„Wahl zwischen Pest und Cholera“
Zurzeit findet in der Türkei ein Machtkampf unter muslimischen Männern statt. Erdogans Allmacht gegen die konspirative Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die den Justiz- und Polizeiapparat unterwandert haben soll. Erdogan reagiert mit einem „Putsch von oben“, in dem er die Korruptionsermittlungen verhindert und die Ermittler einfach entlässt. Dass die Korruptionsvorwürfe sich auf Erdogans und die Söhne von Ministern beziehen, zeigt, was die viel beschworene „Familienpolitik“ auf der Ebene bedeuten kann.
Die beiden jetzt verfeindeten Männerbünde haben gemeinsame Ziele. Sie stehen für eine neo-osmanische Türkei und, im Namen der Familie und des Islam, gegen die Selbstbestimmung von Frauen. Sie wollen beide das islamische Patriarchat. Sie entrechten beide die Frauen und bekämpfen die Frauenrechtlerinnen, wie die Feministinnen in Van oder Mersin.
Schikanen gegen autonome Frauenzentren
Die Polizei von Van im Osten der Türkei kam zwischen drei und vier im Morgengrauen. Sie holten zwölf Frauen aus ihren Betten und verhafteten sie. Die Frauen waren Aktivistinnen vom Frauenzentrum Vakasum. Gleichzeitig wurde in ihre Vereinsbüros eingebrochen und Computer und Unterlagen beschlagnahmt. Am selben Tag wurden weitere Organisationen und Frauenvereine in der Stadt durchsucht und geschlossen. Die Anklage lautete: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Verstoß gegen das Familiengesetz. Das war am 4. Mai 2012.
Eine ähnliche Operation fand am 25. September 2012 im tausend Kilometer weiter süd-westlich gelegenen Mersin nahe der syrischen Grenze statt. Dort wurden 42 Personen festgenommen und fünf Frauen der Organisation „Istar“ über sechs Monate in Untersuchungshaft festgehalten, bis die Unsinnigkeit der Anschuldigungen zu offensichtlich wurden. Das Zentrum soll im März 2014 wieder eröffnet werden.
Der Vorwurf, mit terroristischen Organisationen zusammenzuarbeiten, kann jeden autonomen Verein treffen, auch Gewerkschaften oder Kulturzentren. Besonders dann, wenn kurdischstämmige Mitglieder darin vermutet werden. Der Vorwurf, gegen das 2008 verabschiedete „Gesetz zum Schutz der Familie“ verstoßen zu haben, ist allerdings neu.
Frauenorganisationen wie „Vakat“, „Istar“ oder auch „Kamer“ oder die „Fliegenden Besen“ machen seit Jahren auf die verheerende Situation von Frauen und Kindern vor allem in den noch von Clan und Großfamilien bestimmten Gebieten Ostanatoliens aufmerksam. Vier von zehn Frauen geben in Untersuchungen an, Gewalt in der Familie ausgesetzt zu sein. Die „Selbstmordrate“ vor allem bei jüngeren Frauen ist, seit Ehrenmord als „normale“ Straftat geahndet wird, erschreckend gestiegen und trotzdem beklagen die Frauenorganisationen etwa tausend so genannte „Ehrenmorde“ im Jahr.
Die Verbesserung der Lage der Frauen ist ein Kriterium für einen möglichen EU-Beitritt und Teil des so genannten „Fortschrittsberichts“. Aus diesem Grund werden Bildungs- und Hilfsprojekte unabhängiger Frauenorganisationen von der Europäischen Union auch finanziell unterstützt.
Das Gesetz stellt Staat & Familie vor das Recht des Einzelnen.
Die AKP-Regierung reagierte auf diesen Druck mit dem „Gesetz zum Schutz der Familie“ (2008). Doch mit Familie sind nicht nur die Kleinfamilien aus Mann, Frau und Kindern gemeint, sondern „alle, die unter einem Dach leben“: Großeltern, Brüder, Schwestern, Onkel und Tanten, Nichten und Neffen. Der Clan soll also geschützt werden. Das entspricht der türkischen Verfassung, die die „Einheit“ von Familie und Staat vor das Recht des oder der Einzelnen stellt.
Neu an dem Gesetz ist, dass Gewalt innerhalb der Familie eingeräumt wird, die geächtet werden muss. Beim genaueren Hinsehen jedoch stellt man fest, dass nichts darüber gesagt wird, wie und welche Straftaten innerhalb der Familie verfolgt werden sollen.
Auch in der Türkei werden Frauen vor allem in Großstädten immer selbstbewusster und eigenständiger. Faktisch werden heute in der Türkei mehr Ehen geschieden als je zuvor. Zwar gibt es immer noch den „Zwang zur Ehe“, aber viele Frauen und Männer entledigen sich dieser „Pflicht“ gegenüber ihren Eltern, indem sie heiraten, um sich dann schnell wieder scheiden zu lassen. Die meisten Scheidungen finden in den ersten drei Jahren nach der Eheschließung statt. Das entspricht nicht dem islamischen Weltbild. Das AKP-geführte Familienministerium hat deshalb scheidungswillige Ehe - leute per Gesetz zu einer staatlichen Zwangsberatung von viermal 90 Minuten durch einen „Familienberater“ verpflichtet.
Das Familiengesetz hat auch konkrete Auswirkungen auf die Arbeit der unabhängigen oft feministischen Frauenvereine. Besime Yag aus dem Frauenzentrum „Istar“ in Mersin berichtet: „Wenn eine Frau bei uns Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Mann sucht, möchte sie oft keinen Kontakt und anonym untergebracht werden. Wir erstatten dann gegen den Ehemann Anzeige bei der Polizei. Die Beamten aber informieren den Ehemann, denn der hat laut Familiengesetz das Recht, einen Antrag auf Kontakt und Versöhnung zu stellen. Wenn wir nicht zustimmen, machen wir uns strafbar.
Gewalt gegen Frauen - vor den Augen der Polizei
Immer wieder haben wir deshalb Ärger mit der Polizei oder werden selbst angezeigt.“ Besime berichtet von einem Fall, bei dem sie mit einem Mädchen zur Polizei gingen, weil sie den Vater wegen Vergewaltigung anzeigen wollte. Die Polizei beschuldigte die „Istar“-Frauen, das Mädchen beeinflusst zu haben und informierten den Vater. Der kam auf die Wache und verprügelte seine Tochter vor den Augen der Polizei.
„Das Land ist gespalten“, sagt Besime Yag. Auf der einen Seite sei der von der AKP und den Gülen-Anhängern beherrschte Staatsapparat von Polizei, Justiz und Verwaltung, die die Türkei auf einen islamischen Kurs führen; auf der anderen Seite eine Bevölkerung, die dem ausgeliefert und kaum organisiert ist.
Eine Form der Selbstorganisation waren bisher die autonomen Frauenvereine. Deren Einfluss lässt die AKP nicht ruhen. Als Gegenprogramm wurde 2012 von der Frau des Ministerpräsidenten, EmineErdogan, und Familienministerin Fatma Sahin die staatliche Beratungsorganisation „Sönim“ gegründet (Zentrum für Prävention und Schutz gegen Gewalt). Offiziell dienen diese Beratungsstellen der Gewaltprävention und dem Schutz der Frauen.
In der Praxis sieht das so aus: Eine hilfesuchende Frau kommt zur „Sönim“-Beratungsstelle und erhält dort Unterstützung und für maximal 15 Tage Unterkunft in einem Frauenhaus. In der Zeit organisiert „Sönim“, dass ein Imam der Religionsbehörde Diyanet zu der Frau kommt und sie überredet, in die Ehe zurückzugehen. Dann wird der Ehemann dazu gerufen und beide bekommen eine „islamische Anleitung“ zur Rettung ihrer Ehe.
Demokratische Kräfte müssen gestärkt werden!
Inzwischen wurden in 22 Städten solche „Sönim“-Einrichtungen gegründet; auffällig oft dort, wo bereits unabhängige Frauenvereine tätig sind. Anderen Frauenorganisationen, auch den kommunalen Einrichtungenin den Gemeinden, die nicht der AKP zuzurechnen sind, soll so das Wasser und vor allem das Geld abgegraben werden.
Erdogan wie Gülen, die politischen Bewegungen des türkischen Islam, zielen auf eine vollständige Kontrolle über das gesellschaftliche Leben. Nachdem es dem Erdogan-Staat gelungen ist, die Verwaltung, die Polizei und die Justiz im Griff zu haben und die Presse weitgehend zu kontrollieren, will man jetzt auch die zivilgesellschaftlichen Bereiche kontrollieren, die unabhängigen Frauenorganisationen allen voran.
Wie auch immer der Machtkampf zwischen Erdogan und Gülen also ausgehen wird – es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die einzigen wirklich demokratischen Kräfte sind die bedrängten und bedrohten unabhängigen Kräfte. Sie gilt es zu unterstützen!