirksamkeit geprüft worden sind. Das ist geradezu revolutionär! Jetzt haben Firmen die Wahl. Sie werden sich für die erfolgversprechende Variante entscheiden. Sie stecken schließlich sehr viel Geld in die Entwicklung ihrer Produkte. In Deutschland will die Firma Merck in Darmstadt, einer der größten Pharmakonzerne weltweit, auch weg vom Tierversuch. Der Grund: Sie sehen, dass tierversuchsfreie Verfahren gegenüber Tierversuchen genauere Vorhersagen über die Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten ermöglichen.

Worum geht es bei der Grundlagenforschung?
Sie ist mit fast 60 Prozent der größte Bereich und auch das größte Problem. Hier geht es vermeintlich darum, die Natur zu verstehen. Nehmen wir die Nacktmull-Forschung am Max Delbrück Zentrum in Berlin. Nacktmulle sind Nagetiere, die in unterirdischen Bauten in den Halbwüsten Ostafrikas leben. Sie kommen mit wenig Sauerstoff aus, weil sie in Tunneln leben. An ihnen wird untersucht, wie lange sie ohne Sauerstoff auskommen. Sie werden also erstickt. Nach 18 Minuten ist ein Nacktmull tot. Wenn man die Temperatur erhöht, stirbt er schon nach sechs Minuten. Erkenntnis für den Menschen? Gleich Null. Elektrische Fische werden mit Elektroschocks bearbeitet, um festzustellen, dass sie davon nicht getötet werden. Normale Fische werden dazu gesetzt, die sehr wohl an den Elektroschocks sterben. Mehr als diese Erkenntnis haben wir davon nicht. Warum müssen wir das wissen? Letzten Endes ist es reine Neugierde, die da befriedigt und mit Forschungsfreiheit begründet wird. Oft gibt es nicht mal ein Forschungsziel.

Die Affenhirn-Forschung steht in diesem Zusammenhang oft in der Kritik. Was genau passiert da?
Affen sind unsere nächsten Verwandten und dennoch werden unfassbar grausame Experimente an ihnen gemacht. In der Hirnforschung werden Affen Löcher in den Schädel gebohrt, in die später Elektroden eingelassen werden. Ihnen wird ein Bolzen auf den Kopf montiert und sie werden in einen ‚Primatenstuhl‘ gezwängt, mit angeschraubtem Kopf, damit sie ihn nicht bewegen können. Sie bekommen kaum zu trinken, damit sie Durst haben und gefügig sind. Sie sollen Hebel drücken, wenn ein Punkt auf einem Bildschirm erscheint, und dann werden die Hirnströme gemessen. Dies wird in Deutschland an acht Instituten gemacht, unter anderem am Primatenzentrum in Göttingen.

Wozu?
Um sich gegenseitig zu beweihräuchern und Publikationen zu veröffentlichen. Für den Menschen kommt rein gar nichts dabei heraus. Und das ist so eine schlimme Qual, die dort passiert. Im letzten Jahr ist uns ein Pathologie-Bericht zugespielt worden, von einem Affen, der in der Hirnforschung jahrelang gelitten hat. Er hatte entsetzliche Verletzungen. Stichverletzungen im Gehirn, der Kaumuskel war  durchtrennt, er hatte nicht heilende Wunden und über 20 Bohrlöcher im Kopf, die zu einem schweren, tödlich endenden Schädel Hirntrauma führten.

Eine EU-Richtlinie besagt, dass es aus ethischen Gründen eine Schmerz-Leidens-Obergrenze geben soll. Wenn also ein Tierversuch zu qualvoll für ein Tier ist, sollte er verboten sein. Müsste diese Richtlinie nicht in solchen Fällen greifen?
Die EU hat leider von diesem grundsätzlichen Verbot Ausnahmen ermöglicht und Deutschland hat diese Ausnahmen zugelassen. Also sind hierzulande auch schwerste Tierversuche möglich. Es fängt bei Krebsversuchen an, bei denen Tiere an Krebs elendig zugrunde gehen. Affen werden Herzen von Schweinen eingesetzt, sie sterben qualvoll an Abstoßungsreaktionen. Oder nehmen wir den „forcierten Schwimmtest“. Bei dem wird eine Maus oder Ratte in ein Wasserglas gegeben, in dem sie nicht stehen kann. Sie schwimmt und hat Todesangst. Irgendwann gibt sie auf und schwimmt nicht mehr. Dieser Zustand soll eine Depression simulieren. Dann wird der Ratte ein Mittel gegeben, das gegen Depressionen helfen soll und man schmeißt sie wieder ins Wasser. Schwimmt sie damit länger heißt es: Das Mittel hat gewirkt. Das ist ein Standardtest für Antidepressiva.

Welche Alternativen zum Tierversuch gibt es denn heute?
Es gibt inzwischen eine ungeheure Vielfalt. So lassen sich Haarwurzelzellen zu Stammzellen zurückprogrammieren und aus diesen können Mini-Organe, sogenannte Organoide, generiert werden. Das sind winzige Abbilder menschlicher Organe wie Niere, Herz, Lunge oder Darm, die die gleichen Eigenschaften haben wie die echten Organe. Damit lassen sich weit bessere Ergebnisse erzielen als mit künstlich krankgemachten Mäusen. Generell liefern menschliche Zellen validere Ergebnisse, weil mit ihnen der menschliche Organismus nachgebildet werden kann. Sogenannte Organ- und Multi-Organ-Chips sind die Zukunft. Medikamente können in diesen Chips wie in einem Mini Menschen getestet werden – ohne, dass irgendjemand zu Schaden kommt. Gegenüber diesen modernen Hightech-Methoden muten Tierversuche wie Steinzeit an. Die tierversuchsfreie Forschung boomt regelrecht, und das, obwohl sie nur marginal gefördert wird.

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Wie sieht eigentlich die Verteilung der Fördergelder in Deutschland aus?
Über 99 Prozent der Gelder aus dem Forschungsbereich fließen noch immer in die Tierversuche, während weniger als ein Prozent in tierversuchsfreie Methoden gesteckt werden. Wir fordern eine Umverteilung der Gelder! Wenn all diese Gelder vernünftig eingesetzt würden, hätten wir vielleicht längst die Heilung von Alzheimer und Multipler Sklerose.

Und wer ist die Lobby?
Es sind quasi alle, die Tierversuche machen und von Fördergeldern leben. Letzten Endes ist es der Versuch einer aussterbenden Zunft, sich weiter finanzieren zu können. Wer von Tierversuchen lebt, der will keine Multi-Organ-Chip-Forschung. Um den Tierversuch in der Öffentlichkeit zu verteidigen, wurde mit dem Deutschen Primatenzentrum als Triebkraft eine Plattform gegründet, der sich viele der großen Forschungsinstitutionen Deutschlands angeschlossen haben. Sie haben eine starke Macht, mit der sie die Politik und die Öffentlichkeit massiv beeinflussen können. Leider mit einem gewissen Erfolg. Das Thema Tierversuche steht auf der politischen Agenda ganz weit unten.

Von den Grünen ist da auch nichts zu hören?
Noch im Wahlkampf haben die Grünen erklärt, sich für einen Ausstieg aus dem Tierversuch einsetzen zu wollen. Im Koalitionsvertrag hatte die Ampel sogar angekündigt, eine Reduktionsstrategie zu Tierversuchen zu erarbeiten. Passiert ist bislang nichts. Von einem Ausstieg ist keine Rede mehr. Im Entwurf für ein überarbeitetes Tierschutzgesetz wird der Bereich Tierversuche komplett ausgeklammert. Nicht einmal unsere Minimalforderung, nämlich die korrekte Umsetzung der EU-Tierversuchs-Richtlinie, erfolgt. Wir hatten sehr auf den neuen grünen Landwirtschaftsminister gehofft. Die Enttäuschung könnte größer nicht sein.

Sie haben nun einen Leitfaden für politische Maßnahmen vorgelegt.
Ja, zusammen mit einem Bündnis aus weiteren 15 Tierrechtsorganisationen. Es ist ein Maßnahmenplan für eine tierversuchsfreie Forschung mit konkreten Vorschlägen, wie der Ausstieg aus dem Tierversuch gelingen kann. Wir haben ihn an 800 politische EntscheiderInnen übermittelt.

Was können Menschen tun, die Ihre Ziele unterstützen wollen?
Wem es ein Anliegen ist, der kann unseren Verein unterstützen, dazu beitragen, dass unsere Stimme lauter wird. Spenden, Mitgliedschaft, Aktivismus. Wir haben 18 Arbeitsgruppen in verschiedenen Städten, starten Kampagnen, bei denen man helfen und unterschreiben kann. Ich bin sicher, dass eines Tages die Menschheit mit Abscheu und Unverständnis auf unsere Zeit blicken wird, in der Tiere als Messinstrumente in grausamen und unsinnigen Experimenten missbraucht wurden. Wir alle können dazu beitragen, dass diese Zeit möglichst bald kommt. Das Gespräch führte Annika Ross

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