Türkei: Freiheit für Mesale Tolu!

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Am 30. April 2017 wurde sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet. Seitdem sitzt Mesale Tolu in einem Istanbuler Gefängnis in Untersuchungshaft, zeitweise zusammen mit ihrem dreijährigen Sohn. Am ersten Prozesstag am 11. Oktober warf ihr die Staatsanwaltschaft „Terrorpropaganda“ und „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" vor.

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Die in Ulm geborenen Tochter türkischer Eltern hatte für die linke Nachrichtenagentur ETHA geschrieben und übersetzt. Ihr Mann ist in der prokurdischen und fortschrittlichen Partei HDP engagiert. Folgt das Gericht den Staatsanwälten, drohen der 33-Jährigen bis zu 15 Jahre Haft. Seit Mai protestieren jeden Freitagabend Ulmer BürgerInnen vor dem Münster gegen die Anklage gegen die Ulmerin. Sie ist eineR von 153 JournalistInnen, die in der Türkei wegen regimekritischer Berichterstattung verhaftet wurden.

Es geht um das Recht der freien Meinungsäußerung.

Jetzt hat ihre ehemalige Lehrerin vom Ulmer Anna-Essinger-Gymnasium, Angelika Lanninger, eine Petition gestartet. Sie fordert Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) auf, „weiterhin nachdrücklich die Freilassung für Mesale Tolu und die Einstellung des Verfahrens zu fordern“.

Mesale Tolu, die 2007 die deutsche Staatsbürgerschaft bekam und die türkische abgab, hatte das Gymnasium bis 2006 besucht. „Wir Lehrer schätzten sie als eine nachdenkliche und engagierte Schülerin und sind sehr betroffen über ihre Inhaftierung“, schreibt Angelika Lanninger. Und weiter: „Mesale Tolu hat als Journalistin in Istanbul für eine regierungskritische Organisation gearbeitet. Sie setzt sich für Menschen- und Frauenrechte ein. Alle ihre Aktivitäten geschahen in nicht verbotenen Organisationen oder Veranstaltungen. Nun wird ihr, wie so vielen anderen Journalisten, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe vergeworfen. Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage. Mesale Tolu hat kein Unrecht begangen, Es geht um das Recht der freien Meinungsäußerung, um freien Journalismus.“

Über 100.000 Menschen haben die Petition schon unterzeichnet.

Zur Petition
Sofortige Freilassung von Mesale Tolu

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Aslı Erdoğan - die Verfolgte

Aslı Erdoğan kurz nach ihrer Entlassung mit ihrer Mutter (li). - © Imago/Depo Photos
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Wenige Minuten, nachdem die türkische Schriftstellerin Aslı Erdoğan am 29. Dezember 2016 das Istanbuler Frauengefängnis von Bakirköy verlassen hatte, machte ein AFP-Fotograf ein bewegendes Foto von ihr: Aslı Erdoğan, wie sie sich in die Arme ihrer Mutter schmiegt, lachend und weinend zugleich und schwer gezeichnet von den vergangenen vier­einhalb Monaten in der Haft. Verletzlich hatte die 50-Jährige schon immer gewirkt, doch wer sie traf, hatte stets eine große Kraft gespürt. Auf diesem Foto hingegen war eine Frau zu sehen, die man versucht hatte zu brechen. Aslı Erdoğan war nur noch ein Schatten ihrer selbst.

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Die türkische Regierung behauptet, Aslı Erdoğan, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der Türkei, sei eine Terroristin. Als solche will die türkische Justiz sie auch verurteilen, wenn im März der Prozess gegen sie fortgesetzt wird. Der Vorwurf ist absurd, wer Aslı Erdoğans Bücher gelesen hat, weiß, wie sehr die türkische Schriftstellerin jegliche Art von Gewalt verabscheut.

Die Türkin
wollte sich dem
Gebaren der
Männerwelt
nicht fügen

Die Zeichen standen einst gut, dass die 1967 geborene Aslı Erdoğan eine bemerkenswerte Wissenschaftlerin wird. Nach ihrem Studium der Informatik und Physik an der renommierten Istanbuler Bosporus-Universität forschte sie schon im Alter von 24 Jahren am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf über das Higgs-Partikel. Sie war eine von sehr wenigen Frauen, die damals dort arbeiteten.

Dem Gebaren in dieser Männerwelt wollte sich die Türkin nicht fügen, es war ihr schnell verhasst. Nach der Arbeit im Labor flüchtete sie nachts in ihre Gedankenwelt und begann, an ihrem ersten Roman zu schreiben. Schließlich wandte die Physikerin sich ganz dem Leben als Schriftstellerin zu, später auch der journalistischen Arbeit.

Aslı Erdoğan wird von türkischen Nationalisten wie von religiösen Fanatikern gehasst. Bevor sie in ihrer Heimat zur Persona non Grata erklärt wurde und ihre Verhaftung weltweit ein Entsetzen hervorrief, war die mit vielen Preisen geehrte Autorin dem internationalen Publikum vor allem durch ihre Romane bekannt. Ihr Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt, „Die Stadt mit der roten Pelerine“ oder „Der wundersame Mandarin“ liegen auch auf Deutsch vor.

Immer geht es in ihren Romanen um die Erfahrung der Fremde, um Einsamkeit, Leid und Ungerechtigkeit. In ihren autobiografisch geprägten Büchern begegnet einem eine Frau, deren unabhängiger Geist sie immer wieder an den Rand des Abgrunds bringt. Mit ­ihrem Schreiben wolle sie dort sein, wo die menschlichen Tragödien am dunkelsten sind: „Denn dort herrscht die größte Stille.“

Die Anklage gegen Aslı Erdoğan:
Sie sei eine
"Terroristin".

Doch eine Stimme wie jene von Aslı Erdoğan, die sich keinen Konventionen beugt und keine Tabus akzeptiert, erträgt die türkische Gesellschaft letztendlich nicht.

Nach einem Aufenthalt in Südamerika – wohin Aslı Erdoğan 1994 ging, weil sie sich in der Türkei bedroht fühlte und bei einer Polizeiaktion schwer verletzt worden war – schrieb sie von 1998 bis 2001 als Kolumnistin für die linksliberale Radikal. Damals ­bekam sie das erste Mal Drohanrufe. In ihrer Kolumne hatte sie über drei kurdische Mädchen berichtet, die von Milizionären vergewaltigt worden waren. Das Schicksal des einen Mädchens schilderte sie im literarischen Ton, das des zweiten journalistisch, bei der dritten zitierte sie den Autopsiebericht: Das Mädchen war 15, geistig zurückgeblieben, für die Vergewaltigung benutzten die ­Täter ein Bajonett.

Die Schriftstellerin ließ sich nicht einschüchtern. Sie erhob ihre Stimme für Kurden, Aleviten, Armenier, berichtete über die Bedingungen in türkischen Gefängnissen, von Folter und Gewalt gegen Frauen und setzte sich vehement für deren Rechte ein.

Im Jahr 2011 begann Aslı, Kolumnen für die pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem zu verfassen und wurde Mitglied in deren Beratergremium. Der türkischen Regierung war sie da schon längst zur unbequemen Zeitgenossin geworden. Frauen wie sie, die gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren und hochtalentiert sind, passen nicht in Erdoğans Vorstellungen seiner „neuen Türkei“. Allein deshalb sitzt sie jetzt auf der Anklagebank.

Im August 2016, kurz nach dem Putschversuch in der Türkei, wurde Özgür Gündem per Regierungs­dekret geschlossen. Aslı Erdoğan wurde inhaftiert. Die Regierung wirft ihr vor, eine „Terror­organisation“ gegründet zu haben und Mitglied einer Terrororganisation zu sein.

Es ist ein politischer Prozess. Gut möglich, dass sie verurteilt wird.

Insgesamt 132 Tage saß die Schriftstellerin in einem Frauengefängnis von Istanbul. Obwohl sie aufgrund verschiedener chronischer Krankheiten auf medizinische Betreuung angewiesen ist, konnte sie in dieser ganzen Zeit keinen Arzt konsultieren. Zum Jahreswechsel kam die Malträtierte überraschend auf freien Fuß. Das Gefängnis habe sie nur überlebt, sagte sie danach, weil die kurdischen Frauen, die sie dort viereinhalb Monate als Zellen­genossinnen hatte, ihre Freundinnen wurden und sie stützten.

Vom rechtlichen Standpunkt aus müsste Aslı Erdoğan freigesprochen werden, mehr noch: Der türkische Staat müsste ihr eine Entschädigung zahlen, da sie unschuldig im Gefängnis saß. Aber der Prozess gegen sie ist ein politischer und deshalb ist es gut möglich, dass sie verurteilt wird. Im April soll in der Türkei per Referendum über ein neues Präsidialsystem abgestimmt werden, das alle Macht beim Staatspräsidenten vereinigen würde. Deshalb setzt Staatspräsident Erdoğan alles daran, dass kritische Stimmen wie Aslı Erdoğan in der Türkei ganz verstummen.

Karen Krüger

Aslı Erdoğan: "Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch" (Knaus Verlag, 17.99 €).

 

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